Sowohl helle Panik als auch diffuse Angst liegen im Pandemieausbruch emotional “auf der Hand“. Die Covid-19-Pandemie ist das erste wirkliche globale – weil simultan auf der ganzen Welt erlebte – Ereignis: Anstatt, dass „wir“ sie im Griff haben, hat die Pandemie die Welt im Griff. Unscharf zeichnet sich ab, dass sie anhaltende Auswirkungen haben und massive Veränderungen mit sich bringen wird. Deren ganzes Ausmaß werden wir wohl erst nach Jahren erkennen werden. Vielleicht niemals ganz begreifen.
Die Umwälzungen auf der globalen gesellschaftlichen Ebene muten monströs an. Auf der individuellen Ebene sind wird dagegen auf unsere Leiblichkeit zurückgeworfen: Wir sehen uns mit einem Virus konfrontiert, das für das bloße Auge unsichtbar bleibt. Viruspartikel können ständig überall sein. Die Corona-Pandemie erinnert uns vor allem daran, dass wir – jede:r für sich genommen – unmittelbar verletzlich sind. Plötzlich können auch die materiell Abgesicherten sterben. Obwohl sie noch im Januar 2020 glaubten, Jahrzehnte vor sich zu haben. Jede für sich genommen, produzieren beide Betrachtungsweisen – die globale und die körperliche – auf unterschiedlichen Ebenen vor allem eins: Angst. Aber ist das alles? Hat unser „emotionales Pandemie-Repertoire“ nicht noch mehr zu bieten?
Kein Maß, nur Wert
Jenseits der Angst wird unlängst von Corona Fatigue gesprochen. Statt das klassistische Rosa’sche Moment der Entschleunigung im Home Office weiterhin in vollen Zügen genießen zu können, sind wir „ermüdet“: von den Lockdown-Auflagen, von den anhaltenden Kontaktbeschränkungen, von dem Shut Down der Kunst-, Kultur- und Partyszene.
Ständig prasseln Infektionszahlen, Reproduktionszahlen und Sterberaten auf uns ein: Die medizinischen und demographischen Korrelate der Pandemie scheinen hinreichend quantitativ erfassbar zu sein. Die „Vermessung des Infektionsgeschehens“ – so scheint es zumindest – erstreckt sich bis in den letzten Winkel der Welt. [Natürlich stimmt das so nicht – aber lassen wir uns diesen Anschein nicht nehmen.]
Eine Nachricht muss nur oft genug wiederholt werden, bis sie internalisiert wird. Das Virus ist allgegenwärtig. Seine Gefährlichkeit darf nicht heruntergespielt werden. Dennoch ist Kommunikation immer politisch. Sie formt unsere Brille, durch die wir auf das Leben schauen. In der Folge ist das Leben nach diesen Vorzeichen auszurichten. Andere Fragen, andere Sorgen, rücken in den Hintergrund. Stattdessen gelten: Infektionszahlen, Reproduktionszahlen, Sterberaten. Wir messen die Gefährlichkeit und Tödlichkeit des Virus. Aber über den Wert des Lebens reden wir nicht mehr.
Ist das Zahlenmaß wirklich der adäquate Bezugspunkt, um die gegenwärtige Krise, um die die Krise verursachenden und verschärfenden Verhältnisse, in all ihrer Brisanz und Dringlichkeit zu erfassen und um davon ausgehend nach Lösungen zu suchen?
„Zerbrich' dir nicht den Kopf, Krieg oder Frieden – es ist alles gleich.”
„Ist alles gleich?“, fragte Jacques erstaunt. „Sag' das mal den Millionen Menschen, die sich aufs Sterben vorbereiten.“
„Na und?“ sagte Mathieu gutmütig. „Sie tragen von Geburt an den Tod in sich. Und wenn man sie bis zum letzten Mann niedergemacht hat, wird die Menschheit genauso vollständig sein wie vorher; ohne eine Lücke, ohne daß einer fehlt.“
„Nur zwölf bis fünfzehn Millionen Menschen“, sagte Jacques.
