Urban Health

Neue Herausforderungen an eine an Gleichheit, Gerechtigkeit und Partizipation orientierte Gesundheitspolitik im Zeitalter der Städte

30.10.2009   Lesezeit: 7 min

Vor mehr als 30 Jahren formulierte die WHO und ihre Mitgliedsstaaten die Basisgesundheitspflege (Primary Health Care) als eine Strategie, sicheren Zugang zu guter Gesundheitsversorgung für Alle, gesundheitliche Chancengleichheit, gerechte Ressourcenverteilung und eine dezentralisierte Mitbestimmung der Betroffenen an den Prioritätensetzungen und an der Ausgestaltung der Gesundheitsdienste zu realisieren.

Neue Herausforderungen stellen sich angesichts der dramatischen Veränderungen der Lebensbedingungen eines Großteils der Weltbevölkerung, die sich in einem weiter forschreitenden Prozess der Verstädterung befindet.

Die Stadt-Land Verteilung der Menschheit hat sich einschneidend verändert. Nicht nur in den historischen industriellen Zentren lebt die Mehrheit der Menschen in Städten, sondern auch in den so genannten Entwicklungsländern: Waren 1960 noch 22 Prozent der Menschen StadtbewohnerInnen, so hatte sich ihr Anteil zum Ende des Jahrtausends mit 40 Prozent fast verdoppelt. Seit letztem Jahr leben nummerisch mehr Menschen in Städten als auf dem Land.

Früher waren Armut und gesundheitliche Unterversorgung vor allem in den abgelegenen ländlichen Gebieten besonders eklatant. Dort entstanden die Modelle der Primary Health Care (PHC) vor allem aus Initiativen zur Verbesserung der Lebenssituation der Gemeinden abseits der großen Zentren, die historisch besser mit Ärzten und Krankenhäusern versorgt waren. Doch gegenwärtig erfüllen sich die Hoffnungen gerade der neu in die Städte ziehenden "Landflüchtlinge" und der in den armen Teilen der Stadt Geborenen nicht mehr, die einst das Versprechen der Stadt nach besseren Arbeits-, Einkommens- und Lebensmöglichkeiten angezogen hat. Die Stadtluft macht aber schon lange nicht mehr frei, und die Chancen auf sozialen Aufstieg sind extrem begrenzt, da der Bevölkerungszuwachs der Städte (nicht nur der Metropolen, auch der so genannten "kleineren" Städte bis zu 500.000 Menschen, in denen aktuell der größte Teil der Urbanisierung stattfindet) nicht mit entsprechendem Zuwachs an Arbeitsplätzen einhergeht. Die globalisierte Ökonomie braucht zwar noch "verlängerte Werkbänke", aber die Konkurrenz zwischen den potentiellen Billiglohnmärkten ist enorm, denn das Angebot ist dank eines fast weltweit ausgedehnten globalisierten Kapitalismus hoch. Urbanisierung der Armut wird dieses Phänomen genannt.

Die sozialen und damit auch gesundheitlichen Unterschiede sind in den Städten zumeist ausgeprägter als im ländlichen Raum. Während die wohlhabenden Schichten von der nahen Verfügbarkeit der Gesundheitsversorgung deutlich profitieren, sieht es in den unregulierten Teilen der Städte ganz anders aus: Bei mangelhafter oder gänzlich fehlender öffentlicher Infrastruktur (Trinkwasserversorgung, Sanitäre Entsorgung), beengten und schlechten Wohnverhältnissen sowie ungesicherten Einkommen gefährden die traditionellen Armutskrankheiten (Infektionen, Durchfall, Atemwegserkrankungen) vor allem die Kinder. Die Malaria- und Dengue-Fieber übertragenden Mückenarten haben sich längst gut an die städtischen Verhältnisse adaptiert und produzieren regelmäßige lokale Epidemien, neue Erreger wie SARS oder die Vogel-Grippe finden in den Städten mit vielen Menschen auf engem Raum optimale Verbreitungsmöglichkeiten.

