Auf der Webseite von medico kann man die Grundsätze eurer Arbeit nachlesen. Als wichtiges Prinzip wird da die „Partnerorientierung“ genannt. Was meint das genau und warum ist es so wichtig?
Sabine Eckart (SE): Die Partnerorientierung ist Teil der medico-DNA. Dabei hatte medico Ende der 1960er-Jahre selbst als interventionistische Organisation angefangen. Damals wurden Medikamente und Altkleider nach Biafra geschickt, medizinische Teams von medico sind in Krisengebiete nach Peru und Indien gereist. Im Gegensatz zu den meisten anderen hat medico aber sehr schnell verstanden, dass diese Art der Entsende-Hilfe nicht nachhaltig ist und Abhängigkeiten nur verlängert. Deshalb geht es seit den 1970er-Jahren bei medico vor allem darum, Beziehungen zu emanzipatorischen Kräften zu knüpfen und diese in ihrer konkreten Arbeit und ihren Kämpfen zu unterstützen. Im deutschen, aber auch im internationalen Kontext war medico damit auf jeden Fall Vorreiter.
Wie kann partnerorientierte Hilfe denn Veränderungen bewirken?
SE: Im Idealfall ermächtigt und befähigt sie die lokalen Akteure, Strukturen aufzubauen oder Kapazitäten zu bilden, die unabhängig von der Hilfe fortbestehen.
Karoline Schaefer (KS): Partnerschaft meint bei uns immer mehr als die finanzielle Förderung von zeitlich begrenzten Projekten. Wir gehen „politische Partnerschaften“ ein. Was uns und unsere Partner:innen verbindet, sind nicht nur die konkreten Projekte, sondern geteilte politische Ideale und Ziele im Kampf um die Geltendmachung von Menschenrechten oder für das Recht auf Hilfe. Auf dieser Basis unterstützen wir die politischen Kämpfe unserer Partner:innen. Im Laufe der Zeit sind so viele vertrauensvolle und langfristige Beziehungen entstanden, die eine solidarische Zusammenarbeit auch unabhängig von Aufmerksamkeitskonjunkturen und staatlichen Interessen ermöglichen. Und gleichzeitig sind sie die Basis dafür, auch in akuten Notfällen schnell und wirksam dort zu unterstützen wo Hilfe wirklich benötigt wird.
Kannst du ein Beispiel nennen?
KS: Als Anfang 2023 die Erdbeben in der Südosttürkei und im Norden Syriens massive Zerstörungen verursachten, haben unsere Partner:innen auch und gerade dort Nothilfe geleistet, wo staatliche und internationale Hilfe spät oder gar nicht ankam. Das war möglich, weil wir mit diesen lokalen Organisationen seit vielen Jahren kooperieren.
SE: Natürlich verändert sich unsere Kooperationsarbeit mit den sich verändernden Weltverhältnissen. Zum Beispiel hat medico vor knapp zwanzig Jahren entschieden, sich stärker mit Migration auseinanderzusetzen. In diesem Zuge sind entlang der Außengrenzen der EU neue Partnerschaften entstanden. Das ist insofern neu, da wir seitdem auch mit Partner:innen im geografischen Norden kooperieren. Bei medico sind die Kooperationen, anders als bei vielen anderen Organisationen, eng mit unserer Öffentlichkeitsarbeit verschränkt. Wir stehen in regelmäßigem Austausch mit unseren Partner:innen. Sie berichten uns über aktuelle Entwicklungen und ermöglichen es uns, uns auf Dienstreisen selbst ein Bild ihrer Realität zu machen. Dass und was wir als medico zum Beispiel aktuell über die Situation in Gaza und in der Westbank berichten, wäre ohne unseren Partneransatz kaum möglich.
Auch wenn es solidarische Partnerschaften sind: Es gibt darin eine Geber- und eine Nehmerseite. medico hat das Geld und entscheidet darüber, wer es bekommt.
