Es ist der Beginn einer neuen Ära, denn Thomas Gebauer stand mehr als 20 Jahren an der Spitze der Frankfurter Hilfs- und Menschenrechtsorganisation. Sein Nachfolger, Christian Weis, war die letzten fast zehn Jahre in unterschiedlichen Rollen in der IG-Metall-Zentrale in Frankfurt zuständig für europäische und transnationale Gewerkschaftspolitik, zuletzt als Ressortleiter Globalisierungspolitik.
Dem 5ojährigen Weis ist eine Geschäftsführung bei medico nicht in die Wiege gelegt worden. Nach dem Abitur in München machte er eine Lehre zum Kupferschmied in Hamburg. Heute ein fast ausgestorbener Beruf, wie er sagt. Damals habe ihn das gereizt, weil der Kupferschmied keine Fließbandarbeit machte, sondern Einzelanfertigungen von Anlagen für Industriebetriebe herstellte. Seine Idee war, irgendwann in die Entwicklungshilfe zu gehen. Hier dann doch eine erste Schnittstelle zu medico.
Kupferschmied und Geograf
Während seiner Lehre trat er nicht nur der Gewerkschaft bei – er war das einzige bekennende Gewerkschaftsmitglied in seinem Betrieb –, sondern lernte auch Geografie-Studierende in der Kantine der Berufsschule kennen. Ein halbes Jahr nach Ende seiner Lehre begann er eben dieses Studium an der Ruhr-Universität in Bochum. Seine Diplomarbeit beschäftigte sich mit der regionalen Entwicklung im südlichen Afrika am Beispiel von Wirtschaftsintegration und Transportwegestrategien.
Bei der Beschäftigung mit diesem Thema sei ihm aufgefallen, wie sehr entwicklungspolitische Gelder aus Europa an den eigenen Wirtschaftsinteressen ausgerichtet seien. Gerade am Ausbau der Transport-Infrastruktur im südlichen Afrika, der wesentlich auf Export ausgerichtet gewesen sei, habe man das sehr gut sehen können. Seine Doktorarbeit, die er „wegen des Themas und nicht des Titels“ an einer Universität in Großbritannien verfasste, beschäftigte er sich mit den kapitalistischen Transformationsprozessen in Polen.
Seine gewerkschaftlichen Bezüge gab er während des Studiums nicht auf und begann danach im internationalen Gewerkschaftskontext in Paris und Brüssel tätig zu werden, bis er 2009 zur IG Metall nach Frankfurt ging.
Globalisierung und Politik
Zuletzt war er dort unter anderem für China zuständig. Am Anfang habe er die internationale Politik Chinas wohlwollend beobachtet: Das Fehlen einer kolonialen Geschichte und die Nichteinmischungspolitik Chinas schienen in der multipolaren Welt einen neuen Akzent zu setzen. Die chinesische Politik sehe er mittlerweile jedoch kritischer. Sie wiederhole dieselben Fehler der westlichen Entwicklungspolitik, agiere deutlich machtpolitisch und nutze die Verschuldung der Länder, um Einfluss im eigenen Interesse auszuüben.
Rückt medico mit seiner Benennung stärker in Richtung Gewerkschaften? Christian Weis schmunzelt. Es sei nicht Anliegen der Gewerkschaften, andere Organisationen über Personalpolitik an sich zu binden. Das wären zu simple Vorstellungen darüber, wie Gewerkschaftspolitik funktioniere. Es wäre aber doch schön, so Weis, wenn er mit seinen Verbindungen die Arbeit von medico auch in den Gewerkschaften besser vermitteln könne.
Ein guter Zuhörer
Ihn beeindrucke das entwickelte kritische Denken bei medico, die Debattenkultur, die auch Streit zulässt und sich so immer wieder neue Denkräume erschließe. Deshalb werde er sich erst einmal in Ruhe alles ansehen und zuhören, bevor er seine eigenen Ideen und Überlegungen für medico einbringe. Eines aber sei ihm jetzt schon wichtig: medico gerade in der Migrationsfrage europäisch noch stärker zu vernetzen.
Die Mischung aus strategischem Nachdenken und praktischem Handeln, die einer Hilfsorganisation wie medico international innewohnt, hat auch Christian Weis in seinem persönlichen Leben beibehalten. Gerade hat er eine berufsbegleitende Zertifizierung als Landschaftsobstbauer im Frankfurter Streuobstzentrum abgeschlossen. Die Ausbildung war unterlegt mit anthroposophischem Denken, das im Apfelbaum mehr sieht als ein dem Menschen dienendes Gewächs. Thomas Gebauer hatte immer Fußball-Vergleiche parat. Jetzt wird sich die medico-Belegschaft wohl auf Obstbaum-Aphorismen einstellen müssen.
Katja Maurer