Die Gesundheit der Menschen ist stets ein Abbild der sozialen Bedingungen, unter denen sie leben. So spiegelt sich die Ungleichverteilung von Macht, politischen Teilhaberechten und Gütern auch in der Lebenserwartung der Menschen. Ein Kind, das heute in Japan zur Welt kommt, wird durchschnittlich 83 Jahre alt, während es in Sierra Leone nur mit 47 Jahren rechnen kann.
Wer arm ist, stirbt früher
Die Ungleichheit kann also beziffert werden: 36 Jahre – ein halbes Menschenleben. Für diese alarmierenden Unterschiede in Gesundheit und Lebenschancen gibt es keine biologische oder genetische Ursache. Es handelt sich nicht um ein „natürliches“, sondern um ein von Menschen gemachtes Phänomen. Auch der zweite Gesundheitsindikator neben der Lebenserwartung, die Säuglingssterblichkeitsrate, verdeutlicht die soziale Spaltung, die in der Welt herrscht. Von 1.000 Lebendgeborenen sterben in Mali 178 Kinder, bevor sie das fünfte Lebensjahr erreichen. In Deutschland sind es vier. Das Menschenrecht auf Gesundheit verkommt so zur Farce. Soziale Ungerechtigkeit, systematisch produziert durch politische Entscheidungen, „tötet in großem Maßstab“, so die Kommission für die sozialen Determinanten von Gesundheit der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Zwei Milliarden Menschen haben keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser. Über eine Milliarde leidet an Unterernährung, wobei die Zahl der Hungernden im Zuge der Finanzkrise sprunghaft um 200 Millionen angestiegen ist. Wer arm ist, wird noch immer häufiger krank und stirbt auch früher. Die Bedingungen, unter denen wir aufwachsen, leben, arbeiten und lernen, sind es, die unsere Gesundheit entscheidend beeinflussen. Das gilt für die Verhältnisse in der Welt, wie für die in unseren eigenen Ländern. Denn auch hier herrschen Ungleichheiten und haben finanziell besser gestellte Menschen ein im Durchschnitt zehn Jahre längeres Leben.
Es ist genug für alle
20 Millionen Menschen sterben jährlich an armutsbedingten Krankheiten, jede und jeder Dritte. Der Yale-Philosoph Dr. Thomas Pogge spricht in diesem Zusammenhang von der „größten Menschenrechtsverletzung in der Geschichte der Menschheit“. Denn es sind genügend Ressourcen und es ist genügend Wissen vorhanden, allen Menschen einen gleichen und gerechten Zugang zu Gesundheit und Wohlbefinden zu sichern. Dass dies nicht geschieht, ist Ergebnis einer extrem ungleichen Verteilung der Reichtümer: 1.000 Milliardäre besitzen so viel wie die ärmere Hälfte der Menschheit.
Schon der deutsche Arzt Rudolf Virchow wies Mitte des 19. Jahrhunderts darauf hin, dass die richtige Medizin gegen die meisten Krankheiten vor allen Dingen in kluger Sozialpolitik zu finden sei. Kurse in rückengerechtem Arbeiten für den überbelasteten Krankenpfleger oder Hygieneaufklärungsprogramme in den wachsenden Megaslums der Welt mögen ein wichtiger Bestandteil sein. Nachhaltiger und effektiver sind jedoch freier Zugang zu Bildung, faire Arbeitsbedingungen, eine geringe Einkommensungleichheit und politische Teilhaberechte. Verhältnisprävention also – statt Verhaltensprävention!
Oberste Priorität hat dabei die Rückbesinnung darauf, dass die Sicherstellung des Zugangs zu bestmöglicher Gesundheit nicht den einzelnen Menschen selbst obliegt, sondern eine gesellschaftliche Aufgabe ist. Gesundheit ist ein fundamentales Menschenrecht, für dessen Verwirklichung zunächst die einzelnen Länder und schließlich auch die Länder gemeinsam verantwortlich sind. Sie ist ein öffentliches Gut und dieses kann heute nur global gedacht werden.
