Umgang mit Covid-19

Unterschätztes Afrika

09.07.2020   Lesezeit: 15 min

Dr. Alex Awiti im Gespräch über die Ausbreitung von Covid-19 auf dem afrikanischen Kontinent und die Reife der Gesellschaften, auf die das Virus trifft.

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Dr. Alex O. Awiti ist Direktor des Ostafrikainstituts an der Aga Khan Universität in Nairobi, Kenia.

medico: In den letzten Wochen haben wir beobachtet, dass sich das Zentrum der Pandemie langsam von Europa und den Ländern des globalen Nordens verlagert hat und die Pandemie nun auch auf dem afrikanischen Kontinent angekommen ist, wobei sich Südafrika zu einem neuen Hotspot entwickelt hat. Insgesamt ist der afrikanische Kontinent jedoch weniger stark von der Pandemie betroffen als zuvor erwartet. Die Gesamtzahl der Covid-19-Fälle ist viel niedriger als in Europa oder Nordamerika, trotz der höheren Bevölkerungszahl Afrikas: Wenn ich mich nicht irre, hat Afrika derzeit etwa 1,2 Milliarden Einwohner:innen.

Was sind die Gründe dafür? Lag es an den frühen Lockdown-Maßnahmen oder an den Erfahrungen mit anderen Pandemien wie Ebola? Welche Rolle spielten der hohe Anteil junger Menschen und die geringere globale Mobilität? Was können Sie uns dazu sagen?

Alex Awiti: Es ist mir ein Vergnügen, mit Ihnen zu sprechen, auch wenn dies angesichts all der Probleme weltweit eine seltsame Zeit für ein Gespräch ist. Aber dennoch: die Struktur der Pandemie in Afrika, also die epidemiologische Struktur, ist sehr anders als die in Europa oder in Süd- und Nordamerika.

Zum Teil liegt das sicherlich daran, dass es nur sehr wenige Verbindungen zum Rest der Welt gibt, insbesondere zwischen Afrika und den Ursprungsorten der Krankheit, wie wir sie kennen, so wie sie von Wuhan nach Europa, dann in den Mittleren Osten und von dort nach Afrika gelangt ist. Wenn wir uns die internationale Flug- und Reiseaktivität ansehen, ist Südafrika eines der größten Drehkreuze des Kontinents, gefolgt von Ägypten, Algerien, Tunesien und Marokko, und dann Äthiopien und Kenia; vielleicht sind auch noch Yaoundé in Kamerun und Kinshasa in der DR Kongo erwähnenswert. Wenn wir uns also die ersten Wellen der Pandemie anschauen, dann waren dies die Orte, an denen sie ausbrach. Und jetzt steigen die Infektionszahlen leider rapide in Südafrika, und auch in Ägypten sind sie ziemlich hoch.

Ein weiterer Faktor, der zu einem langsamen Ausbruch der Krankheit auf dem Kontinent beigetragen hat, ist seine sehr junge Bevölkerung. Soweit ich das einschätzen kann, hat das in vielen Fällen zu dem Phänomen geführt, dass ein hoher Anteil der Menschen zwar Covid-positiv, aber asymptomatisch ist, und nicht einmal moderate Anzeichen für eine Erkrankung aufweist.

Ein zusätzlicher Punkt ist meiner Ansicht nach auch, dass die ersten Abriegelungsschritte sehr früh kamen. Ich denke, die afrikanischen Länder haben die Lektion aus China gelernt, und angesichts der Erfahrungen mit Ebola gab es keine Regierung, die diese Pandemie auf die leichte Schulter genommen hat – allen ist noch sehr präsent, was damals passierte. Wenn man sich also zum Beispiel die ersten Maßnahmen von Präsident Museveni, Präsident Kagame oder auch Uhuru Kenyatta ansieht, wird deutlich, dass es sich dabei um sehr bewusste und methodische frühe Schritte handelte. Tatsächlich hielten es einige sogar für eine Überreaktion, aber nun ist klar, dass es die richtige Reaktion zur richtigen Zeit war. Natürlich breitet sich das Virus jetzt in den Gesellschaften aus, und immer mehr Menschen werden getestet. Dass die erste, schnelle, katastrophale Welle den Kontinent aber nicht so hart getroffen hat, liegt meiner Meinung nach an diesen frühen Maßnahmen sowie an der Tatsache, dass Afrika nicht so gut in den globalen Reiseverkehr integriert ist.

