von Dr. Ruchama Marton
Im Zusammenhang mit dem Nachdenken über die Möglichkeiten von Hilfe möchte ich Ihnen die Arbeitsbedingungen der Physicians of Human Rights-Israel vorstellen. Eine israelische NRO, die beides ist: eine Menschenrechtsorganisation und eine Organisation sozialer Solidarität, deren Arbeit auf professioneller medizinischer Zusammenarbeit basiert.
Die wichtigste Erfahrung, die die Physicians for Human Rights – Israel machen, ist die der Einsamkeit, sowohl zu Hause, als auch im Ausland. Das soll nicht heißen, dass wir keine Unterstützung von unseren Kollegen im Ausland bekommen, sondern betont vielmehr, dass diese Form der Einsamkeit etwas selbst Gewähltes ist. Als Teil einer Gesellschaft von Tätern haben wir kaum Alternativen. Unserem Verständnis nach darf PHR-Israel niemals nur die Rolle eines Beobachters einnehmen, der die Wunden notdürftig flickt und die Zerstörungen des Konflikts zur Kenntnis nimmt. Als Ärzte müssen wir Verantwortung für die Heilung von Kranken und Verletzten übernehmen. Als israelische Organisation jedoch kennen wir den israelischen Besatzungsapparat und sehen seine Folgen als sozialen und historischen Prozess. Als Menschenrechtsaktivisten ist es unsere Pflicht, dieses Wissen zu nutzen.
Die Besatzung – ein medizinisches Verbrechen
Ein Beispiel: Im Bericht des UNO-Sonderbotschafters für die besetzten Gebiete, dem Bertini-Bericht, lautet eine der Forderungen an das israelische Militär sicherzustellen, dass palästinensische Rettungswagen an Kontrollpunkten nicht mehr als 30 Minuten festgehalten werden. Das Internationale Komitee vom Roten Kreuzes forderte, dass dies keinesfalls länger als 15 Minuten dauern sollte. Wir können keine dieser beiden Forderungen akzeptieren: Eine 15-minütige Verzögerung an jeweils einem Kontrollpunkt, führt zu einer mehrstündigen Fahrt, da es verschiedene Kontrollpunkte gibt und so der Weg von oder zu einer medizinischen Behandlung zu einem Albtraum wird oder, mit anderen Worten, zu einem medizinischen Verbrechen. Deshalb kann es uns nicht genügen, Daten über Geburten an Kontrollpunkten zu sammeln oder zu fordern, dass Soldaten vor Gericht gestellt werden. Wir werden darauf bestehen, den Prozess aufzudecken, durch welchen die Besatzung solche Auswüchse zeitigt. Früher war es eine allgemein akzeptierte menschliche Norm, dass einer Frau mit Wehen freies Geleit in die Klinik gewährt wurde. Mit dem Golfkrieg 1991 hat die Gestalt der Besatzung die Sichtweise der Israelis so sehr verändert, dass bei Verhängung einer Ausgangssperre die Soldaten selbst bei Frauen mit Wehen keine Ausnahme mehr machen. Als Frauen und Babys durch diese Praxis ums Leben kamen, mussten schriftliche Vereinbarungen getroffen werden, um die Soldaten zu einer menschlichen Selbstverständlichkeit zu verpflichten: nämlich Frauen mit Wehen passieren zu lassen. Man kann sicherlich sagen, dass wir schon in dem Moment, da wir solche schriftliche Vereinbarung benötigten (d.h. Mitte der 90 er Jahre), das Spiel verloren hatten.