Die Wohngebiete der Armen befinden sich zudem in der Regel in besonders umweltgefährdeten Gebieten, zum Beispiel nahe von Industrieanlagen, deren Abwässer und Abgase starke Gesundheitsgefährdungen darstellen können, oder an steilen Hängen, die bei starken Unwettern zu dramatischen Katastrophen durch Erdrutsche führen.

Das Stadtleben birgt noch dazu spezifische Gefahren. In Rio de Janeiro und Sao Paulo ist die Sterblichkeitsrate durch Gewaltverbrechen in den ärmsten Stadtteilen elf Mal so hoch wie in den reichsten.

Auch psychosoziale Probleme werden durch das hektische und ungesicherte Stadtleben für die Armen gefördert – individuell als psychische und Sucht-Erkrankungen, aber auch als kollektive wie die Eskalation konkreter Ressourcenkonflikte in gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen ethnischen, religiösen oder politischen Gruppen, wie jüngst in Kenia im Zusammenhang mit den letzten Wahlen, in Südafrika gegen MigrantInnen oder immer wieder auf dem indischen Subkontinent zwischen Hindus, Moslems und Christen.

Andere, nicht weniger dramatische Stadtprobleme treffen die Armen mehr als die Reichen: Die hohe Luftverschmutzung, Lärm und gesundheitsschädliche Arbeitsbedingungen führen zu verstärkten chronischen Gesundheitsschäden. Schätzungsweise 20 Prozent aller Herz-Kreislauferkrankungen in den Städten werden auf solche spezifischen Umweltbedingungen in den Städten des Südens zurückgeführt.

Die spezifische Kombination aus "altbekannten" Infektions- und Armutskrankheiten und "neuen" chronischen Gesundheitsschäden wird auch als "doppelte Belastung" (double burden) bezeichnet und ist charakteristisch für die Gesundheitssituation der Armen in den städtischen Zentren des Südens. Eine zunehmende Privatisierung der Gesundheitsdienste bringt schließlich im Krankheitsfall den Schluß des Teufelskreislaufs aus Armut – Krankheit – Armut: Hohe Direktzahlungen bei ÄrztInnen und im Krankenhaus treiben bei schwerwiegenden Gesundheitsproblemen Millionen Menschen jährlich in den Ruin: 100 Millionen Familien verlieren ihre Ersparnisse und verschulden sich jedes Jahr durch solche "katastrophischen Krankheitskosten".

Im Ergebnis summieren sich die Gesundheitsgefährdungen für die städtischen Armen zu einer Krankheitslast, die selbst die der ländlichen Armen häufig übertrifft.

Eine gesundheitsförderliche Politik im städtischen Kontext muss eine konsequente Integration gerade der armen Gebiete in eine kostenlose, gesundheitliche Versorgungssicherheit beinhalten, darüber hinaus aber auch die "sozialen Determinanten" der Gesundheit – Umweltfaktoren, Wohnen, Einkommen, Wasserversorgung, sozialer Ausschluss usw. – berücksichtigen. Die Einbeziehung vielfacher (Lebens-)Bereiche(Intersektoralität) des PHC-Konzepts ist dabei ebenso aktuell wie die Notwendigkeit der Beteiligung der Betroffenen an der Verbesserung ihrer Lebensbedingungen.

Problem erkannt – Problem gebannt? Warum die Rezepte nicht befolgt werden

Die internationalen Berichte und Konferenzen der letzten Jahrzehnte zur Urbanisierung – von den frühen Habitat Konferenzen der 70er Jahre bis zum Knowledge Network on Urban Settings der WHO Commission for Social Determinants of Health, die gerade ihren Abschlußbericht vorgelegt hat – haben diese umfassenden integrierten und multisektoralen Strategien auch alle detailliert untersucht und beschrieben, Empfehlungen und Forderungen entwickelt.

Was fehlt also zu ihrer Realisierung?

