Die Zeiten ändern sich; die Geschichte ist keineswegs zu Ende. Angesichts des bestürzenden Zustandes, in dem sich die Welt befindet, macht sich Unbehagen breit und beginnt die Vorherrschaft des Neoliberalismus zu bröckeln. Die gerade noch gefeierten neuen Märkte fallen in sich zusammen, Technologiebörsen werden still zurückgezogen, Unternehmen gefälschter Bilanzen überführt. Seitdem sich obendrein Armut und Gewalt auch in den Ländern des Nordens auszubreiten beginnen und die Zonen der Staats- und Rechtlosigkeit nicht mehr nur auf den Süden konzentriert sind, nimmt es nicht wunder, daß der Gedanke an eine Neuauflage des »new deal« aufgekommen. Der global entfesselten Kapitalismus, den so mancher Politiker vor Jahren noch insgeheim als »Casinokapitalimus« bewundert hat, gilt mit einem Mal als gefährlicher »Raubtierkapitalismus«, der nun rasch wieder sozialpolitisch einzufangen ist, um die Gefahr größerer gesellschaftlicher Konflikte zu entschärfen.
Von einer Politik, die sich ernsthaft um die globale Gestaltung menschenwürdiger Verhältnisse kümmerte, aber kann vorerst nicht die Rede sein. Ein »Weltstaat«, der zu einer »Weltinnenpolitik« fähig wäre, hat sich – im Gegensatz zu den Tendenzen einer wirtschaftlichen Globalisierung – nicht herausgebildet, und selbst jene Regierungen, die ihre Politik mit der Aura der »global governance« umgeben, können nicht kaschieren, dass es meist nur zum Management eines prekären Krisengeschehens reicht. Nicht gesellschaftliche Alternativen bestimmen die politische Debatte, sondern die Verwaltung und Legitimierung des herrschenden Status quo, der nur eine Veränderung duldet: die eines Wachstums »auf Teufel komm raus«. Um den Anschluss an die global herrschende Konkurrenz nicht zu verlieren, scheint kein technologisches Risiko zu groß und gilt der Sozialabbau noch immer als unumstößlicher »Sachzwang«. Statt die Entfaltung des Sozialen zu befördern, ist staatliche Politik fast überall zur Anpassung des Sozialen an ökonomische und geostrategische Vorgaben verkümmert. Ungeachtet all der Jahre der »neoliberalen Wehrertüchtigung«, die einige wenige reich und viele andere arm werden ließ, sollen nun nochmals massive Opfer erbracht werden. Ohne weitere Einschnitte in den Wohlfahrtsstaat, so heißt es in den Partei- und Regierungsprogrammen rund um den Globus, könne keine der großen Zukunftsaufgaben gemeistert werden. So notwendig deren Lösung ist, so bemerkenswert ist die vollkommene Unklarheit, für wen und unter welchen Voraussetzungen denn nun Opfer zu erbringen wären. – Geht es um einen radikalen Politikwechsels, der auf alternative Formen der Gesellschaftsbildung setzt und dabei den herkömmlichen Wohlfahrtsstaats tatsächlich auch als trügerischen »Gesellschaftsersatz« zu kritisieren hätte? Oder geht es erneut nur um den Fortbestand eines Wirtschaftssystems, das die Welt in regelmäßigen Abständen ins Unglück stürzt und dann ausgerechnet von denen gerettet werden soll, die auch schon zuvor zu den Verlierern gezählt haben?
