Editorial

Verunsichernde Zeiten

Annäherung an einen globalen Zustand aus der Perspektive von medico-Kolleg_innen und Partner_innen

22.12.2015   Lesezeit: 7 min

Disaster is coming home hieß es 2010 bei medico. Damals ahnten wir nicht im Entferntesten, was sich wenige Jahre später in Europa abspielen würde.

Von Katja Maurer

Disaster is coming home – so lautete der Titel unseres vierteljährlichen medico-Rundschreibens, das wir im Jahr 2010 veröffentlichten. Damals beschäftigte uns, dass die Katastrophe nicht mehr nur im geographischen Süden zu verorten war. Seither ist das bei medico ein stehender Spruch zur Kommentierung aktueller Ereignisse. Wir hatten damals Recht und doch nicht im Entferntesten geahnt, was sich fünf Jahre später in Europa abspielen würde. Ein grober Rückblick.

2015 – das sind die Ereignisse in Griechenland rund um die erste Tsipras-Regierung, die offenbarten, dass die regierende Politik im Merkel-Deutschland zu einer Abkehr von diskreditierten neoliberalen Strategien nicht in der Lage ist. Das entsetzlich lehrreiche Geschehen bei den gescheiterten Verhandlungen um den von der Syriza-Regierung geforderten Schuldenschnitt hat die bittere Wahrheit über die deutsche Rolle in Europa offenbart: Sie spricht von Europa und vertritt die Exportinteressen der deutschen Wirtschaft. Vielleicht noch schockierender war, dass die deutschen Leitmedien diesen Kurs meist vorbehaltlos und manchmal sogar hysterisch populistisch unterstützten. Eine Erfahrung, die man nicht vergessen sollte.

2015 – das sind die hunderttausenden Geflüchteten, die das ausgefeilte und wesentlich auf die Abschottung Mitteleuropas zielende europäische Grenzregime zum Einsturz brachten. Ein Erfolg gegen eine Politik-Maschinerie, deren Starrheit – siehe Griechenland – unüberwindlich schien. Es wird neue Grenzregime geben, aber es wird wohl nicht gelingen, die Illusion aufrecht zu erhalten, die Katastrophe ließe sich vom europäischen Zentrum abschotten. Auseinandersetzungen um Marginalisierung und Ausschluss werden nun in ganz anderer neuer Qualität direkt vor unseren Augen stattfinden.

2015 – das ist die größte humanitäre Katastrophe seit dem Zweiten Weltkrieg. Der nicht endende Krieg in Syrien. Mit den Flüchtenden aus Afghanistan und Syrien aber auch ein Paradigmenwechsel, den die Politik noch nicht zugibt. Die Containment-Strategie, also die Idee der Begrenzung und Einhegung von Konflikten in staatlichen Gebilden, die Protektoraten gleichen, und vor allen Dingen die Auslöschung der Konflikte aus dem kollektiven globalen Gedächtnis bewirken sollen, ist gescheitert.

2015 – das sind die Attentate von Paris. Der apokalyptische, sich selbst und andere verachtende Aufstand junger Männer und auch junger Frauen gibt eine Vorahnung, wie der „Weg in die Vormoderne“ gepflastert ist. Diese Beschreibung gebrauchte der Frankfurter Philosophie- Professor Dr. Lutz-Bachmann auf einer Veranstaltung in Frankfurtüber Mexiko. Das Land rangiert mit der Zahl der durch Gewalt gestorbenen Menschen weltweit hinter Syrien auf Platz 2, was die Ereignisse in Paris relativiert, aber nicht die Ängste, die sie geweckt haben.

Für eine sozialmedizinische Hilfs- und Menschenrechtsorganisation wie medico international, die wir unser politisches Handeln in politischen Netzwerken hier wie dort verorten, aber unsere Projektpraxis mit der Förderung lokaler Partnerinnen und Partner bislang im geographischen Süden sahen, brachte 2015 eben deshalb neue Herausforderungen.