„Es geht dabei nicht um Zahlen“, sagte Mathieu. „Die Menschheit ist an sich immer vollständig, niemand fehlt ihr, und sie wartet auch auf keinen. Sie wird weiter nichts zustande bringen, dieselben Menschen werden sich dieselben Fragen vorlegen und dasselbe Leben verpfuschen.“
Gleich, wie Jean-Paul Sartre seine Figuren im Roman "Der Aufschub" sprechen lässt, dreht es sich nicht um die Menschheit als quantifizierbares Maß. Es dreht sich um jeden einzelnen Menschen und dessen Wert. Wenn wir aber unser Leben allein nach dem Maß und dem Tod ausrichten, bleibt etwas Entscheidendes auf der Strecke: das Leben als solches, durchzogen von Begehren, Liebe, Wut, Hoffnung. Und, ja – das auch – Angst und Sorgen um sich selbst. Aber eben nicht nur. Leben, das entsteht dann, wenn wir zusammenkommen. Ist die Bedeutung des Lebens der Vermessung gewichen?
Jenseits der biopolitischen Vermessung des Lebens
Nicht messbar ist jedoch das Leid, das „hinter“ diesen Zahlen liegt – das Leid insbesondere, das sich hinter der jeweils letzten Zahl verbirgt, mit der die Sterberaten steigen. Dieses Leid wird von den Angehörigen, Freund:innen und Überlebenden [als diejenigen, die ihre Verstorbenen überleben], den ehemals Erkrankten und all jenen Menschen getragen, die ihnen nahestehen: „Jeder Seufzer ist ein Schluck Leben, dessen man sich entledigt“, schrieb einst der Schriftsteller Juan Rulfo.
Meist verbleiben die Trauer und das Leid im Privaten. Infektionszahlen, Reproduktionszahlen, Sterberaten. Allesamt Zahlen und Maße, die uns in ihrer Abstraktheit zu Betroffenheit und individueller Eigenverantwortung anleiten sollen: Den [noch] nicht Betroffenen bereitet es diffuses Unbehagen: „Wir“ können uns „ihre“ Trauer, ihre potenzielle Angst vor der Gegenwart und der Zukunft nur vorstellen.
Ganz und gar unvorstellbar ist es aber, wenn Menschen gleich zuhauf ihre Liebsten verlieren. Wie privat kann Trauer sein, wenn Triage darüber entscheidet, wer Zugang zu medizinischer Intensivbehandlung bekommt? Wie privat kann Trauer sein, wenn ihre Ursache direkt aus den gesellschaftlichen Verhältnissen folgt? Wie erst kann ein Mitgefühl für das Leid all jener „dort“ entstehen, deren ökonomischer und sozialer Platz in einer Gesellschaft darüber entscheidet, ob sie überhaupt Zugang zu irgendeiner Form der Gesundheitsversorgung finden? Was, wenn „Lockdown“ bedeutet, dass die Eingeschlossenen hungern? Wenn jeder Tag ohne Arbeit bedeutet, dass die Nahrungsmittel für diesen oder den Folgetag ausbleiben? Dort, wo das Leid und die Trauer nicht mehr ertragen werden können – wo die Menschen mutmaßlich eine Todes Fatigue erleben – wandeln sich Trauer und Angst in Wut. In Brasilien protestieren [endlich] Hunderttausende gegen Bolsonaros neoliberal-sozialdarwinistische Corona-Politik und deren tausendfaches Sterbenlassen.
Existiert eine von imperialer klassistischer Arroganz getragene Empathielosigkeit? Es scheint ein [emotionaler] Unterschied zwischen „hier“ und „dort“ zu existieren: Es ist jener der abstrakten Betroffenheit.
Wo aber ist unsere Wut?
