Lara Emrich war schön. Schön in der überheblichen Intelligenz ihres Blicks. »Viele Menschen wurden von Dypraxa getötet.« »Ralph ist Anwalt«, sagte Amy. Diese Gruppe von Akademikern hat sich wie ein Haufen Pferdeärsche benommen. »Unterdrücken die Redefreiheit, stellen sich zwischen den Arzt und den Patienten. Es ist Zeit, daß gebildete Männer und Frauen an der Reihe sind, sich für die Wahrheit auszusprechen. »Karel Vita ist der Flötenspieler, Dawes tanzt nach deren Pfeife. Sie geben 25 Millionen Dollar als Anfangskapital für ein neues Biotechnik-Gebäude und 50 weitere sind versprochen. Das sind keine Peanuts. Und wenn alle ihre Nase sauber halten, kommt noch viel, viel mehr. Wie zum Teufel hält man einem solchen Druck stand?« Redefreiheit wird ganz schön teuer in dieser Stadt, Mr. Ralph, teurer als es sich die meisten von uns leisten können. »In dieser Stadt sind alle gleich, Ralph, wenn es um Redefreiheit geht. Alles ist fein und prima, so lange, wie es einer russischen Hündin nicht in den Sinn kommt, unbesonnene Artikel in der medizinischen Presse zu veröffentlichen, die eine schlaue kleine Pille schlecht macht, die sie erfunden hat und die der Firma von Karel Vita, die Allah erhalten möge, einige Milliarden im Jahr wert ist. Sie werden erneut daran erinnert, daß es Ihnen gemäß der Vertraulichkeitsklausel in Ihrem Vertrag ausdrücklich untersagt ist, Ihren Patienten diese falsche Information mitzuteilen. Sie werden ausdrücklich vor einer jeden weiteren verbalen oder anderweitigen Verbreitung dieser unrichtigen und bösartigen Ansichten gewarnt, die auf der falschen Auslegung von Informationen basieren, die Sie in der Zeit erhalten haben, als Sie für die Herren Karel Vita Hudson arbeiteten. Darauf folgte der herrlich arrogante Trugschluß, daß »unsere Klienten es absolut abstreiten, sie hätten zu irgendeiner Zeit auf irgendeine Art und Weise den Versuch unternommen, legitime wissenschaftliche Erörterungen zu unterdrücken oder zu beeinflussen«. »Aber warum haben Sie den niederträchtigen Vertrag überhaupt erst unterschrieben?«, unterbricht Ralph schroff. Durch seinen Groll belustigt, lacht sie freudlos. »Weil ich ihnen vertraut habe. Ich war ein Narr.«
Sie erzählt ihm, daß die ersten Jahre, nachdem Karel Vita durch die Vermittlung von Markus Lorbeer die Emrich-Kovacs Moleküle erwarb, goldene Jahre waren. Die ursprünglichen kurzfristigen Tests waren ausgezeichnet, die Statistiken machten sie noch besser, die Emrich-Kovacs-Partnerschaft war in der wissenschaftlichen Gemeinschaft in aller Munde. KVH sorgte für engagierte Forschungslabors, ein Team von Technikern, klinische Versuche in der ganzen Dritten Welt, erstklassige Reisen, bezaubernde Hotels, Achtung und Geld wie Heu. Für die leichtfertige Kovacs war ihr Traum in Erfüllung gegangen. Sie wird Rolls-Royce fahren, sie wird den Nobelpreis bekommen, sie wird berühmt und reich, sie wird viele, viele Liebhaber haben. Und für die seriöse Lara werden die klinischen Versuche wissenschaftlich sein, sie werden verantwortlich sein. Sie werden das Medikament in einer weiten Spanne von ethnischen und sozialen Gemeinschaften testen, die anfällig für die Krankheit sind. »Nach zwei Jahren machte ich eine verhängnisvolle Entdeckung. Die KVH Versuche waren Quatsch mit Soße. Sie wurden nicht auf wissenschaftlicher Grundlage aufgezeichnet. Sie waren nur dazu bestimmt, das Medikament so schnell wie möglich auf den Markt zu bringen. Nebenwirkungen wurden vorsätzlich ausgeschlossen. Falls Nebenwirkungen ausfindig gemacht wurden, wurde der Versuch sofort neu aufgezeichnet, damit sie nicht wieder erschienen.