Europa: conditio nigra

Zum ersten Mal fördern wir Arbeiten in Deutschland und Europa u.a. von langjährigen Mitstreiterinnen und Mitstreitern in der psychosozialen Arbeit mit Flüchtlingen und Folteropfern und aus antirassistischen Netzwerken.

In diesem Dossier wollen wir uns zwei Fragen stellen. Zum einen der Frage, wie wir unsere internationalen politischen Erfahrungen und Debatten in die hiesigen Diskussionen einbringen. Zum anderen geht es um die  Erarbeitung einer Haltung, um  die Willkommenskultur in Deutschland zu politisieren.

Wir wollen fragmentarisch und fortlaufend die Erfahrungen in der Auseinandersetzung mit Gewalt und Terror, wie sie an vielen Orten der Welt vorliegen, zusammenzustellen unddiesen etwas anderen Blick in die Debatten um eine emanzipatorische Politik wider Terror und Gewalt einbringen. Dahinter steht die Befürchtung, dass die Freund-Feind-Logik des „Kriegs gegen den Terror“ auch eine Form sein kann, innere Grenzen und Ausschlüsse von dramatischem Ausmaß in Europa zu reproduzieren. Es ist bereits allenthalben zu beobachten. Auch die Willkommenskultur in Deutschland kann diesem Feinddenken auf Dauer nur dann etwas entgegensetzen, wenn sie ein politisches und ökonomisches Programm wider die Marginalisierung der „Überflüssigen“ entwickelt.

Diesen Prozess der Marginalisierung beschrieb der kamerunische Politologe Achille Mbembe in seiner Dankesrede bei der Verleihung des Geschwister-Scholl-Preises im Dezember 2015 als eine Form des „Schwarzwerdens der Welt“. Die systemischen Risiken und Gefahren des Kapitalismus, denen einst ausschließlich die schwarzen Sklaven ausgesetzt gewesen wären, würden „künftig wenn nicht die Norm, so doch das Schicksal aller untergeordneten Menschengruppen sein, und zwar unabhängig von Lebensraum, Hautfarbe oder Regierungssystem. Mbembe nennt das eine „tendenzielle Universalisierung der conditio nigra, also der Lebensform des 'Negers'.“

Syrien: Zivilgesellschaft im medialen Off

Ausgangspunkt unserer Betrachtungen ist Syrien. Diese größte humanitäre Katastrophe seit dem zweiten Weltkrieg, ausgelöst durch Assads blutige Niederschlagung des demokratischen Aufstands, beschäftigt medico seit mehreren Jahren maßgeblich. Unser Dossier enthält u.a. ein Interview mit syrischen Aktivisten, medico-Partnern, die in Jassem Würde und Zivilität trotz des Krieges zu bewahren suchen. Da im Krieg bekanntlich die Wahrheit das erste Opfer ist, versuchen sie ihre Aktivität der Sichtbarkeit und damit auch der Kriegspropaganda zu entziehen. Sie beschreiben ein syrisches Dilemma: „Viele denken mittlerweile, dass sie einfach nur noch ausgenutzt werden – ob nun von der Regierung, irgendwelchen Milizen oder sogar von der Zivilgesellschaft. Somit sind die Leute gegenüber Kameras total empfindlich geworden. Als sie aber sahen, dass bei dieser Kampagne keine Kameras präsent waren, waren sie einfacher zu überzeugen, dass es uns tatsächlich um Jassem und seine Bevölkerung ging.“