Am 25. Januar 2021 wurde unsere eigene abstrakte Betroffenheit zu einer konkreten: [Auch] wir haben, erneut, einen geliebten Menschen durch Covid-19 verloren. Einen Freund, einen Compañero, einen politischen intellektuellen Wegbereiter, gezeichnet durch Internationalismus und menschliche Güte, ein Mensch im wahrsten Sinne, humorvoll, fürsorglich, umsichtig, eine elementare Stütze unserer Wahlfamilie. Sein Tod macht uns fassungslos – „dort“ in Mexiko-Stadt wie „hier“ in Frankfurt am Main. Den Schmerz und die Trauer der Menschen, denen wir geographisch fern und emotional nah sind, teilen wir in dessen Subjektivität. Doch inmitten der Trauer führt sein Tod uns vor Augen, dass es eine ungemeine emotionale gesellschaftliche Leerstelle gibt: Wut.
Wo ist unsere Wut? Unser Compañero hat sich – aller Wahrscheinlichkeit nach – in einer Warteschlange infiziert. Schon pensioniert, musste er jede zweite Woche physisch in einer solchen langen – stundenlangen – Warteschlange stehen: die Schlange an der Auszahlstelle der Rente. Daran denkend, regt sich [teils zum ersten Mal] Wut: Wie konnte es möglich sein, dass unser Freund – trotz des Imperativs der physischen Distanzierung, trotz der Mobilitätsrestriktionen, trotz seines fortgeschrittenen Alters – alle zwei Wochen in dieser Menschenschlange stehen und warten musste? Um zu dem Geld Zugang zu bekommen, dass ihm auf Grund jahrzehntelanger Arbeit zustand, und doch nur eine lächerliche Kompensation dafür war, was ihm genommen wurde: der Großteil seines Lebens. Der Komiker Cantinflas sagte einst: "Wenn Arbeit etwas Gutes wäre, hätten sie uns die Reichen schon längst geklaut." Wie ist es möglich, dass inmitten des eskalierenden Infektionsgeschehens keine Alternativen geschaffen wurden, um dieses Geld digital an „den Mann“ zu bringen? Ohne Warteschlange ein mögliches Infektionsmoment weniger. Weniger Infektionen: weniger mögliche Tote. Doch wer kann es sich leisten, zuhause zu bleiben? Welche Gesellschaft überlebt das? Welche Regierung hat die notwendigen Mittel dazu? Inmitten der globalen Verarmung, die auch vor G20-Ländern wie Mexiko nicht Halt macht, führte der neoliberale Kapitalismus bei der arbeitsfähigen Bevölkerung keineswegs zu einer Gewährleistung der eigenen Reproduktion. Informelle und prekäre Beschäftigungsverhältnisse verschränken sich. Die Menschen leben von der Hand in den Mund[i]. „Antes de morir del coronavirus, muero de hambre.“ – „Bevor ich am Corona-Virus sterbe, sterbe ich an Hunger.“ Zeit der Trauer ist auch Zeit der Wut. Auf die, die die gesellschaftlichen Missstände als Normalzustände mit verantworten. Auf die, die mit dem Leben Anderer spielen.
Polypandemie der Ungleichheit
Der Funken der Wut hätte viel Zündstoff. Multiple „Brandherde“ sind überall offensichtlich: Wut auf ein Wirtschaftssystem, in dem Gesundheit lediglich eine Ware ist. Wut, weil Gesundheitsversorgungssysteme – insbesondere die Arbeitskraft der Gesundheitsarbeiter:innen – maximal ausgebeutet werden. Wut, weil viele Gesundheitsarbeiter:innen – vor allem im Globalen Süden – auf Grund exorbitanter Preissteigerungen und Güterknappheit mit mangelnder Schutzausrüstung arbeiten müssen. Wut, weil Tausende von ihnen an diesen Arbeitsbedingungen sterben. Viele derartige Tode sind vermeidbar – hätten nicht auch Menschenleben in der Logik der Gewinnmaximierung einen kalkulierbaren Preis, den der Kapitalismus zu zahlen nicht bereit ist.