Die »ärztliche Zeit«
Wenn wirklich etwas verändert werden soll, dann ist die Existenz einer Gruppe, die ein radikales politisches Engagement an den Tag legt, demonstriert und auch interveniert, von entscheidender Bedeutung. Ein Beispiel: Dr. Hassan Barghuti, Literaturdozent an der Al-Quds Universität in Jerusalem, litt an Krebs in fortgeschrittenem Stadium. Auf Anordnung seines Arztes am Sheikh Zayyed Hospital in Ramallah schickte ein Krankenhaus in Jordanien Medikamente. Ein spezieller Bote des jordanischen Krankenhauses kam mit den Medikamenten zum Grenzübergang Allenby Crossing, jedoch wurde ihm der Übergang nach Ramallah verwehrt. Er liess die Medikamente auf der israelischen Seite des Grenzübergangs zurück. Die Palestinian Medical Relief Society (PMRS) kontaktierte PHR-Israel und bat uns dabei zu helfen, dass die Medizin für diesen Patienten freigegeben werde. Zunächst forderte die israelische Zivilverwaltung, dass wir ein Fahrzeug organisieren und damit die Medikamente am Grenzübergang abholen sollten. PHR-Israel bestand darauf, dass es keinen Sinn mache, ein Fahrzeug zu schicken, solange es keine Genehmigung zur Freigabe der Medikamente gebe. Dann fragte die Zivilverwaltung, ob die Medikamente für einen oder für mehrere Patienten bestimmt seien, ob sie gespendet oder gekauft worden wären, ob sie in einer Schachtel oder in einer Flasche abgepackt seien, welche Aufschrift sie trügen, wer sie geschickt hätte usw.. Im folgenden forderten die Zivilbehörden medizinische Dokumente, die nachweisen sollten, dass diese speziellen Medikamente tatsächlich von Dr. Barghuti angefordert worden waren, zudem wollten sie auch den präzisen Namen des Medikamentes wissen. Während wir versuchten all diese Details zusammenzutragen – obwohl wir das als absurd empfanden – informierten uns die Behörden darüber, dass diejenigen, die von Ramallah kommen sollten, um die Medizin zu holen, dies in einem palästinensischen Fahrzeug tun müssten. In Jericho sollten sie einen Bus nehmen, der sie zur Station Allenby bringen sollte. Ihre Forderungen ergaben keinen Sinn und es gab immer noch keine Genehmigung für die Übergabe der Medikamente. Unsere Kontaktaufnahme zur Medizinischen Koordinatorin der Zivilverwaltung, Frau Dalia Bessa, war ebenfalls ergebnislos, da auch sie medizinische Dokumente forderte, bevor sie der Übergabe der Flasche – oder Schachtel- zustimmen würde. Zwei Tage später telefonierten wir mit unseren Kollegen bei der PMRS, um sie auf den neuesten Stand der Dinge zu bringen, und mussten dabei erfahren, dass Dr. Barghuti inzwischen gestorben war. Zur gleichen Zeit erreichte uns ein Anruf der Zivilverwaltung 24 mit der Aufforderung, ein weiteres medizinisches Dokument zu besorgen, um damit die Überführung des Medikaments erlauben zu können. Wir setzten sie davon in Kenntnis, dass die Koordination nicht länger erforderlich war. Kann es sein, dass bei dieser Art des Umgangs nicht die Sicherheitsinteressen Israels eine entscheidende Rolle spielen, sondern die Gewohnheit, über Leben und Tod von Palästinensern zu entscheiden?