Der Müll von Jassem: Syrien jenseits des IS

Sri Lanka: Kopien der Erinnerung

Von der syrischen Zivilgesellschaft, die ins Off muss, um sich selbst zu vergewissern und nicht von fremden Interessen benutzt zu werden, schlagen wir eine Reise nach Sri Lanka vor. Nicht ins Touristenparadies, sondern in die Erinnerungswelt des Menschenrechtsaktivisten und Journalisten Qadri Ismail. Sein tamilisch-muslimischer Hintergrund brachte in früh in Konflikte mit der Macht. Er lehrt heute Literaturwissenschaftler in den USA und schreibt am Beispiel dreier Bilder, die hinter seinem Schreibtisch hängen, einen Text der Trauer. Eines erinnert ihn an die Ermordung seines persönlichen und politischen Freund Richard Manic de Zoysa: „Sein Körper, in die Lüfte gehoben, im Indischen Ozean entsorgt von einem Hubschrauber aus, kam trotzdem wieder ans Land. Ein Leichnam, der sich weigert, die ihm zugewiesene Rolle zu spielen, dem Drehbuch zu folgen, der im Tode handelte wie der Mann im Leben gehandelt hat.“ Dieser poetische Text verlangt uns Leserinnen und Lesern etwas ab, was mehr ist als die Überwindung der eigenen Ignoranz. Die Konfrontation mit einer Trostlosigkeitdarüber, dass die Erinnerung an den Verlust nur eine schiefe Kopie dessen ist, was sich ereignete. Ein Text über die Unfassbarkeit des Verlusts.

Sri Lankas Opfer: Über Gewalt und Verlust

Fatalität des Sicherheitsdiskurses

Wider die Verunsicherung – die nicht so bodenlos wie die Quadri Ismails sein muss, um den Wunsch nach Sicherheit aufkommen zu lassen – hülfe der sichere Ort, der mehr enthielte als ein Dach über dem Kopf. Darüber wäre zu reden, wenn es um die Geflüchteten geht, die hier solche Orte bräuchten. Und der wohl mehr enthielte als ein Dach über dem Kopf. Aber die Verführung für die Politik, die wachsende Verunsicherung mit einem Sicherheitsdiskurs zu entpolitisieren, ist groß. Sie wird weidlich genutzt und zielt auf die Psyche ab.

Das hatte der britische Politikwissenschaftler Mark Neocleous auf der Tagung der stiftung medico international „Fit für die Katastrophe“ im Frühsommer 2015 unter großem Beifall auf den Punkt gebracht. Wir haben seinen auf Englisch geschriebenen Text in das Dossier eingefügt, weil er den Begriff der Resilienz, also der Widerstandsfähigkeit im Umgang mit katastrophalen Ereignissen, in den Kontext des Krieges gegen den Terror setzt. „Der Krieg der Sicherheit und für die Sicherheit ist ein Krieg durch Sicherheit. Ich glaube, dass die Sprache der Resilienz und die Idee, wir könnten die Resilienz trainieren, eine Methode ist uns auf Krieg vorzubereiten: auf den Krieg gegen den Terror, natürlich, aber auch auf die generellen Sicherheitskriege und auf den Krieg der Akkumulation. Und so formt die Resilienz unsere politische Imagination und schaltet andere politische Möglichkeiten aus.“

Political Imagination: Resisting Resilience

Normativität des Rechts

Dieser Technik der Macht etwas entgegenzusetzen ist die Herausforderung der kommenden Jahre. Eine Gegenrede zu entwickeln ist dafür eine Voraussetzung. Eine entwarf medico-Geschäftsführer Thomas Gebauer auf einer Konferenz in Göttingen Anfang Dezember. Ein Auszug: „Denn im Gegensatz zum vieldeutigen Begriff der Sicherheit sind Rechte normativ. In ihnen lebt der Anspruch auf Gleichheit, selbst dann noch, wenn Rechte durch Macht und Interessen gebeugt werden. Zentrales Prinzip der Menschenrechte ist das Prinzip der Universalität, und so drängt die Anrufung von Menschen­rechten auf eine Politik des Ausgleichs, die der Sicherheit hingegen auf Abschottung.“

Flucht-Ursachen: Globalisierung der Verunsicherung

Eine Wahrheit

Thomas Seibert knüpft an diesen Vorschlag an und entwickelt neben fundamentalistischem Terror und Anti-Terror-Krieg eine Dritte Option. Denn Ideen lassen sich nicht mit Bomben töten. Wenn von Rechten die Rede sei, so Thomas Seibert, dürfe es sich nicht um ein bloßes „ökonomisches Angebot“ handeln. Es ginge darum, individuell wie kollektiv zum „lebendigen Subjekt einer Wahrheit“ zu werden. Wie – das können Sie nachlesen unter „Gang durch die Extreme“.

Phänomen IS: Gang durch die Extreme


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