Rückkehr nach Palmerita

02.12.2009   Lesezeit: 8 min

Nicaragua: Der ehemalige medico-Projektkoordinator Walter Schütz besucht das medico-Projekt, das er einst begonnen hat, und zieht eine positive Bilanz.

Nach anderthalb Jahren war ich zum ersten Mal wieder in La Palmerita. Bei meiner Ankunft saßen die Bewohner der Hazienda unter einem riesigen Palmendach im Halbkreis. In den vorderen Reihen die Kinder. Als ich sie sah, erinnerte ich mich daran, wie ich sie vor vier Jahren zum ersten Mal erlebte. Damals hausten sie auf dem feuchten Boden unter Plastikplanen, hatten kaum etwas anzuziehen, ihre Bäuche waren von Bakterien aufgedunsen und die nackten Füße von Krätze verwundet. Jetzt saßen sie adrett gekleidet und gesund aussehend auf Stühlen aus dem Kindergarten und folgten aufmerksam der Veranstaltung. Wenn es früher etwas zu essen gab, hatten sie sich mit ihrer Blechbüchse in eine Ecke verzogen, damit ihnen niemand etwas wegnehmen konnte. Jetzt gab es einen kleinen Imbiss, sie setzten sich nebeneinander und löffelten das Essen entspannt in sich hinein.

Wenn sich im Verhalten der Kinder so viel geändert hat, dachte ich mir, dann muss auch bei den Erwachsenen etwas geschehen sein. Ich war mit Birgit Martinez zu Besuch. Mit ihr und Gundula Weitz, damals die Entwicklungsbeauftragte an der deutschen Botschaft in Nicaragua, war ich auch vor vier Jahren schon einmal hier gewesen.

Damals hatten die Bewohner die Botschaftsfrau sofort klagend aufgefordert, Geld für Medikamente zu geben. Sie redeten von ihren Schmerzen und weckten bei Gundula Schuldgefühle, sodass sie schließlich in der Botschaft Geld sammelte. Dieses Mal wurde Birgit, eine "chela" mit heller Haut und blonden Haaren, nicht um Hilfe angefleht. Keiner klagte oder versuchte Mitleid zu erwecken. Stattdessen konnte sich Birgit in Ruhe die Veränderungen auf der Hazienda zeigen lassen.

Etwas hat sich wirklich verändert. Ich bin überzeugt, dass die psychosoziale Arbeit einen großen Anteil daran hat. Die nicaraguanische Psychologin Martha Cabrera hatte uns in ihrer Machbarkeitsstudie damals dringend dazu geraten. Ein zentrales Augenmerk dieser Arbeit, die im Wesentlichen von unserem lokalen Kooperationspartner, der Frauenorganisation María Elena Cuadra (MEC), getragen wird, liegt auf den Ursachen der Konflikte, mit den mitgebrachten Verhaltensmustern der Bewohner und deren Rekontextualisierung und auf verschiedenen Formen der Konfliktintervention.

In Palmerita gab es am Anfang viele verschiedene Konflikte. Da war zum einen das hohe Ausmaß innerfamiliärer Gewalt. Dass Männer ihre Frauen schlugen, war keine Ausnahme. Dann die Aggressionen der Familien untereinander, die sich oft in Zerstörung oder Diebstahl ausdrückten. Es gab auch grundsätzliche Auseinandersetzungen über die Ziele des Projektes. Eine kleine Gruppe wollte nichts weiter als einen Landtitel und ein Häuschen als Eigentum erhalten, um es dann zu verkaufen. Ihre Beteiligung an dem Projekt der Ansiedlung und der Einkommenssicherung durch den Aufbau einer kleinbäuerlichen Existenz war nur ein Vorwand. Ihr Machtpoker war zeitweise sehr gefährlich für das Projekt. Sie haben die Hazienda mittlerweile verlassen. Ab und zu tauchen sie erneut auf, um Ansprüche anzumelden.