« »Worin bestanden die Nebenwirkungen?« Wieder ihre Vorlesungsstimme, sarkastisch und arrogant. »Zur Zeit der unwissenschaftlichen Versuche wurden nur wenige Nebenwirkungen beobachtet. Dies war auch zurückzuführen auf die übermäßige Begeisterung von Kovacs und Lorbeer und die Entschlossenheit der klinischen und medizinischen Zentren in den Ländern der Dritten Welt, die Versuche gut aussehen zu lassen. In wichtigen medizinischen Zeitschriften berichteten auch ausgezeichnete Meinungsmacher günstig über die Versuche, gaben aber nicht ihre gewinnbringenden Verbindungen zu KVH bekannt. In Wirklichkeit wurden solche Artikel in Vancouver & Basel geschrieben und nur von den ausgezeichneten Meinungsmachern unterschrieben. Es wurde vermerkt, daß sich das Medikament für einen geringfügigen Anteil an Frauen im gebärfähigen Alter nicht eignete. Es gab einige Sterbefälle, aber eine Manipulation der Daten gewährleistete, daß sie nicht in den Prüfungszeitraum aufgenommen wurden.« »Hat sich niemand beschwert?« Die Frage ärgert sie. »Wer soll sich beschweren? Die Ärzte und medizinischen Kräfte in der Dritten Welt, die Geld mit den Versuchen machen? Der Vertreiber, der Geld mit der Vermarktung des Medikaments macht und nicht die Gewinne aus der ganzen Spanne der KVH Medikamente verlieren möchte – um vielleicht sogar das ganze Geschäft zu verlieren?« »Was ist mit den Patienten?« Ihre Meinung von ihm hat den Tiefpunkt erreicht. »Die meisten der Patienten leben in undemokratischen Ländern mit sehr korrupten Systemen. Theoretisch waren sie in Kenntnis gesetzt und haben ihre Zustimmung zur Behandlung gegeben. Das heißt, ihre Unterschriften befinden sich auf dem Zustimmungsformular, auch wenn sie das nicht lesen können, was sie unterschrieben haben. Von Gesetzes wegen dürfen sie nicht bezahlt werden, aber sie werden großzügig für ihre Reise und ihren Verdienstausfall entschädigt und bekommen kostenlose Nahrungsmittel, was ihnen sehr gefällt. Sie haben aber auch Angst.« »Vor den Pharmazeuten?« »Vor allen. Wenn sie sich beschweren, wird ihnen gedroht. Man sagt ihnen, ihre Kinder würden keine Medikamente mehr aus Amerika erhalten und ihre Männer müßten ins Gefängnis.« »Aber Sie haben sich doch beschwert.« »Nein. Ich habe mich nicht beschwert. Ich habe protestiert. Energisch. Als ich herausfand, daß Dypraxa als sicheres Medikament und nicht als Medikament in der Versuchsphase angepriesen wurde, habe ich eine Vorlesung bei einem wissenschaftlichen Treffen der Universität gegeben, bei der ich genau die unsittliche Position von KVH beschrieben habe. Das war nicht üblich. Dypraxa ist ein gutes Medikament. Das ist nicht das Problem. Das Problem besteht aus drei Punkten.« Sie hat schon drei schlanke Finger erhoben. Problem Nummer eins: im Interesse des Profits werden die Nebenwirkungen vorsätzlich verschwiegen. Problem Nummer zwei: die ärmsten Gemeinschaften der Welt werden von den reichsten der Welt als Meerschweinchen benutzt. Problem Nummer drei: legitime Erörterungen auf wissenschaftlicher Grundlage werden durch kollektive Einschüchterung erstickt.