„Unsere Werte sind Heuchelei“

Interview mit Thomas Gebauer im Magazin des österreichischen Roten Kreuz

14.12.2009   Lesezeit: 5 min

Aktuelle Konflikte stellen die Kriegsregeln auf den Kopf: Es gibt immer mehr tote Zivilisten – und immer weniger militärische Opfer, sagt Thomas Gebauer von medico international im Interview mit Robert Dempfer vom Magazin Henri. (Ausgabe 9/2009).

henri:

Hans Magnus Enzensberger hat Anfang der 90er- Jahre vorausgesagt, Bürgerkriege würden bald die Normalfälle bewaffneter Auseinandersetzungen sein. Ist das heute so?

THOMAS GEBAUER:

Es sieht so aus. In vielen Teilen der Welt sehen wir eine „Entgrenzung“ kriegerischer Gewalt. Kriege ziehen sich über Jahrzehnte hin, ohne eindeutige Fronten, mit einer Vielzahl von Akteuren.

Ein Rückfall in die Zeit des Dreißigjährigen Krieges?

Der Vergleich drängt sich auf. Politikwissenschafter sprechen vom Ende des Westfälischen Systems. Im Zuge der Globalisierung ist es zu einem Zerfall nationalstaatlicher Souveränität gekommen. Das hat nicht nur zu „failed states“ geführt, sondern auch die Grundlage des modernen Völkerrechts ausgehöhlt.

Fühlen sich heutige Krieger an dieses Recht gebunden?

Viele der neuen Gewaltakteure sind nicht staatlich, sie fühlen sich kaum noch an internationale Vereinbarungen gebunden. Nicht wenige haben nie davon gehört. Sie machen Zivilisten zu Geiseln eigener macht- politischer Ansprüche und schrecken auch nicht vor Einschüchterung und Terror zurück.

Das scheint auch auf staatliche Akteure zuzutreffen.

Auch Länder, die sich auf zivilisatorische Traditionen berufen, lassen sich flagrante Rechtsverletzungen zuschulden kommen: Die USA im „Krieg gegen den Terror“, Russland in Tschetschenien, China in seinem Einflussbereich. Solange „Kulturnationen“ wie die USA Zustände wie in Abu Ghraib zu verantworten haben, werden sich andere Gewaltakteure schwer von der Bedeutung des Völkerrechts überzeugen lassen.

Abu Ghraib und Guantánamo waren völkerrechtsfrei ...

Das Problem liegt nicht allein in der Schaffung rechtsfreier Räume, sondern auch in einer Aufspaltung des Rechts in zwei parallele Rechtssysteme: ein Freundes- und ein Feindesstrafrecht. Nicht zuletzt deutsche Juristen haben vorgeschlagen, dass Menschen, die sich gegen den „Westen“ auflehnen, auch das Recht verwirken, nach „westlichen Werten“ behandelt zu werden.

Sie werden zu „unlawful combatants“ …

…für die eigenes Recht gelten soll. Die Aufweichung des Folterverbotes, die Existenz von illegitimen Gefangenenlagern, das Auslagern von Folter in Drittstaaten, die Duldung von geheimen CIA-FLüGEN über Deutschland, das sind Teile des Feindesstrafrechtes. Das Gerede von der Überlegenheit „westlicher Werte“ entpuppt sich als Heuchelei.

Immer mehr Zivilisten werden zu Opfern. Warum?

Viele heutige Kriege sind asymmetrisch. Dabei setzen technologisch unterlegene Akteure auf unkonventionelle Methoden wie Sprengfallen, Bombenattentate und Terror, während hochgerüstete Armeen zum Schutz der eigenen Truppen den Krieg aus der Luft bevorzugen und auf eine Automatisierung der Kämpfe setzen. Beides trifft aber vor allem Zivilisten.

Nur mehr tote Zivilisten, keine militärischen Opfer: Ist die Logik der Genfer Konventionen auf den Kopf gestellt?

So ist es. Die zunehmende Automatisierung des Krie ges spielt dabei eine wesentliche Rolle. Als der Krieg im Irak begann, waren Kriegsroboter weitgehend unbekannt. Heute sind Tausende im Einsatz. Auch in Afghanistan, wo der Krieg mit bewaffneten Drohnen geführt wird, die aus Tausenden von Kilometern Entfernung ferngesteuert werden.

