Ein Gastkommentar von medico-Mitarbeiter Martin Glasenapp für die Frankfurter Rundschau vom 5.Juni 2013. Er bereiste Syrien im Mai 2013.
In Syrien spielt sich eine blutige Tragödie ab. Große Teile des Landes sind zerstört und entvölkert. Die Wirtschaft liegt am Boden. Wir lesen und hören davon in den Medien. Nicht täglich, aber immer wieder dann, wenn eine besondere Scheußlichkeit passiert. Sei es, dass ein Rebell vor der Kamera einem toten Soldaten die Innereien herausschneidet und in die Gedärme beißt, oder dass wir Menschen mit zuckenden Körpern und panisch geweiteten Augen sehen, die möglicherweise Opfer eines Gasangriffs wurden. Wir verfolgen unsere Politiker, die nicht wissen, was zu tun ist. Manche wollen Waffen liefern, andere raten davon ab.
Der Konflikt wirkt unlösbar
Unterschiedliche Konflikte lassen die syrische Krise so unlösbar erscheinen. Ein demokratischer Aufstand gegen ein repressives Regime wandelt sich in eine konfessionalisierte Schlacht zwischen der sunnitischen Mehrheit und der alawitischen Minderheit. Die Auseinandersetzungen zwischen Schiiten und Sunniten haben auch einen regionalen Aspekt, in dem sich der Jahrzehnte alte Konflikt zwischen pro-iranischen Kräften und einer Negativkoalition niederschlägt, zu der die USA, Saudi-Arabien und Israel gehören. Darüber hinaus deutet sich auf geopolitischer Ebene ein neuer „Kalter Krieg“ an, der Russland, China und den Westen konfrontiert.
Zugleich ist dieser mehrschichtige Konflikt voller unerwarteter, absurd wirkender Widersprüche: etwa wenn eine größtenteils säkulare syrische Exilopposition von absolutistischen Golfmonarchien gefördert wird, die ihrerseits radikalreligiöse Sunniten sind. Saudi-Arabien ist ohne Zweifel die hässlichste Kalifat-Diktatur der arabischen Welt, zugleich Großempfänger deutscher Waffen und Verbündeter der salafistischen Rebellenverbände in Syrien. Vor diesem Hintergrund behält Außenminister Westerwelle recht, wenn er darauf besteht, dass Waffen keine Lösung für Syrien bringen, doch bleibt seine Position wohlfeil. Man kann auch um die Ecke liefern – oder andere liefern lassen.
Die friedliche Revolution wird zum Bürgerkrieg in Syrien
Durch die äußerst rücksichtslose Verfolgung der ersten Demonstrationen vor zwei Jahren hat Baschar al-Assad selbst dazu beigetragen, den bis dahin meist friedlichen Massenprotest in eben den Bürgerkriegsaufstand zu verwandeln, der Syrien nun an den blutigen Abgrund geführt hat. Der Machiavellismus der Situation liegt denn auch darin, dass der gleiche syrische Präsident durchaus Recht hat, wenn er einer diplomatischen Lösung bei der geplanten Genfer Friedenskonferenz nur wenig Chancen einräumt, da seine zahlreichen Gegner im Land und im Exil zu uneins seien, um einen politischen Ausweg verhandeln zu können. Fazit: Der Diktator ist noch längst nicht am Ende. Und die Rebellen haben noch längst nicht gewonnen.
Was also tun? Tatsächlich weiß aktuell niemand einen Ausweg. Es gibt keinen Weg zurück in die alten Zeiten der syrischen „Berechenbarkeit“, die von der internationalen Staatengemeinschaft stets höher eingeschätzt wurde als die Kosten, mit denen die syrische Bevölkerung diese Stabilität bezahlen musste.
Auf den zweiten Blick zeigt sich Hoffnung in Syrisch-Kurdistan
Nichts ist gut in Syrien? Nicht ganz. Sichtbar wird das Gute allerdings nur, wenn der Blick die „große Politik“ verlässt und die Menschen sieht, die in einzelnen Regionen Syriens bereits begonnen haben, ihre Zukunft neu zu gestalten. Auch wenn die Diktatur noch lange Zeit handlungsfähig bleiben wird, hat das Regime große Gebiete des Landes militärisch aufgeben müssen. So den ländlichen Raum nördlich von Aleppo oder die kurdischen Gebiete in der nordwestlichen Provinz Hasaka an der türkischen Grenze. Hier ist heute schon erfahrbar, was Freiheit bedeuten kann. Es erwacht ein neues Land. Etwa wenn kurdische Schüler erstmals in ihrer Muttersprache unterrichtet werden. Oder wenn Frauengruppen auf mehr Mitsprache im öffentlichen Leben drängen und zugleich unzählige Flüchtlingsfamilien versorgen.
Dabei fehlt es an allem. Die vormals subventionierten Lebensmittelpreise sind explodiert, Benzin und Kochgas kosten horrende Summen. Weil die elektrischen Pumpen ausfallen, herrscht chronischer Wassermangel. Medikamente fehlen oder werden zum unbezahlbaren Luxusgut. Doch dem Mangel zum Trotz beginnt mancherorts in Syrien etwas völlig Neues: Eigenverantwortlichkeit für ein öffentliches Gemeinwesen. Aus Untertanen werden Citoyens, Bürger. Was früher als „Geschenk“ des Präsidenten verteilt wurde, wird heute zum kostbaren öffentlichen Gut, auf das alle das gleiche Recht haben.
Syrien braucht demokratischen Beistand
Bedroht sind diese neuen Welten demokratischer Selbstbestimmung nicht allein durch die allgegenwärtigen Luftangriffe des Regimes oder die zunehmende Präsenz radikal-islamischer Milizen. Bedroht sind sie auch von der Ignoranz westlicher Politiker, die mit „größter Sorge“ nach Syrien blicken – und es dabei bewenden lassen. Bislang hat kein deutscher Parlamentarier die befreiten Regionen besucht. Den autonomen Gemeinderäten, die hunderttausende von Inlandsflüchtlingen versorgen, wird keine substanzielle Hilfe zuteil.
Syrien kann geholfen werden – besonders dann, wenn die „große Politik“ hilflos erscheint. Reist man durch dieses erwachende Land, fragen einen die Menschen immer wieder, warum Europa sie einem offensichtlich mörderischen Regime ausliefert. Sie brauchen nicht Waffenlieferungen oder „Flugverbotszonen“, sondern demokratischen Beistand: einen Besuch vor Ort als Akt politischen Respekts, Hilfe bei der Wiederherstellung eines lebbaren Alltags. Hier liegt die Heuchelei, hier liegt die Lüge all jener Politiker, die uns allabendlich erklären, dass die Rechte der Menschen für sie das höchste Gut seien.