KS: Das stimmt, wenn man in postkolonialen Weltverhältnissen und kolonialen Kontinuitäten als westliche Geberorganisation arbeitet, gibt es immer ein Machtgefälle, egal, wie solidarisch oder politisch nah man sich ist. Was wir aber immer wieder tun, ist, unsere Rolle als Geber und die darin eingelassenen Abhängigkeiten und Interessen so selbstkritisch wie möglich zu reflektieren. Dafür ist es übrigens wichtig zu wissen, dass wir mit einer Vielfalt von unterschiedlichen Partner:innen zusammenarbeiten.
Kannst du das Spektrum kurz beschreiben?
KS: Auf der einen Seite gibt es große, sehr professionalisierte Organisationen; auf der anderen Seite stehen Zusammenhänge, die über wenig feste Strukturen verfügen – seien es soziale Bewegungen, aktivistische Initiativen oder eher lose transnationale Netzwerke.
Bei diesen gilt es besonders aufmerksam dafür zu sein, was wir als geldgebende Organisation bewirken und auch anrichten können. Führt die Förderung zu Hierarchien, die es vorher nicht gab? Überfordern administrative Anforderungen die Partner:innen oder befördern sie umgekehrt eine „NGOisierung“? Im Hilfssektor gibt es unzählige Beispiele, wie die Finanzierung durch Geberorganisationen zu einer ungewollten Institutionalisierung von politischen Initiativen und lokalen Strukturen geführt hat.
SE: Das Dilemma ist, dass der Bedarf immer und überall grenzenlos ist, die Mittel aber begrenzt sind. Um das aber noch einmal zu betonen: Es ist eine Besonderheit von medico, dass wir auch Zusammenhänge unterstützen, die keine klare Organisationsstruktur haben und in der Durchführung von Projekten unerfahren sind. Die meisten anderen Geber winken da ab. medico kommt dabei oft eine Art Scharnierfunktion zu: Durch die Kooperation mit uns eignen sich Partnerorganisationen Expertise an, etwa in Finanz- und Dokumentationsfra-gen. Das führt dazu, dass sie sich mit besseren Aussichten auch an andere Finanzierungsquellen wenden und damit unabhängiger werden können – auch von uns.
Ist das auch der Grund, warum medico einige Partner:innen nicht im Rahmen von Projekten, sondern „institutionell“ fördert?
SE: Es gibt viele Gründe, die vorherrschende Praxis der Projektförderung kritisch zu sehen. Ein Problem ist, dass sie immer nur einen Ausschnitt des Handelns einer Organisation adressiert – und oft eher den, der die geldgebende Organisation interessiert. Diese sagt: „Wenn ihr dieses Projekt oder jenen Workshop umsetzt, finanzieren wir das.“ Das hat weder etwas mit Partnerschaft auf Augenhöhe zu tun noch mit dem, was vor Ort vonnöten ist.
KS: Mit einer reinen Projektförderung ist es fast nicht möglich, Strukturen aufzubauen und zu erhalten. Mit einer institutionellen Förderung finanzieren wir das, was eine Organisation braucht, um langfristig arbeiten zu können – Büroräume, Gehälter und viele andere laufenden Kosten. Das trägt zu ihrer Stabilität und Autonomie bei und ermöglicht ihnen zudem, langfristig zu planen und politische Strategien weiterzuentwickeln.
Vorhin war schon von den sich verändernden Weltverhältnissen die Rede: Kriege und Krisen eskalieren, weltweit zieht ein neuer Autoritarismus herauf. Wie wirkt sich das auf die Kooperationen von medico aus?
KS: Ganz neu ist das nicht, immer schon haben medico-Partner:innen unter widrigsten Bedingungen in bedrohlichen und repressiven Kontexten gearbeitet. Allerdings hat sich die Lage tatsächlich vielerorts verschärft. Mehrere unserer Partnerorganisationen mussten ins Exil flüchten, sei es aus Syrien, Afghanistan oder Nicaragua. Wir unterstützen sie auch dabei, ihre Arbeit aus der Diaspora weiterzuführen. Das stellt sowohl sie als auch uns vor neue Herausforderungen. Ein Erstarken des Autoritarismus merken wir auch daran, dass wir zunehmend Gelder dafür aufwenden, dass Partner:innen ihre Arbeit überhaupt fortsetzen können. Mal geht es um juristischen Beistand, mal um Sicherheitstrainings oder Investitionen in digitale Sicherheit. Auch die Finanzierung von psychosozialer Unterstützung der Partner:innen gewinnt in repressiven Kontexten immer mehr an Bedeutung.