Für mich ist es wirklich interessant, das zu hören, denn noch vor ein paar Wochen titelten die deutschen Zeitungen, es würde eine riesige Katastrophe in Afrika geben und alles würde zusammenbrechen. Ich frage mich, ob diese Erzählung auch Teil dessen ist, was Felwine Sarr Afro-Pessimismus genannt hat. Würden Sie dem zustimmen?

Ich denke, dass Afrika manchmal unterschätzt wird. Die Entschlossenheit, die Widerstandsfähigkeit und das Geschick der Menschen, sich zu organisieren und auf eine so katastrophale Pandemie zu reagieren, werden unterschätzt. Es hat sich gezeigt, dass die Regierungen unterschiedliche Wege eingeschlagen haben: Die Regierung Ruandas zum Beispiel hat sehr schnell gehandelt und alles ins Internet verlagert. Ruanda verfügt über einen sehr genauen und robusten digitalen Tracking-Mechanismus, bei dem man einen Antrag über ein Online-Portal stellen muss, wenn man das Haus verlassen möchte. Auch muss man genau nachhalten, wohin man geht und so weiter. Die Menschen können jetzt online einkaufen und den größten Teil Ihrer Arbeit online erledigen.

In Tansania dagegen war es ganz anders. Dort sagte die Regierung den Menschen im Grunde: „Die Pandemie ist Realität. Sie können hinausgehen, aber treffen Sie die entsprechenden Vorsichtsmaßnahmen". Tansania ist nun das erste ostafrikanische Land, das seine Schulen und Universitäten wieder öffnet und gesellschaftliche Zusammenkünfte zulässt, beispielsweise in Kirchen oder bei Beerdigungen. Ich habe gerade mit einem unserer Kollegen aus Tansania gesprochen, der sagte: „Erwartungsgemäß gibt es bei uns natürlich, wie überall sonst auch, einige Corona-Hotspots, aber die Pandemie lässt uns nicht alle plötzlich tot umfallen.“

Deshalb glaube ich, dass in vielerlei Hinsicht einfach nicht erwartet wurde, Afrika könne auf eine Pandemie dieses Ausmaßes ausreichend vorbereitet sein. Es wurde nicht bedacht, wie viel der Kontinent aus früheren Pandemien wie Ebola oder der HIV- und Aids-Krise gelernt hat, wodurch ihm jetzt viele soziale Ressourcen und Fähigkeiten zur Verfügung stehen, wenn es darum geht, auf eine Pandemie dieses Art zu reagieren.

Sie haben die Maßnahmen der ruandischen Regierung erwähnt, die beispielsweise das Einkaufen online ermöglichen. Dies scheint allerdings vor allem auf die Mittelschicht ausgerichtet zu sein. Wie groß ist das Risiko, dass die arme Bevölkerung in den afrikanischen Ländern von diesen Maßnahmen übergangen wird?

Ich glaube nicht, dass diese Maßnahmen elitär sind, weil Kagame durchaus noch weitere Maßnahmen ergriffen hat. In Afrika haben deutlich mehr Menschen Zugang zum Internet, als oft geglaubt wird. Aber für die SMS-Nachrichten, die die Regierungs-Plattform an die Menschen verschickt, um ihnen die Erlaubnis zum Verlassen des Hauses zu geben, braucht man nicht einmal Internet. Es braucht auch keinen Breitband-Zugang, um eine kurze Nachricht an das nächstgelegene Lebensmittelgeschäft zu schicken. Es gibt also eine Menge technische und gesellschaftliche Innovationen, die dem Kontinent dabei helfen, dieser Katastrophe auszuweichen und dennoch relativ authentisch eine gewisse Normalität zu wahren.

Lassen Sie uns nun einen Schritt in die Vergangenheit gehen und über die HIV/Aids-Krise sprechen. Damals negierten einige afrikanische Präsidenten die Gefahren oder spielten sie drastisch herunter. Jetzt können wir eine solche Entwicklung in Ländern wie Brasilien beobachten, wo das Leben tausender Menschen in Gefahr ist, weil die politischen Führer die offensichtlichen Gefahren leugnen. Es scheint einen bedeutenden Unterschied zwischen Lateinamerika auf der einen Seite und Afrika auf der anderen Seite zu geben, da die afrikanischen Präsidenten, wie Sie ja bereits dargestellt haben, eine deutlich bessere Arbeit leisten. Erleben wir auf dem afrikanischen Kontinent eine neue Verantwortung für die Sorgen der Bevölkerung, oder ist das ein verklärter Blick auf die Dinge?