Die Konflikte äußerten sich vehement: Auf Koordinationssitzungen gab es enorme Spannungen, die bis zu Körperverletzungen reichten. In den Gemeindeversammlungen waren emotionale Diskussionen, Polemiken und persönliche Verleumdungen auf der Tagesordnung. Am Anfang kamen alle Männer mit einer Machete zu den Versammlungen. Gerüchte wurden verbreitet, Leute wurden systematisch schlecht gemacht. Schließlich wurde sogar einer der Bewohner von Palmerita von einem mittlerweile flüchtigen Gemeindemitglied mit der Machete erschlagen.

Das Projekt in Palmerita konnte also nur mit einer Strategie zur Deeskalation von Konflikten gelingen. Kooperationspartner wie medico international und das Movimiento de Mujeres María Elena Cuadra (MEC) haben in vielen Konfliktfällen interveniert. Dabei wurde versucht, durch verschiedene Vermittlungsmethoden, die Konflikte so zu deeskalieren, dass die Konfliktparteien am Ende selbst in der Lage waren, sie zu lösen.

Ein paradigmatischer Konflikt lag ganz am Anfang. In der Schule gab es zwischen den Kindern aus Palmerita und den alteingesessenen Schülern viele Auseinandersetzungen, in denen sie sich gegenseitig beleidigten, stichelten, reizten und ärgerten, bis es schließlich zu Handgreiflichkeiten kam. An Unterricht war nicht mehr zu denken. Schließlich wurde Margarita Espinoza, die Psychologin von MEC, eingeschaltet. Sie arbeitete wochenlang mit den Schülern, Lehrern und Eltern. Schließlich stellte sich heraus, dass die alteingesessenen Eltern die Bewohner von Palmerita aus Neid und Angst vor Überfällen vor ihren Kindern schlecht machten. Margarita konnte durch viele Gespräche schließlich erreichen, dass die Schüler selbst Lösungen suchten. Margarita hielt sich in der Konfliktbegleitung streng an die Regeln, niemand zu beschuldigen und alle Seiten zu respektieren.

Neben einer professionellen Vermittlung und Begleitung der Konflikte waren aber auch ganz andere Maßnahmen hilfreich. Zum Beispiel die vielen Fortbildungen, die die Bewohnerinnen und Bewohner von Palmerita durchlaufen haben: die Erwachsenenbildung, in der die über 18- jährigen alphabetisiert wurden und dann in drei Stufen die Grundschule abschlossen; die landwirtschaftliche Ausbildung und die Fortbildung in der Präventivmedizin. Im Sinne der Konfliktlösung waren die Inhalte zweitrangig, wichtig war die Erfahrung des gemeinsamen Lernens und des gemeinsamen Erarbeitens von Lerninhalten. In Palmerita wurde bei allen Ausbildungen und Fortbildungen Wert darauf gelegt, dass die Lerninhalte an den Erfahrungen der Menschen anknüpfen und die Methodik und Didaktik der Stoffvermittlung viel Raum für selbstgestaltetes Lernen lassen. Also kein Frontalunterricht. Dieses gemeinsam erlebte Lernen veränderte nebenbei die Kommunikationsformen der Beteiligten. Gemeinsames positives Erleben baut auch gegenseitige Aggressionen ab. Die Kommunikation wird sachbezogener. Das Erleben stärkt das Selbstbewusstsein. Nach und nach veränderten sich so einige Verhaltensmuster. Das wiederum vereinfachte die Konfliktbewältigung.

Mittlerweile sind in der Gemeinde Instanzen zur Konfliktregelung entstanden. Manchmal versuchen Konfliktparteien, den jetzigen medico-Projektkoordinator, Dieter Müller, zum Schiedsrichter zu ernennen, in der Hoffnung das Problem würde von ihm zu ihren Gunsten gelöst. Dieter verweist jedoch auf die kompetenten Gremien wie das kommunale Entwicklungskomitee oder die Genossenschaft. Und siehe da, oft gelingt es dort eine Lösung zu finden. Und es entsteht ein weiterer Lerneffekt: Die Teilnehmer bemühen sich, die Konflikte auf einem niedrigen Niveau zu halten, damit sie sie selbst durch Dialog und Verhandlungen lösen können.