Jahrelang konnten wir die Aushöhlung der Gesundheitssysteme beobachten. Seit Jahrzehnten schon wissen wir, dass den Ärmsten der Welt der Zugang zu erschwinglichen Medikamenten verwehrt wird. Auch jetzt in der Pandemie ist der Schutz der Patentrechte zentral dafür, wer Impfstoff erhält – und wer nicht.
Wir könnten wütend sein auf die Pharmaindustrie, die keinerlei Interesse daran hat, Impfstoffe zum Allgemeingut zu machen. Wütend auf die Welthandelsorganisation, die mächtigste Komplizin der Pharmaindustrie – und auf die deutsche Bundesregierung, die eine solidarische Verteilung verhindern. Wütend auf den Wettbewerb um die Impfstoffe, der deren solidarische Verteilung verhindert. Dabei gibt es doch ein geradezu logisches Eigeninteresse aller an einer gerechten Impfstoffverteilung: weil die Pandemie erst zu Ende sein wird, wenn sie für alle zu Ende ist. Deshalb ist diese Pandemie eine Polypandemie: Multiple Krisen – multiple Pandemien – verschärfen bestehende massive Ungleichheiten. Gesundheitliche Folgen der Corona-Pandemie verschränken sich mit den Pandemien der Armut und des Hungers. Der sozioökonomische Schock wird andere Pandemien nach sich ziehen. Autoritarismus verstetigt sich. Demokratische Strukturen werden fragiler. Wann ist der Morgen, an dem wir die außerordentlichen Maßnahmen von heute als normal erachten? Während meist Frauen* die vielfältigen Formen der Sorgearbeit tragen, steigt patriarchale Gewalt an. Für Schwarze Bevölkerungsschichten zeigen sich über Ländergrenzen hinweg schwerere Verläufe und höhere Sterberaten als für nicht-schwarze Bevölkerungsschichten. Diese statistisch signifikanten Unterschiede bleiben auch dann bestehen, wenn sie an ökonomischen Unterschieden und dem Zugang zu Versorgungsstrukturen relativiert werden.
Wut der Anderen. Abwehr wider die Indignation
„Indignez-vous." – „Empört euch.“ Widerstand und Revolte erwachsen aus Empörung, gepaart mit Wut. Aus der Erfahrung von Leid und Ungerechtigkeit. Da wie die Angst auch die Wut nicht unbedingt ein guter politischer Ratgeber ist, wird wutgeleitete Affektpolitik nicht immer emanzipatorisch sein. Trotzdem kann politischer Widerstand „wutinformiert“ sein, kann Wut als emotionaler Katalysator Gerechtigkeitspolitiken hervorbringen.
Wut könnte gepflegt werden. Stattdessen werden die eigene Empörung und die der anderen oftmals abgewehrt und abgewertet. Anstatt ihr einen Platz in einer kritikgeleiteten Wissensproduktion zuzugestehen, wurde Hessels affektive Streitschrift vielfach als Polemik abgetan. Sie passt nicht in das normative Verständnis von Bürgerlichkeit: Das bürgerliche Subjekt ist politisch informiert, selbstoptimiert und affektiv reguliert. „Wut“ haben [nur] die anderen. Bislang schien die Wut der Affekt-Politik all jenen vorbehalten zu sein, die, oft gepaart mit rassistischen und antisemitischen Ressentiments, teils auch mit unverhohlenem Hass, ihre Wut über die restriktiven Auflagen zur Pandemieeindämmung auf die Straße tragen. Die sogenannten „Corona-Rebellen“ und ihre Wut über die Corona-Auflagen sind – trotz teils partikularer Aspekte ihrer Verschwörungstheorien – kein Einzelfall. Rassistische Wut wird [auch, und nicht nur] in Südafrika auf Migrant:innen projiziert und diese als vermeintliche „Virusüberträger:innen“ bedroht und verfolgt. Den Demonstrationen der Corona-Leugnenden, ihrem Sozialdarwinismus und ihren Verschwörungstheorien wollen wir weder die Straße noch die Wut überlassen: Es ist legitim, auf ein Wirtschaftssystem wütend zu sein, das aus der Pandemie und noch aus dem Leiden an der Pandemie ein Geschäft macht. Wo aber ist sie, diese legitime Wut von links und von unten, die Wut gegen die bestehenden pandemischen Verhältnisse, in der sich alle Ausbeutungs-, Ausschluss- und Ungerechtigkeitsverhältnisse zuspitzen, die der globale Kapitalismus zu bieten hat? Was machen wir mit dieser Wut? Wohin mit ihr, wie transformieren wir sie in ein soziales, widerständiges und emanzipatorisches Moment?