Wir stehen momentan einer wirklich existentiellen Herausforderung gegenüber. Ich denke, einer der Gründe, warum die Regierungen so reagiert haben, ist der Wissensstand der Öffentlichkeit was die Fragilität des afrikanischen Gesundheitssystems betrifft. Die Regierungen haben also den Ansatz gewählt, dass man eine katastrophale Ausbreitung der Krankheit besser verhindern sollte. Deshalb haben sie sich auf Lockdown-Maßnahmen konzentriert und versucht, die Infektionen so gering wie möglich zu halten, sodass die bestehende Gesundheitsinfrastruktur nicht überlastet wird. Die afrikanischen Regierungen haben also das Vorsorgeprinzip walten lassen, bereits ganz am Anfang Masken getragen und gesagt: „Wir haben ein Problem.“

Wo die Krise verleugnet wurde, wie zum Beispiel in Burundi, hat es eine ernsthafte Katastrophe gegeben. Niemand weiß, ob die Herzkomplikationen, denen der Präsident Burundis erlag, auf Covid zurückgeführt werden können, aber es gibt viele verlässliche Informationen darüber, dass hochrangige Vertreter der burundischen Machtstruktur Covid-positiv waren. Die Frau des Präsidenten wurde hier in Kenia ins Krankenhaus eingeliefert; inzwischen hat sie sich erholt und ist nach Hause zurückgekehrt. In den Fällen, wo die Regierungen unvorsichtig und rücksichtslos waren, hat sich die Krankheit also bis in den Kern der Machtstruktur ausgebreitet.

Es ist meiner Ansicht nach auf jeden Fall von großer Bedeutung, dass es in dieser Krise nicht die Art von rücksichtslosem, unverantwortlichem Verhalten seitens der afrikanischen Führer gegeben hat, wie es beispielsweise bei Yahya Jammeh aus Gambia der Fall war, der damals behauptete, die Menschen könnten einfach irgendein Gebräu trinken und wären dann von Aids geheilt. Nun hat sich eine sehr viel ernsthaftere afrikanische Führungsstruktur gezeigt, die auf die Pandemie sehr gut reagiert hat. Außerdem denke ich, dass auch die Afrikanische Union eine Vorreiterrolle übernommen hat, indem sie sagte: „Dies ist ein wichtiger Punkt in unserem Leben als Kontinent, und wir müssen darüber nachdenken, wie wir unsere Bevölkerung schützen können.“

Im Zusammenhang mit der Afrikanischen Union sind auch weiter gefasste Fragen und Ideen interessant, wie die Gesundheitssysteme auf dem afrikanischen Kontinent entwickelt werden können, zum Beispiel durch Schuldenerlass. Können Sie dieses Thema ein wenig näher beleuchten?

Ich denke, die Afrikanische Union versucht, herauszufinden, wie sie ein vertrauenswürdiger Vermittler von Ideen und Ressourcen auf dem afrikanischen Kontinent sein und dazu beitragen kann, die Zusammenarbeit Afrikas mit dem Westen sowie mit anderen Entwicklungspartnern wie China, Nordamerika und Lateinamerika zu organisieren. Ich denke, dass ein kooperativer, gemeinschaftlicher Ansatz zur Lösung der Probleme eines sehr großen und vielfältigen Kontinents wichtig ist, sodass die Regierungen zwar die Details der bilateralen Beziehungen, die sie aufbauen möchten, gestalten können, die allgemeinen Rahmenbedingungen allerdings mit einer gemeinsamen Stimme festgelegt werden. Der Grundstein dafür wurde durch die Agenda 2063 gelegt, in der die Prioritäten für die Zukunft des Kontinents beschlossen wurden. Sie ist nicht perfekt – es gibt zum Beispiel noch strukturelle und institutionelle Anlaufschwierigkeiten mit der Kommission der Afrikanischen Union. Aber es wird viel über diese Dinge diskutiert, zum Beispiel darüber, wie die Afrikanische Union finanziert werden soll, damit sie ihre Mission erfüllen kann. Das sind sehr interessante, progressive Gespräche. Und wie Sie aus Ihrer Erfahrung in Europa wissen, ist der Aufbau einer kontinentalen Struktur für eine kooperative, kollegiale Regierungsführung äußerst kompliziert. Die Nationalstaaten fallen noch immer der Anziehungskraft der Souveränität und allem, was sie sonst noch verspricht, zum Opfer; es handelt sich also wirklich um einen langen Arbeitsprozess. An diesem Punkt können wir aber sagen, dass die Afrikanische Union auf dem richtigen Weg ist.