« Ihre Finger sind wieder unten, während sie mit der anderen Hand in ihrer Tasche gräbt und ein glänzendes blaues Blatt mit der Schlagzeile GUTE NACHRICHTEN VON KVH herausholt. DYPRAXA ist ein hoch effizientes, sicheres, wirtschaftliches Ersatzmittel für die bisher akzeptierten Behandlungen der Tuberkulose. Es hat sich als außergewöhnlichen Vorteil für aufkommende Nationen bewährt. So wie auf aller Welt konnte KVH Sie in Dawes-University einsetzen?« »Weil ich ein Narr war«, wiederholt Lara stolz. KVH war sehr höflich, sehr charmant, sehr verständnisvoll, sehr clever. Ich war in Basel, als zwei junge Männer aus Vancouver kamen, um mich zu treffen. Ich fühlte mich geschmeichelt. Genau wie Sie haben auch sie mir Rosen geschickt. Ich sagte ihnen, dass die Versuche Scheiße seien. Sie stimmten mir zu. Ich sagte ihnen, sie sollten Dypraxa nicht als sicheres Medikament verkaufen. Sie stimmten mir zu. Ich sagte ihnen, daß viele Nebenwirkungen nicht ordentlich bestimmt worden seien. Sie bewunderten mich wegen meinem Mut. »Kommen Sie zum Essen, Lara. Dann besprechen wir alles.« Dann sagten sie mir, sie würden mich gern nach Dawes bringen, um meinen eigenen Versuch von Dypraxa anzulegen. Sie akzeptierten, daß wir nicht genug korrekte Tests durchgeführt hatten. Nun, in Dawes würden wir sie machen. Es war mein Medikament. Dawes ist für solche Versuche ideal gelegen. Wir haben eingeborene Indianer aus den Reservaten, die anfällig sind für die alte Tuberkulose. Wir haben multi-resistente Fälle aus der Hippie-Gemeinschaft in Vancouver. Für Dypraxa ist das eine perfekte Kombination. Auf der Grundlage dieser Vereinbarung habe ich den Vertrag unterschrieben und die Vertraulichkeitsklausel akzeptiert. Ich war ein Narr«, wiederholte sie. »Und KVH hat Büros in Vancouver.« »Große Büros. Nach Basel und Seattle ihre drittgrößte Einrichtung in der Welt. So hatten sie mich unter Aufsicht. Das war das Ziel. Mir einen Maulkorb zu verpassen und mich zu kontrollieren. Ich unterschrieb den dummen Vertrag und machte mich guten Mutes an die Arbeit. Letztes Jahr habe ich meine Studie abgeschlossen. Sie war außerordentlich negativ. Ich hielt es für notwendig, meine Patienten über meine Ansicht in Bezug auf die möglichen Nebenwirkungen von Dypraxa zu informieren. Als Arzt habe ich die verdammte Pflicht. Ich habe auch beschlossen, daß die weltweite medizinische Gemeinschaft durch Veröffentlichung in einer wichtigen Zeitschrift informiert werden müßte. Solche Zeitschriften drucken nicht gerne negative Ansichten. Ich wußte auch, daß diese Zeitschrift drei ausgezeichnete Wissenschaftler dazu einladen würde, meine Erkenntnisse zu kommentieren. Was die Zeitschrift nicht wußte, war, daß die ausgezeichneten Wissenschaftler gerade lukrative Verträge mit KVH Seattle abgeschlossen hatten, um biotechnische Heilverfahren für andere Krankheiten zu erforschen. Sie unterrichteten Seattle umgehend über meine Absichten, die wiederum Basel und Vancouver informierten.« Sie gibt ihm ein gefaltetes weißes Blatt Papier. Er öffnet es und ihm läuft ein kalter Schauer über den Rücken:
KOMMUNISTENHURE. NIMM DEINE VON SCHEISSE BEDECKTEN HÄNDE VON UNSERER UNIVERSITÄT. GEH ZURÜCK IN DEINEN BOLSCHEWISTISCHEN SCHWEINESTALL. HÖR AUF, DAS LEBEN VON ANSTÄNDIGEN LEUTEN MIT DEINEN KORRUPTEN THEORIEN ZU VERSEUCHEN.
Deutscher Erstabdruck aus dem neuen Werk von John Le Carré: »The Constant Gardener«.