Die internationale Gesundheitsbewegung People's Health Movement (PHM) kritisiert, dass den überwiegend technischen Empfehlungen der internationalen Experten zumeist die politische Analyse fehle: Community Health ist für das PHM ein politischer Prozess, in dem es auch um konkrete Auseinandersetzungen zwischen Mächtigen und Machtlosen geht. Und an der Seite der letzteren sieht sich das PHM mit seiner klaren Parteinahme und der Beförderung eines konkreten sozialen Organisierungsprozesses: Die Armen sind nicht als ein "Problem" zu bewältigen, sondern als Partner an der Lösung der Probleme zu stärken und zu beteiligen. Dass dies nicht ohne Konflikte abgeht, ist dabei klar: Der ehemalige PHM-Coordinator Ravi Narayan aus dem südindischen Bangalore sieht entstehende Konflikte geradezu als Indiz dafür, dass man auf der richtigen Spur ist. "Community health is not a vegetarian process – it is a tiger, not a cow."

Entscheidend sei dabei, nicht "die Armen" als undifferenziertes Objekt zu idealisieren, sondern ganz konkrete Gruppen mit ihren jeweils spezifischen Bedürfnissen zu erkennen und ihnen Unterstützung zu geben: Straßenkindern, alleinerziehenden Eltern, Benachteiligten des Kastensystems, ausgegrenzten sexuellen Minderheiten, Alkoholikern, Aids-Kranken. In der Stärkung der Betroffenen in einer aktivierenden und partizipativen Weise im Kampf um ihre eigenen Belange, ihre Rechte und Anerkennung liegt für das PHM der Schlüssel für eine Gesundheitsstrategie, die nicht mehr allein individuelles Gesundheitsverhalten fördert, sondern eine gemeinsame Verantwortung für die Verbesserung der Lebensbedingungen (zum Beispiel der Sicherung der Wasserversorgung) stärkt.

Es liegt auf der Hand, dass dies am besten in Netzwerken der verschiedenen Basisgruppen geschieht, , in der die jeweiligen Gruppen ihre eigenständige Professionalisierung und Praxis haben, sich dabei aber untereinander austauschen und sich in politischen Mobilisierungen unterstützen, etwa in der Kampagne "Right to Healthcare" des PHM Indien, oder im Recht auf Bildung oder Wasserversorgung.

Beeindruckende Erfolge haben die Gesundheitsaktivisten in Indien dank ihrer langjährigen und hartnäckigen Arbeit vorzuweisen: Ausbildungsprogramme für Community-Aktivisten und Community Health Fachleute existieren jenseits universitärer Elfenbeintürme, auf der Ebene der Bundesstaaten wie der Nationalen Gesundheitspolitik sind die Kritiker des PHM nicht nur geduldete, sondern erwünschte Berater, und ein großes Ausbildungsprogramm für Hunderttausende von Gemeindegesundheitsaktivisten ist von der Regierung in Delhi auf den Weg gebracht. Auch die kostenlose Versorgung mit Aids-Medikamenten für alle Betroffenen und der Widerstand des nationalen Patentamtes gegen ungerechtfertigte Patentanmeldungen internationaler Pharmafirmen wären ohne gesellschaftliche Mobilisierung kaum realisiert worden.

Dass "Gesundheit für Alle" auch hierzulande eine Heausforderung bleibt, ist unstrittig: Tatsächlich existiert weiterhin soziale Ungleichheit in der Gesundheits- und Lebenserwartung je nach sozialer Schicht in Deutschland, die sich zu einem doppelt so hohen Erkrankungs- und Sterberisiko in jedem Lebensalter zwischen den ärmsten und reichsten Gruppen summiert. Dazu kommt als vielleicht drastischste aktuelle Verletzung des Menschenrechts auf Gesundheit die Einschränkung und Verweigerung medizinischer Versorgung für Asylbewerber und illegalisierte Flüchtlinge.

Andreas Wulf, medico international


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