Was die Entwicklung des Impfstoffs gegen Covid-19 betrifft, so zeigt sich meiner Meinung nach das, was Sie vorhin über die Entstehung einer eher nationalen Strategie gesagt haben. Zu viele Länder konzentrieren sich auf ihre eigene Bevölkerung und denken, dass dies die Lösung sein wird. Die Europäische Union hat eine etwas gemischte Strategie: Auf der einen Seite finanziert sie weiterhin die Strukturen der WHO und hat die Mittel für die WHO sogar aufgestockt. Auf der anderen Seite haben sie eine Strategie entwickelt, die man im Vergleich zu den USA vielleicht als „EU first – light“ bezeichnen könnte. Es wird versucht, die europäische Pharmaindustrie zu finanzieren, um die Entwicklung eines Impfstoffs gegen Covid-19 voranzutreiben und dabei sicherzustellen, dass die europäischen Bürger:innen ihn zuerst bekommen.

Für uns als Menschenrechts- und Entwicklungsorganisation stellt die Tatsache, dass die Idee von Gesundheit als Allgemeingut und die Frage fairer Beiträge nicht mehr auf der Tagesordnung steht, ein großes Problem dar. Welche Rolle könnten die Afrikanische Union oder die afrikanischen Regierungen dabei spielen, eine andere Strategie zu entwickeln, die eine globalere Perspektive beinhaltet? Glauben Sie, dass diese Situation eine Chance für eine Veränderung sein könnte?

Das ist eine sehr gute Frage. Ich denke, sie weist auf die bedauerliche Verschlechterung multilateraler Regierungsformen hin, und auf all die bewussten Bemühungen und Versuche, beispielsweise seitens der US-Führung, den Multilateralismus zu untergraben. Es ist eine wirklich kritische Frage – vor allem, wenn man versucht, darüber nachzudenken, wie wir als globales Kollektiv mit einer Pandemie dieses Ausmaßes umgehen können, die im Grunde jedes Land, ob reich oder arm, alt oder jung usw., verwüstet, was wirklich beispiellos ist.

Dank der modernen Biotechnologie können wir jetzt wirklich erwarten, dass einige Versuche in die Testphase gehen; wir haben jetzt einen Prozess, der sich gewissermaßen selbst untersucht hat: in Afrika, im Vereinigten Königreich und in Brasilien. Ich denke, das ist deshalb wichtig, weil Afrika jetzt wirklich einen Anteil an dieser Debatte über Impfstoffversuche hat. Der Impfstoff wird vielleicht nicht bis nach Kenia kommen, vielleicht in kein Land jenseits der kenianischen Grenze, aber es bringt die afrikanische Bevölkerung in die Debatte ein, da sie Teil dieser kühnen ersten Welle von Versuchen war, einen Impfstoff zu finden. Das trägt meiner Ansicht nach dazu bei, die Debatte wieder in Gang zu bringen, und dabei hervorzuheben, dass auch wir hier eine Rolle spielen und zur Mobilisierung wissenschaftlicher Erkenntnisse über die Wirksamkeit eines Impfstoffs beitragen.

Gott weiß, ob wir mehr als drei Strings des Covid-Virus haben, aber ich denke, dass es aufgrund der Struktur der Versuche wirklich interessant ist, herauszufinden, ob es einige spezifische Strings gibt, die sich in der Region wirklich entwickeln, autonom werden, und sich unterschiedlich auf den Menschen auswirken. Deshalb sollten wir die Debatte meiner Ansicht nach fortführen: Wie gehen wir in ethischer Weise und auf die Menschenrechte bedacht mit der Tatsache um, dass wir alle zusammen in dieser Sache stecken, und dass jedes Aufflackern des Virus und jeder Ausbruch von Covid irgendwo auf der Welt im Grunde genommen alle Gewinne, die wir erzielen, wieder zunichtemacht?

Es wird nicht möglich sein, eine Bevölkerungsgruppe in einer Ecke der Welt einzusperren und zu sagen, dass alle anderen davor sicher sind, weil Krankheiten durch menschlichen Kontakt verbreitet werden. Deshalb denke ich, dass es in dieser Situation gut ist, dies als eine Frage der globalen Gesundheitssicherheit zu betrachten, statt als das souveräne Anliegen einer einzelnen Regierung, ihre Bevölkerung in Sicherheit zu bringen - jede Person, die irgendwo in Gefahr ist, ist eine Bedrohung für die globale Gesundheitssicherheit überall.