Ohne Frage: die Wiederbelebung von Politik als Gestaltung menschenwürdiger Lebensverhältnisse ist überfällig. Mit der bloßen, unter Politikern beliebten Anrufung von Verantwortungsethik ist es freilich nicht getan. Gesellschaftliche Verantwortung muss sich auch spürbar umsetzen. Solange die herrschende politische Klasse aber für eine Politik des sozialen Ausgleichs weder die Bereitschaft noch die Konzepte erkennen lässt, bleibt es bei einer Politik, die sich zwischen Sachzwängen und Wählerauftrag durchzumogeln versucht. – Höchste Zeit, die »Notbremse« zu ziehen und den Gang der Dinge für Momente der gemeinsamen Reflexion zu unterbrechen. Denn ohne die demokratische Neubestimmung der Grundlagen und Ziele von sozialer Entwicklung werden alle Gestaltungsbemühungen, auch die ernst gemeinten, entweder mißlingen oder sich schon bald als Lösungen erweisen, die nur autoritär durchgesetzt werden können.
Frühe Formen globaler Institutionalisierung
Dabei müßte bei solchen Überlegungen nicht einmal alles neu gedacht werden. Interessante und lehrreiche Formen von globaler Institutionalisierung existieren seit über 100 Jahren. Darunter beispielsweise der Weltpostverein, der 1875 gegründet wurde und den Postverkehr von 168 Mitgliedsstaaten zu einem einzigen globalen Postbezirk vereinte. Die Idee war einfach: alle Menschen, selbst noch jene, die im entferntesten Winkel der Erde zu Hause sind, sollten von einem internationalen Kommunikationsnetz profitieren können. Vereinbart wurde Transportfreiheit und ein System von Ausgleichzahlungen, das die Beförderung von Briefen und Paketen auch durch das Gebiet mehrerer Mitgliedsstaaten ermöglichte. Angesichts der neuen Technologien mag das Briefwesen aus der Mode gekommen sein; die beiden zentralen Prinzipien, die den Weltpostverein geleitet haben, aber sind es nicht. Exemplarisch bleibt, daß die angebotenen Leistungen prinzipiell allen zugänglich gewesen sind und nicht – wie beim Email – von räumlichen Privilegien oder dem Besitz kostspieliger Apparaturen abhängen. Exemplarisch auch der globale Finanzausgleich, der all die Jahre auch ohne moderne Informationstechnologie funktionierte. – Die technischen und administrativen Voraussetzungen für einen solchen globalen Finanzausgleich sind heute deutlich verbessert. Auch der gesellschaftliche Reichtum der Welt hat zugenommen. – Wieso sollte es also nicht endlich auch gelingen, allen Menschen zum Beispiel den Zugang zu einer elementaren Gesundheitsversorgung zu ermöglichen?
Gegenmacht und Gegenexpertise
Die Unfähigkeit der Staaten für menschenwürdige Lebensverhältnisse zu sorgen und der damit einhergehende Legitimationsschwund haben mit Bürgerinitiativen, Selbsthilfegruppen, neuen sozialen Bewegungen und Nichtregierungsorganisationen (NGOs) eine Vielzahl neuer politischer Akteure auf den Plan gerufen hat, die nun auf eine soziale Gestaltung von Weltpolitik drängen. Mit dem Ziel einer »Globalisierung von unten« treffen sich inzwischen alljährlich Tausende solcher Initiativen und NGOs zum »Weltsozialforum« im brasilianischen Porto Alegre. Viele der neuen Akteure haben sich längst untereinander vernetzt und nutzen den Erfahrungsaustausch zur Entwicklung alternativer und emanzipatorischer Lebens- und Gesellschaftsentwürfe, in denen eine Art »Gegenexpertise« zum Ausdruck kommt, die sich nicht mehr auf die technokratische »Sachzwanglogik« einlassen will.