Gibt es darin auch eine politische Strategie?
KS: In meinen Augen ist der Kampf gegen die Vereinzelung am wichtigsten. Deswegen bringen wir Partner:innen, die in ähnlichen Situationen arbeiten, zusammen. So haben wir beispielsweise im vergangenen Jahr Menschenrechtsaktivist:innen aus aller Welt zu einem Workshop nach Berlin eingeladen. Alle sind mehr oder minder stark von Repressionen betroffen. Auf dem Workshop teilten sie nicht nur ihre Erfahrungen, sondern tauschten sich auch über psychosoziale Praktiken und politische Gegenstrategien aus.
SE: Viele Partner:innen haben im Umgang mit rechten Regierungen und Autoritarismus auch uns gegenüber einen deutlichen Vorsprung. Sie sind schon lange und viel heftiger damit konfrontiert. Von ihren Erfahrungen können wir profitieren.
Noch einmal zurück zum Anfang. Seit einigen Jahren geistert der Ruf nach „Lokalisierung“ durch die Debatten: Humanitäre Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit sollen stärker „lokal verankert“ werden. Fordert medico nicht genau das seit langem?
SE: Tatsächlich hat sich etwas verändert: Früher war es den meisten europäischen NGOs wichtig, ihre Projekte selbst durchzuführen und die eigenen Strukturen zu finanzieren. Inzwischen sprechen viele davon, Ressourcen und Verantwortung an lokale Akteure zu übertragen. Sie tun das aber aus anderen Gründen als wir. Lokale Partner:innen sollen es dann richten, wenn es kostengünstiger ist oder wenn die Kontexte zu gefährlich erscheinen, um internationale Kräfte zu entsenden. Das sind administrative Motive, keine politischen. Mit einem partnerschaftlichen Ansatz, wie medico ihn vertritt, hat das nichts zu tun. Wenn wir partnerschaftlich sagen, meinen wir es ernst.
KS: Lokalisierung wird schon lange von Organisationen aus dem globalen Süden gefordert. Diese Forderungen wurden in den letzten Jahren schließlich auch von der internationalen Gebergemeinschaft aufgegriffen und immer wieder als Leitziel definiert. Ein Beispiel dafür ist der sogenannte Grand-Bargain-Prozess, unter dem seit 2016 zwischen Regierungen, internationalen Organisationen und NGOs darüber verhandelt wird, wie humanitäre Hilfe wirksamer werden kann. Niemand soll sich Sorgen machen, Steuergelder würden nicht effizient, sicher und risikoarm eingesetzt. Tatsächlich scheut die Bundesregierung aber davor zurück, wirklich zu lokalisieren. Das würde nämlich heißen, dass sie den Zugang zu Entscheidungsstrukturen verändert oder die Arbeit lokaler Organisationen im Ausland direkt fördert, ohne zwischengeschaltete NGOs. Das ist politisch aber nicht gewollt.
Dann hat sich eigentlich nicht viel verändert?
SE: Etwas schon. Weil ja eben lokalisiert werden soll, gründen manche NGOs in den Fällen, in denen es attraktiv ist, in dem jeweiligen Land Satelliten-Organisationen. Letztlich sind es Filialen hiesiger NGOs. Diese gelten dann als lokale Partner, an die die Gelder gehen und die die Projekte abwickeln sollen.
KS: In der Ukraine ist das im großen Stil passiert. Seit 2022 ist viel Geld für humanitäre Hilfe und sogar den Wiederaufbau ins Land geflossen. Viele Mittel gehen dabei aber in die Finanzierung lokaler Büros von deutschen und internationalen Organisationen, die aufgemacht wurden, um Hilfsgelder zu verwalten. Gleichzeitig haben wir auf unseren letzten Dienstreisen in der Ukraine immer wieder gehört, dass von diesen Geldern bei den kleineren, weniger professionalisierten lokalen Strukturen kaum noch etwas ankommt. Dabei sind sie es oft, die die schnelle Hilfe von unten organisieren.
Das Interview führte Christian Sälzer.
Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 4/2024. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!