Das passt perfekt zu dem Aufruf von mehr als 100 afrikanischen Intellektuellen während der Coronavirus-Pandemie, aus dem ich eine Passage zitieren möchte: „Noch entscheidender ist es, daran zu erinnern, dass Afrika über ausreichende materielle und personelle Ressourcen verfügt, um einen gemeinsamen Wohlstand auf einer egalitären Grundlage und unter Achtung der Würde eines jeden Einzelnen aufzubauen. Der Mangel an politischem Willen und die ausbeuterischen Praktiken externer Akteure dürfen nicht länger als Entschuldigung für Untätigkeit dienen. Wir haben keine Wahl mehr: Wir brauchen einen radikalen Richtungswechsel. Jetzt ist die Zeit gekommen!“ Ich kann mich nicht erinnern, in den letzten Jahren etwas so Fortschrittliches und Optimistisches von einer Gruppe von Intellektuellen gelesen zu haben, die ihre Ideen in einer gemeinsamen Erklärung veröffentlichten. Können Sie dazu Stellung nehmen?

Das ist in der Tat erbaulich. Ich denke, es erkennt sowohl die geopolitische Dynamik an, stellt aber gleichzeitig die afrikanische Führung selbst in den Mittelpunkt, also den politischen Willen der lokalen Regierungsorganisationen und der Regierungselite. Meine eigene Sichtweise war immer, dass es einen entscheidenden Mühlstein gibt, der den Afrikaner:innen am Hals hängt, um in probabilistischer Weise zu sprechen: die Unfähigkeit des Regierungen und das Versagen der Führung des Kontinents; der Mangel an kühnen, ehrgeizigen Plänen, das Land voranzubringen, genau auf dieser Ebene des gemeinsamen Wohlstands und einer egalitären Gesellschaft, wenn man es als Kontinuum betrachtet. Und ich denke, dass das nicht allein die Schuld irgendeines externen Akteurs ist, sondern dass es mit einer historisch bedingten Pfadabhängigkeit zu tun hat. Dabei meine ich vor allem die kolonialen Grundlagen afrikanischer Staaten und die Art der Prozesse, die zur Unabhängigkeit auf dem afrikanischen Kontinent geführt haben. Dem Aufbau staatlicher und organisatorischer Kapazitäten wurde nicht viel Aufmerksamkeit geschenkt. Die ersten Gründer afrikanischer Staaten verfügten nicht über die Kenntnisse, um einen modernen Staat zu führen. Sie kamen aus sehr kleinen, ungleichmäßig organisierten Gesellschaften in dieses große Kollektiv mit all seinen westlichen politischen und staatlichen Organisationsstrukturen, in dem sie einfach nicht verstanden, was sie tun sollten. Und man sieht die frühen Misserfolge der ersten Führer des Kontinents wie in Ghana, in Nigeria und vielen anderen westafrikanischen Ländern, die in Staatsstreiche verwickelt waren.

Dies hat sich erst in jüngerer Zeit verändert, nämlich seit sich der Bildungsstand der Bevölkerungen verbessert hat. Sie sind politisch aktiver geworden und haben begonnen, sich die Frage zu stellen, wie wir gemeinsamen Wohlstand schaffen und die lokalen Führer zur Rechenschaft ziehen können, und welche Ideen sich anbieten, um eine nationale Vision zur Erreichung dieser Ziele und zum Aufbau der wesentlichen sozialen Infrastrukturen wie Gesundheit, Bildung und bürgerliche Freiheiten zu kreieren. All diese Dinge sind entscheidend für den Aufbau einer kohäsiven, wohlhabenden und egalitären Gesellschaft. Daher denke ich, dass der afrikanische Aufstiegsmoment, über den wir alle gesprochen haben, eine entscheidende visuelle Vorstellung von einem Afrika ist, das sozusagen erwachsen wird und dessen Strukturen sich nun zu stabilisieren beginnen.

Wir sprachen über die Afrikanische Union, die auf ihre chaotische, unvollständige Art und Weise ein Gefühl der Verantwortlichkeit gegenüber den lokalen Führern vermittelt. Wir haben gesehen, wie die AU Politiker:innen offen kritisiert hat, die versucht haben, ihre Macht auf nichtdemokratische Weise einzusetzen. Die Sudan-Frage beispielsweise ist ein sehr ernstzunehmender Punkt. Natürlich sieht man auch dort, wie sich externe Kräfte einmischen, aber wenn es nach der AU ginge, würden sie die Legitimität der politischen Struktur im Sudan in Abrede stellen und Fragen über die Menschenrechtsbilanz von Al-Bashir aufwerfen. Wir befinden uns also immer noch in dieser chaotischen Situation, aber halte die allgemeine Entwicklung für hoffnungsversprechend.

Das Interview führte Anne Jung.
Transkription und Übersetzung: Maja Klostermann


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