Radikale Solidarität
Wie berichtet man über derartige Menschenrechtsverletzungen ? Wie übersetzen wir so etwas in eine verständliche Sprache im Sinne des medizinischen Notfalls (»ärztliche Zeit«) und wie können wir die Fesseln, die uns auf jeder Ebene von der Bürokratie der Besatzung auferlegt wurden, aufdecken ? Wertvolle Sekunden für das Leben verwandeln sich in Stunden für Wortgefechte. Wie können wir diese Sekunden wieder für das Leben nutzen ? Wie können wir in einem System arbeiten, das von Bürokratie beherrscht wird, wohingegen es von ärztlicher Seite aus darum geht, keine Zeit zu verlieren ? Bei unserer medizinischen Arbeit – wir behandeln Personen in unserer mobilen Klinik in der West Bank – und diese kann fälschlicherweise als humanitär betrachtet werden – bestehen wir auf einer radikalen Methode: Wir, als medizinisches Personal, lehnen es ab, bei der Armee die Erlaubnis einzuholen, in die West Bank fahren zu dürfen. Wir lehnen deren bewaffnete Eskorte »zu unserer Sicherheit« ab. Damit und auch mit der Fahrt in ein verbotenes, abgetrenntes Gebiet selbst, protestieren wir gegen Abriegelung und Ausgangssperre und für Bewegungsfreiheit. Die medizinische Hilfe sehen wir als wichtigen Teil des Protests und als Beweis konkreter Solidarität an. Letzere wird durch Erstere erst ermöglicht. Da wir eine israelische Organisation sind, lehnen wir es ab, die Krise in den besetzen Gebieten als vorübergehend und losgelöst von ihrem Kontext zu betrachten. Anders als Israel, das die Vorgeschichte der derzeitigen Situation an einem Zeitpunkt beginnen läßt, der ihm genehm ist (z.B. September 2000, der Zusammenbruch der Camp- David-Gespräche), wissen wir um den historischen Prozess der Besatzung und die mit ihm verbundenen Neuordnungen. Wir können die humanitäre Krise in den besetzten Gebieten nicht als unabhängige, plötzlich auftretende Naturkatastrophe betrachten. Diese Krise hat das palästinensische Volk in die Situation gebracht, sich mehr und mehr auf die Wohltätigkeit ausländischer Hilfe verlassen zu müssen. Major General Amos Gil’ad, der Regierungsbeauftragte in den besetzten Gebieten, betonte mehrmals, dass die israelische Politik in den besetzen Gebieten erst durch die Tatsache ermöglicht wird, dass Israel es der internationalen Gemeinschaft erlaubt, die humanitären Bedürfnisse der Palästinenser zu befriedigen. Israel könnte diese Hilfeleistungen nicht alleine aufrecht erhalten, da die wirtschaftliche Bürde zu groß wäre: 12 Billionen Shekel pro Jahr (Haáretz, 5. Juli 2002). Die breite Finanzierung der palästinensischen zivilen Strukturen durch internationale Entwicklungs- und Hilfsagenturen finanziert und stützt die israelische Besatzungspolitik. Langfristig wird hierdurch das palästinensische Wirtschaftssystem unterminiert und verhindert, dass dieses sich jemals wieder erholen wird können. Gleichzeitig wird dadurch Israel die Verantwortung für die Besatzung von den Schultern genommen. Die kompromißlose Forderung, humanitäre Hilfe nur unter der Voraussetzung eines Rückzugs aus den besetzten Gebieten zu gewähren ist nicht weniger politisch, als diese Hilfe zu gewährleisten, ohne dass zur gleichen Zeit einer derartigen Forderung nachgekommen würden. Wir sind nicht vollkommen alleine gelassen. Aber Einsamkeit ist sowohl eine Wahl die man trifft, als auch ein Geisteszustand. Und sie ist ebenso die Stärke, die die eigene, persönliche Rolle im Kampf um Gerechtigkeit zu erkennen und auszufüllen hilft.
Dr. Ruchama Marton ist Psychiaterin, Feministin, Menschenrechtsaktivistin. Sie ist Gründerin und Präsidentin von Physicians for Human Rights-Israel (Tel Aviv), eine Organisation bestehend aus israelischen und palästinensischen Ärzten, aktiv seit 1988. Dr. Ruchama Marton erhielt zahlreiche Friedens- und Menschenrechtsauszeichnungen, unter anderem den Emil Grunzweig Award for Human Rights, überreicht von der Association for Civil Rights, Israel, und erst kürzlich den Jonathan Mann Award for Global Health and Human Rights, 2002.
Übersetzung: Eva Lautenschlager / Esther Kleefeldt / Andreas van Baaijen