Von Marc Speer
Bereits seit Anfang 2015 waren die mal größeren, mal kleineren Flüchtlingsgruppen rund um die beiden Bahnhöfe in Budapest, wo ich seit einiger Zeit lebe, kaum zu übersehen. Alle hier Wartenden – die Bilder davon gingen im August um die Welt - hatten den selben Weg hinter sich. Bevor sie in einem ungarischen Lager landeten, hatten die meisten bereits Hunderte Kilometer lange Fußmärsche auf der sogenannten Balkanroute hinter sich gebracht, die auf den griechischen Inseln beginnt und über Mazedonien und Serbien in die EU führt.
Damals wurde ich Zeuge einer humanitären Katastrophe, wie ich sie in Europa und erst recht in einer Hauptstadt für unmöglich gehalten hätte. Tausende Menschen campierten am Bahnhof, manche hatten nicht mal eine Decke. Ehrenamtliche leisteten unermüdlich Hilfe, viele Menschen brachten private Spenden. Schon damals fiel mir auf, dass die staatliche Hilfe den Bahnhof und die Flüchtlinge nahezu vollständig ignorierte. Noch nicht einmal ein Krankenwagen der öffentlichen Hospitäler von Budapest war im Einsatz. Ein verstörendes Bild: Im Zentrum einer europäischen Hauptstadt verhindern nur Freiwillige den Tod von Flüchtlingen. Aber das Elend war immer nur die eine Seite. Denn der Misere zum Trotz gab es unter den Flüchtlingen eine große Entschlossenheit, sich nicht mit ihrem „Schicksal“ abzufinden. Und dies mit Erfolg. Die Bilder des Marsches von Budapest nach Wien gingen um die Welt und führten schlussendlich sogar dazu, dass Angela Merkel in Absprache mit Österreich die Grenzen öffnete oder vielmehr öffnen musste.
Das war der Sommer der Migration. Damals war es noch warm, jetzt ist es im doppelten Sinne kälter geworden. Es begann die Saison der Zäune. Ungarn hat mittlerweile nicht nur seine Grenze zu Serbien, sondern auch zu Kroatien eingezäunt. Die neuen drakonischen Anti-Flüchtlings-Gesetze haben zur Folge, dass nahezu niemand mehr nach bzw. durch Ungarn reist. Andere Routen werden genutzt. Etwa über Slowenien. Aber auch hier haben die dramatische Szenen des Notstands begonnen. Etwa Ende Oktober, als das österreichische Militär den Grenzübergang zu Slowenien blockierte, was zur Folge hatte, dass Familien an einem Bauzaun fast erdrückt wurden.
Ende Oktober war ich an der österreichisch-slowenischen Grenze. Auf beiden Seiten der Grenze wurden in kürzester Zeit Camps aufgebaut. Dazwischen ein Korridor, eine Art Niemandsland, für den wohl nur das Wort „apokalyptisch“ zutreffend ist. Ein äußert kooperativer slowenischer Soldat erlaubte uns ohne größere Diskussionen den Korridor zu betreten, nachdem wir ihm unsere mitgebrachten Rettungsdecken zeigten und erklärten, diese verteilen zu wollen. Dass hierfür dringender Bedarf bestand, war wohl auch ihm klar. Dies galt allerdings nicht für die österreichischen (Militär-) Polizisten, die – wir hatten sie aufgrund der dramatischen Szenerie um uns herum nicht kommen sehen – auf einmal neben uns standen. Auf ziemlich unfreundliche Art und Weise wurden wir von diesen über den österreichischen Zugang wieder hinaus eskortiert. Im Flutlicht vorbei an den Wartenden, die wohl nichts lieber getan hätten, als uns einfach zu folgen. Warum die österreichische Polizei ein Problem mit der Verteilung von Rettungsdecken an frierende Menschen hat, wurde uns nicht erklärt.
Wenig später haben wir unsere Rettungsdecken dann einfach über den Zaun gereicht und sind dabei mit einem syrischen Familienvater ins Gespräch gekommen, der uns seine missliche Lage erläuterte: Mit seinem Baby, das kurz zuvor noch in einem Krankenhaus behandelt worden war, konnte er es nicht riskieren, sich über Stunden hinweg nach vorne durchzudrängeln, gleichzeitig war ihm auch der Weg zurück in die beheizten slowenischen Zelte versperrt. Denn wer einmal im Korridor ist, darf nicht mehr zurück. Paradoxerweise sind es also gerade jene Personen, die besonders verletzlich sind, die lange und ohne jegliche Unterstützung vor dem Eingang zum österreichischen Camp frieren müssen.
Tatsächlich spielen sich in diesen Tagen auf der Balkanroute nicht nur existenzielle Dramen einer historischen Fluchtbewegung ab, sondern hier konstituieren sich an jedem neuen Zaun, in jeder neuen Maßnahme der Flüchtlingsabwehr auch die Umrisse eines zukünftigen Europa. Wir lernen hier jeden Tag etwas dazu, vor allem wenn wir in Zusammenarbeit mit lokalen Netzwerken versuchen dort zu sein, wo es gerade besonders notwendig ist. Mit einem Bus bieten wir Strom für die neuen Kompasse der Migration an, die lebensnotwendigen Smartphones, mit denen die Flüchtenden untereinander kommunizieren. Vielen ist ein voller Akku wichtiger als eine warme Suppe. Deswegen haben wir auch einen Live Feed eingerichtet, eine Webseite, die stetig die aktuellsten Infos zur Flucht bereitstellt. Denn schneller als die Flüchtenden ist niemand.
Marc Speer arbeitet für die Initiative bordermonitoring.eu in Budapest.
„Moving Europe“ heißt das Kooperationsprojekt von medico mit dem transnationalen Netzwerk Welcome to Europe, der Forschungsgesellschaft Flucht und Migration und bordermonitoring.eu. Der Moving-Europe-Bus versorgt seit Oktober Flüchtlinge auf der Balkanroute mit Strom für Mobiltelefone, Internet und Infos für eine sichere Reise. Zusätzlich werden auf einer Webseite Hinweise für die Weiterreise bereitgestellt, die in Kooperation mit den Flüchtlingen selbst erstellt werden.
Spendenstichwort: Flüchtlingshilfe
Dieser Artikel erschien zuerst im medico-Rundschreiben 04/2015. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. <link material rundschreiben rundschreiben-bestellen internal-link>Jetzt abonnieren!