Krankheit ist ein Geschäft
Tatsächlich aber erleben wir weltweit die zunehmende Privatisierung von Gesundheit. Die Umwandlung von Gesundheitsangeboten in marktförmige Produkte mag gut für das Geschäft sein, aus gesundheitspolitischer Sicht aber hat sie in die Irre geführt. Die Leistungsfähigkeit von sozialstaatlichen Institutionen kann nicht allein mit betriebwirtschaftlichen Kennziffern erfasst werden. Hohe Bettenauslastung, Praxisbudgets und exorbitante Pharma-Renditen sagen noch nichts über den Grad des Wohlbefindens von Menschen aus. Dennoch hält die „Verbetriebswirtschaftlichung“ von Gesundheit an und sind es immer weniger die Gesundheitsbedürfnisse von Menschen, die über Versorgungsangebote entscheiden, sondern wirtschaftliche Erwägungen. Unter solchen Umständen verkommt Gesundheit zur Ware, werden aus Patientinnen Konsument innen und aus Krankheit ein Geschäft.
Problematisch ist die Kommerzialisierung von Gesundheit aber auch deshalb, weil mit ihr gerade jener Bereich von Gesundheitsfürsorge unter Druck geraten ist, der von fundamentaler Bedeutung ist: der „Public Health“-Sektor. Unbedingt gilt es immer wieder daran zu erinnern, dass auch die großen gesundheitlichen Erfolge, die in Europa erzielt werden konnten, das Ergebnis öffentlicher Gesundheitsfürsorge sind. Die Verbesserung der Trinkwasserversorgung, die Einführung einer funktionierenden Abfallbeseitigung, die Schaffung von Nahrungsmittelsicherheit, der Umweltschutz, das Angebot breitenwirksamer Impfungen, der Aufbau öffentlich kontrollierter Versicherungen – all das wäre nie zustande gekommen, wenn es allein der unternehmerischen Initiative überlassen geblieben wäre. Die immer wieder behauptete grundsätzliche Überlegenheit privater Initiativen gegenüber öffentlichen gilt nur solange Effektivität mit Effizienz verwechselt wird. Zudem sind mittlerweile die globalen Hauptrisikofaktoren für die Gesundheit der Menschen Bluthochdruck, Tabakkonsum, hoher Blutzucker, mangelhafte körperliche Bewegung und Übergewicht. Durch veränderte Konsummuster, designed in den Marketingabteilung großer Unternehmen, nehmen chronische Krankheiten dramatisch zu. Sie sind die Symptome eines Systems, in dem das Ziel der Profitmaximierung über die Bedürfnisse der Menschen gestellt wird.
Soziale Aneignung – global
Nicht ohne Grund haben Gesundheitsinitiativen in aller Welt damit begonnen, sich über die Grenzen hinweg zu vernetzen – zum Beispiel als People’s Health Movement. Während hierzulande der Widerstand gegen die Privatisierungswelle wächst, bemühen sich Menschen im Süden, das „soziale Eigentum“ von öffentlichen Gesundheitseinrichtungen aufzubauen. So unterschiedlich die Lebensumstände sein mögen, verfolgen Gesundheitsinitiativen im Süden doch das gleiche Ziel wie kritische Ärzteorganisationen, Sozialverbände und Gewerkschaften in Europa oder den USA. Sie streiten dort für die Einführung solidarisch verfasster sozialer Sicherungssysteme, um deren Erhalt es hier zu kämpfen gilt. Doch die soziale Aneignung, und das ist Erfahrung der letzten 20 Jahre, bedeutet zunächst nicht sehr viel, wenn sie nicht verstetigt und institutionalisiert wird. Und in Zeiten, in denen das Kapital global agiert und keine Grenzen mehr kennt, muss auch der Kampf um menschenwürdige Lebensbedingungen und deren Verrechtlichung global stattfinden. Einer demokratisch organisierten und transparenten Weltgesundheitsorganisation (WHO) kommt dabei eine zentrale Rolle zu.
Die globalen Netzwerke, die medico international seit Jahrzehnten unterstützt, sind nicht nur essentiell für eine emanzipatorische Nothilfe. Sie bieten auch die Grundlage für ein solidarisches Drängen auf eine andere Welt.