Nicht nur ich habe die Veränderungen registriert. Kollegin Margarita Espinoza spricht von einer "starken Veränderung". Die Bewohner seien toleranter. Auch die Nachbarn vertrügen sich besser. Wenn ein Mann seiner Partnerin mit Schlägen droht, ruft diese ihre Nachbarn um Hilfe. Die dann auch kommen und helfen. Dies habe die innerfamiliäre Gewalt stark reduziert. Margarita erzählt von Müttern, deren Töchter bald das letzte Jahr der Sekundarstufe in der Schule beenden. Die Mütter sparen schon, um für ihre Töchter die Toga für die Abschlussfeier zu kaufen und um ein Fest zu feiern. Das klingt lapidar, aber ich freue mich, weil sie angefangen haben, nicht mehr nur das Heute zu planen, sondern auch das Morgen und vielleicht sogar die Zukunft.

Margarita erzählt mir, dass Gerüchte nicht mehr zu Tatsachen umgedeutet würden. Stattdessen erkundigt man sich beim Vorsitzenden des kommunalen Entwicklungskomitees, ob an den Gerüchten etwas dran ist.

Und natürlich sind da die Erfolgsgeschichten der Einzelnen. José Avila Molina Perez, zum Beispiel, ist wirklich Bauer geworden. Nach vierzig Jahren Leben als Tagelöhner ist er heute stolzer Kleinproduzent, der Woche für Woche seine Produkte auf dem Markt verkauft und mit gefülltem Geldbeutel zurückkehrt. Er erntet Gurken, Tomaten, Chilipfeffer, Paprika, Kleinstmelonen, Jamaicatee, diverse Früchte von 150 Bäumen. Bei der Erwachsenenbildung hat er gelernt, alles aufzuschreiben: seine Produktionsziele, seinen Materialbedarf, seine Ernteergebnisse und seine Einnahmen. Bei Gelegenheit will er sich eine Tröpfchenbewässerungsanlage anschaffen. Das dürfte seine Produktion deutlich erhöhen.

Oder Carmeza Centeno. Sie ist bekannt dafür, dass sie ihre Kredite pünktlich zurückzahlt. Sie will nichts mehr geschenkt. Sie baut Hirse, Mais und Soja an, hat aber auch Avocadobäume und Hühner. Sie ist auch Mitglied im Gemeindeentwicklungskomitee. "Die Gemeinde ist vereinigt, wir gehen gemeinsam.“ Auch sie hat an der Erwachsenenbildung teilgenommen und kann heute planen. Aber ihr ganzer Stolz ist ihr Sohn. Er war der Beste in der Schule in Mathematik. Und jetzt studiert er in León auf der Universität Systemingenieurswesen. Das gehörte nicht zu den Projektzielen. Die Selbstorganisation hat begonnen.

Projektstichwort

Basierend auf der Erfahrung des Wiederansiedlungsprojektes im nicaraguanischen El Tanque, bei dem Überlebende eines tödlichen Erdrutsches, der mehrere Dörfer und ihre Bewohner unter sich begrub, sich eine neue Lebensperspektive errichteten, hat medico international mit lokalen Partnern in La Palmerita vor vier Jahren ein weiteres integriertes Wiederansiedlungsprojekt begonnen. Die Bewohner von Palmerita haben zum großen Teil von Kindheit an ein Leben als Saisonarbeiter auf den Großplantagen des Landes hinter sich. Ein Leben unter Bedingungen der extremen Armut, das 25 Prozent der nicaraguanischen Einwohner teilen. Weil es keine Arbeit mehr für die Landarbeiter gab, führten sie einen Hungermarsch nach Managua durch. Dort stellte man ihnen zwar Land zur Verfügung, aber keine weiteren Hilfen. Für Menschen ohne finanzielle Mittel, ohne Schul- und Ausbildung ein Problem. Sie suchten den Kontakt zu medico. Aus Spenden und mit Unterstützung des Ministeriums für Entwicklung fördert medico seither unter anderem Bildungs- und Ausbildungsprogramme, das Agrarentwicklungsprogramm und die psychosoziale Arbeit. Ihre Spende wird benötigt unter dem Stichwort: Nicaragua.

 


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