Die Stärke internationaler NGO-Netzwerke resultiert aber auch aus den Demokratiedefiziten, die gerade im globalen Kontext existieren. In die Lücke fehlender Steuerungs- und Repräsentationsformen ist beispielsweise die von medico 1991 gegründete »Internationale Kampagne zum Verbot von Landminen« vorgedrungen. Konsequent hat sie alle sich bietenden öffentlichen und institutionellen Spielräume genutzt, um die völkerrechtliche Ächtung von Minen durchzusetzen. Erstmals in der Geschichte gelang es, den Militärs ein Waffenverbot aufgrund öffentlichen Drucks abzuringen. Das Beispiel lehrt, daß internationale NGO-Netzwerke, so sie auf Unabhängigkeit bedacht bleiben, Teil einer außerinstitutionelle »Gegenmacht« sein können, ohne die demokratisch legitimierte Veränderung nicht möglich ist.
medico als Teil internationaler Netzwerke
Die Mitarbeit in Netzwerken, bei der die Projekthilfe mit der Öffentlichkeitsarbeit auf produktive Weise verschmelzen, hat auch für medico in den letzten 15 Jahren an Bedeutung gewonnen.
- Beispiel: Um zu vermeiden, daß viele, auch unserer Hilfsbemühungen immer wieder durch Kriegseinwirkungen zunichte gemacht werden, haben wir uns beispielsweise für die offizielle Sanktionierung eines kriegsfinanzierenden Handels mit »Blut-Diamanten« und anderen Rohstoffen engagiert.
- Oder: Da die Rehabilitation und Entschädigung von Kriegsopfern nie alleine die Sache der Opfer selbst sein kann, führte auch das Bemühen um geeignete Konzepte zur psychosozialen Betreuung von Kriegsopfern, mit der ein weltweit tätiges Netz von medico-Partnern beschäftigt ist, zur Auseinandersetzung mit staatlichen Geldgebern.
- Schließlich: Zusammen mit Partnern und Gesundheitsgruppen in aller Welt haben wir uns für die nächsten Jahre vorgenommen, über Möglichkeiten selbstbestimmter sozialer Sicherungssysteme nachzudenken.
Der Weg, der aus dem herrschenden Elend herausführt, bedeutet nicht die umstandslose Wiederherstellung des fordistischen Wohlfahrtsmodells, wohl aber die Rettung der gesellschaftlichen Verantwortung für jedem einzelnen. Nicht die Rekonstruktion des Staates steht auf der Tagesordnung, sondern die Rekonstruktion des Sozialen, bei der es allerdings auch um die Verteidigung einzelner sozialstaatliche Errungenschaften gehen muß, darunter nicht zuletzt die Systeme der sozialen Sicherung. Das Streben nach sozialer Wärme mag vielleicht aus neoliberaler Sicht einen überzogenen Anspruch darstellen, aus menschlicher ist es das nicht. Soziale Sicherung bleibt das Vermögen der kleinen Leute, das es mit allen Mittel zu verteidigen, zu fördern und auszubauen gilt.
In Zeiten, die von Gewalt und Armut geprägt sind, muß die Frage von Sicherheit zuallererst aus der Perspektive der ökonomisch Ausgegrenzten betrachtet werden. Wer den schwelenden Weltbürgerkrieg aufhalten will, darf nicht die Hungeraufstände und Armutsrevolten bekämpfen, sondern muß für die Abschaffung der Armut selbst sorgen.
Allein über die Respektierung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte der Menschen wird es gelingen, die Welt wieder friedlicher zu gestalten. Nur die Überwindung der Spaltungen, die in der Welt herrschen, schafft auf Dauer Sicherheit und demokratisches Miteinander.
Thomas Gebauer
medico international Schweiz
Die internationale Vernetzung unserer Arbeit kommt – auf nominell sichtbare Weise – auch in der Namensänderung unserer langjährigen Schweizer Partnerorganisation »Centrale Sanitaire Suisse« zum Ausdruck. Die Züricher CSS, während des Spanischen Bürgerkrieges gegründet und seit gemeinsamen Hilfen für die Befreiungsbewegungen in Mittelamerika ein kompetenter und verläßlicher Partner, wird sich ab sofort »medico international, schweiz« nennen. Wir freuen uns darauf, die Kooperation mit der CSS nun unter gleichen Namen fortzusetzen und vielleicht sogar noch zu intensivieren.
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