Ein Kampf für das würdige Leben. Und die Menschlichkeit
Wir können entscheiden, in welcher Form wir uns in Beziehung setzen wollen zu denen, die leiden. Wir können uns entscheiden, ob es der Angst überlassen sein soll, unser Verhältnis zu prägen. Uns auf Distanz zu halten, oder Nähe durch ein empathisches Zugewandtsein aufzubauen. Wer kann es sich leisten, in Vereinzelung zu trauern und sich in abstrakter Betroffenheit zu üben? Wer muss auch weiterhin sein Leben als schieres Überleben meistern – nun unter veränderten Vorzeichen? Das Virus trifft uns alle ungleich. Doch die Ungleichheit stellt sich nicht nur in, sondern auch zwischen den Gesellschaften ein – allein die Idee einer Abschottung geht an der Wirklichkeit vorbei. Es gibt keine gesellschaftlichen Außenverhältnisse mehr. „Nach einer Weile sagte er, er glaube, es komme bei der Empörung auf die Dauer an. Wer die Zustände ändern wolle, bei dem müssten Wut und Trauer lange anhalten. Darin, dass der Hass auf die Unterdrücker nicht nachlasse, zeige sich der wahre Humanismus”, sagt Kolzow in Robert Cohens Roman "Das Exil der frechen Frauen". Nur mittels dieser permanenten Wut auf die Verhältnisse ist eine Reparatur der Welt denkbar. Dies ist ein Nachruf für einen Menschen, der immer auch ein Freiheitskämpfer war. Der sein Leben lang für eine gerechte[re] Welt gekämpft hat, für das Recht auf Stadt – bevor es die gleichnamigen Kampagnen gab. Nach den Erdbeben in Mexiko-Stadt 1985 und bis zu seinem Tod kämpfte er für den Wiederaufbau von sozialem und würdigem Wohnraum. Dessen Entscheidungen im Leben dazu führten, die Gesellschaft von unten aus zu reparieren, sie zu verändern.
Es braucht die Wut, um zu wissen, welche Seite man in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung bezieht. Es braucht die Güte, um zu wissen, wie etwas Neues entstehen kann. Sein Leben hallt in den Reaktionen derer nach, die um ihm trauern. Der unermessliche Wert seines Lebens symbolisiert sich auch entlang den Gesten der Trauernden. Manche fanden den Weg ins Bestattungsinstitut, wo seine Urne stand. Sie trotzten der tödlichen Gefahr des Virus, weil sie dem Freund nicht im Tod verbunden sind – sondern im Leben.
Es sind die simplen Gesten, die alles aussagen. Es ist diese gelb-rote Maske, die neben seiner Urne hinterlegt wird. Es ist die Maske des einzigen real existierenden Superhelden in Mexiko, des Súper Barrio, dem Helden der ausgeschlossenen popularen urbanen Viertel. Es ist ein Held der vergangenen Jahrzehnte, den unser Compañero mit prägte, mit aufbaute, mit begleitete. Es ist ein Held, hinter dessen Maske sich alle verbergen, um sich selbst sichtbar zu machen. "¡Todos somos Súper Barrio!" – „Wir alle sind Súper Barrio!", schallt es von den Ecken der urbanen Kämpfe. Die Maske gedenkt seines Lebens. Sie spricht von diesem unermesslichen Wert, der sich in kein Maß pressen lässt.