Eine Art „Nintendo“-Krieg …

Die Befehlsgeber haben keinen unmittelbaren Kontakt zum Gefechtsfeld mehr. Sie führen Krieg per Computer, aus einem klimatisierten Büro in Nevada. Die Soldaten handeln wie im Videospiel. Das Wort vom „YOUTUBE“- Krieg macht bereits die Runde. Unsere Väter und Großväter waren noch über Monate, ja über Jahre hin hinweg „im Feld“. Künftig könnten Soldaten morgens ihre Kinder zur Schule bringen, tagsüber Bomben abwerfen und abends schon wieder mit den Nachbarn grillen.

Haben die Konventionen also ihre Bedeutung verloren?

Nein. Nur ist es notwendig, sie materiell zu unterfüttern, sie durch eine Politik des globalen sozialen Ausgleichs vom Kopf auf die Füße zu stellen. Bekanntlich kommt das Essen vor der Moral. Nur wenn es gelingt, die sozialen Ursachen der Gewalt zu bekämpfen, wird es – ganz im Sinne der Konventionen – möglich sein, Konflikte zu humanisieren. Gefragt ist nichts Geringeres als ein neuer „Sozialvertrag“, der das Zusammenleben der Menschen dem Grad der eingetretenen Globalisierung entsprechend nun auf globaler Ebene regelt.

Müsste dafür auch das humanitäre Völkerrecht umgeschrieben werden?

Es müsste weiterentwickelt werden. Unbedingt notwendig ist die Ergänzung der Konventionen um die „Accountability“: Zivilisten, die im Krieg zu Schaden kommen, sind nicht subjektlose Kollateralschäden. Es sind Menschen mit Anspruch auf Entschädigung. So könnte auch die Hemmschwelle, zu militärischen Mitteln zu greifen, erhöht werden.

Genügt es überhaupt noch, Nothilfe zu leisten? Müssen sich nicht auch Hilfsorganisationen stärker mit den politischen Ursachen von Kriegen beschäftigen?

Hilfe ist Politik, so wie umgekehrt Politik gefragt ist, um nachhaltig zu helfen. Das Bemühen um Nachhaltigkeit ist eine der Säulen, auf denen auch der Verhaltenskodex des Roten Kreuzes steht. Wer solche Selbstverpflichtungen ernst nimmt, muss sich auch mit den Ursachen von Missständen auseinandersetzen.

Wenn das Rote Kreuz diese Ursachen öffentlich benennt, kann es sich den Zugang zu den Kriegsopfern versperren.

Daraus den Schluss zu ziehen, dass sich alle Hilfsorganisationen diesen Einschränkungen unterwerfen sollen, halte ich für unsinnig. Es ist richtig, wenn sich das Rote Kreuz mit seinem besonderen völkerrechtlichen Status auf nicht öffentliche, diplomatische Initiativen beschränkt – dafür aber andere Hilfsorganisationen, sozusagen arbeitsteilig, öffentlich Stellung nehmen.

David Rieff empfiehlt den humanitären Organisationen den entgegengesetzten Weg. Er meint, es bestehe kein Grund, „die wunderbare Idee der humanitären Hilfe zu einem Sammelbecken für alle vereitelten Sehnsüchte unseres Zeitalters zu degradieren“.

Menschen in Not zu helfen ist eine wunderbare Idee. Aber wo liegen ihre Wurzeln? Beim Rotkreuz-Gründer Henry Dunant, der die Folgen von Kriegen lindern wollte? Oder bei Hippokrates, der auch die Ursachen des Leidens im Blick behielt? Der den Ärzten den Auftrag mitgab, das Leid der Menschen an der Wurzel zu packen? Deshalb bin ich mit Rieffs Schlussfolgerung ganz und gar nicht einverstanden.

Hippokrates fordert, Verhältnisse zu schaffen, die weniger Hilfe nötig machen.

Ja. Was spricht dagegen, das Völkerrecht so weiter zuent wickeln, dass es der grassierenden Unverantwortlichkeit einen Riegel vorschiebt? Selbst wenn wir zu schwach sind, den Krieg endgültig abzuschaffen: Es spricht nichts gegen die Sehnsucht, Verhältnisse zu schaffen, in denen Konflikte anders als auf mörderische Weise ausgetragen werden. Humanitäres Handeln allein im Kontext der alternativlosen Vergeblichkeit des Sisyphos-Mythos zu sehen, wie das nicht wenige Helfer tun, das ist mir zu wenig.

Henri. Das Magazin, das fehlt. Auch als e-paper im Internet.


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