Wütend und verletzlich. In Anerkennung und Einforderung der Rechte der Anderen
Die kubanische Fahne trägt den Gedenkaltar. Neben seinem Foto liegen der schwarze Trauerflor – und auch die gelb-rote Maske von Súper Barrio. Er, unser Compañero selbst, ist unermesslicher Teil der Barrios von Unten. Er ist ein Teil all jener, die zusammen mehr sind als ihre bloße Summe. Er war einer dieser besonderen Menschen, von denen wir lernen können, was „Solidarität“ bedeuten kann: das Teilen materieller und immaterieller Güter ebenso wie das Einstehen für die Rechte der Anderen als soziale Gruppe, auch dann, wenn man nicht mit ihnen einig ist oder sie schlicht nicht mag.
Dies ist ein Nachruf für einen Menschen, der uns in Empathie begegnet ist, der fähig war, das Leid der [vermeintlich] Anderen anzuerkennen: jenes Leid, das die „bestehenden Verhältnisse“ erzeugen. Eigentlich ist dieses Leid ein „Motor“ der Kritischen Theorie: Es erzeugt die Notwendigkeit, diese Verhältnisse zu verändern. In der Verknüpfung von Solidarität und Empathie liegt die reziproke Erklärung, das Zugeständnis, die Anerkennung des Menschenrechts, in der sich die eigene Freiheit vor der Freiheit der Anderen verantwortet.
Obgleich unser Compañero nicht zu Wutanfällen neigte, ist dieser Nachruf ein Plädoyer dafür, vulnerageous zu sein: verletzlich, wütend, widerständig. Es ist ein Plädoyer, füreinander zu sorgen. Füreinander und für ein Leben in Würde einzutreten, mit dem auch der Kampf für eine andere, nicht kommodifierzbare, Gesundheit untrennbar verbunden ist: Ausgehend von der Idee, dass Gesundheit nicht die bloße Abwesenheit von Krankheit ist, gedacht aus der Perspektive sozialökonomischer Bedingungen, in denen Gesundheit und Krankheit entstehen. Kein Staat wird uns das abnehmen können, weder als Garant noch als Verweigerer von Rechten.
Das sind wir nicht nur unserem Compañero Juan Andrés Pérez Pérez (1954-2021) schuldig. Sondern auch uns.
1. Februar 2021
[i] In Mexiko wird die Anzahl derer, die unterhalb der Armutsgrenze leben, durch Covid-19 auf 70 Millionen Menschen ansteigen. In anderen lateinamerikanischen Ländern vollziehen sich ähnliche Tendenzen. Kämen nun manche Regierungen auf die Idee – und sie tun es – Maßnahmen zugunsten der eigenen Bevölkerung zu ergreifen, die privatwirtschaftlichen Interessen zuwiderlaufen, besteht dank der 470 abgeschlossenen Handelsabkommen zwischen lateinamerikanischen und karibischen Staaten und Unternehmen die Möglichkeit – und das Recht –, dass letztere erstere verklagen, da jenen ihr Anspruch auf Investitionen und Profit genommen wird. Vor einem internationalen privaten Schiedsgericht wird die Sachlage verhandelt, gemeinhin wird den Unternehmen Recht gegeben. Die zu zahlende Geldstrafe führt dazu, dass den Staaten wiederum finanzielle Mittel fehlen, um anderweitig für ihre Bevölkerung zu sorgen. Das Rechtssystem, das in solchen Momenten greift, nennt sich Investor-State Dispute Settlement.