Die gesundheitspolitischen Millenniumsziele sind für sich genommen sinnvoll. Leider stehen sie aber in keinem vernünftigen Zusammenhang mit der allgemeinen Förderung des Gesundheitswesens oder gar der Gesellschaftspolitik. Die globale Agenda der Geber droht örtliche Partizipation und Selbstbestimmung zu unterhöhlen. Nötig wäre ein ganzheitliches Konzept, das bei den Bedürfnissen der Armen ansetzt – und die betroffenen Menschen als Subjekte anspricht.
Von Andreas Wulf
Im Jahr 1982 stellte das UN-Kinderhilfswerk Unicef Wunderwaffen für die Revolution für das Überleben der Kinder (Child Health Revolution) vor. Die wichtigsten Schlagworte lauteten: 1. growth monitoring, 2. oral rehydration, 3. breastfeeding und 4. immunisation. Damals wurden in dieses Programm ebensolche Hoffnungen gesetzt wie heute in die aktuellen Health Care Packages des WHO Commission on Macroeconomics and Health (Sachs, 2001) oder die 23 nachweislich wirksamen Gesundheits-Interventionen der Bellagio Study Group on Child Survival (2003). Diese Mittel sollen dazu dienen, die gesundheits-bezogenen Millenniums-Entwicklungsziele (Ziel 4: Reduktion der Kleinkindersterblichkeit um Zweidrittel; Ziel 5: Reduktion der Müttersterblichkeit um Dreiviertel, Ziel 6: Aufhalten des Ansteigens von HIV/AIDS und Malaria und Beginn der Zurückdrängung) bis zum Jahr 2015 zu realisieren.
Die grundlegende, konzeptionelle Revolution in der internationalen Gesundheitspolitik hatte aber bereits 1978 stattgefunden. Auf einer gemeinsamen Konferenz von Unicef und WHO formulierten Delegierte aus 134 Mitgliedssaaten in Alma Ata die Grundbedingungen für eine Perspektive eines möglichst gesunden Lebens für alle Menschen neu. Der Ansatz (WHO 1978) unterschied sich radikal von dem vorherigen Herangehen der Weltgesundheitsorganisation, die in den 50er und 60er Jahren mit Eradikationsprogrammen ein überwiegend technisches Gesundheitsverständnis (Malariabekämpfung mit DDT und Chloroquin, Pockenimpfungen) an den Tag gelegt hatte.
Die Grundlage für die Neuorientierung bildeten die historischen Erfahrungen in Ländern mit radikalen gesellschaftlichen Veränderungen (Volksrepublik China, Indiens Bundesland Kerala, Sri Lanka, Costa Rica und Kuba). Sie führten zu einer Neubewertung der sozialen Determinanten der Gesundheit, weil es ihnen gelungen war, die Gesundheitsversorgung und -situation der armen und lange vernachlässigten Bevölkerung fundamental zu verbessern.
Zentrale Einsichten des Alma-Ata-Ansatzes waren:
- Politische und sozioökonomische Bedingungen müssen Berücksichtigung finden. Konkret geht es um die Abschaffung und Verhütung von Krieg, Armut und Hunger als nötigen Voraussetzungen für Gesundheit.
- Verbesserung von Gesundheit erfordert multisektorale Anstrengungen und kann nicht vom Gesundheitssystem allein bewältigt werden. Trinkwasserversorgung, Sanitäre Systeme, Wohnverhältnisse, Ernährungssicherung, Gewaltprävention sind zentrale Arbeitsfelder der Gesundheitsförderung, die kooperativer Lösungen ganz unterschiedlicher Akteure bedarf.
- An der Verbesserung der Gesundheitsbedingungen und der Gestaltung der Gesundheitsdienste müssen die Betroffenen als Akteure beteiligt sein. In heute gebräuchlicher Terminonolgie geht es um die Frage der Ownership – mit aktiver Partizipation der Betroffenen (Dorf, Gemeinde, Nachbarschaft), Nutzung lokaler Ressourcen und Dezentralisierung von Entscheidungen.
Damit verwies die Deklaration von Alma Ata einerseits klar auf die Verantwortung gesellschaftlicher und staatlicher Akteure für die Schaffung von Rahmenbedingungen, die eine Voraussetzung für „Gesundheit für Alle“ sind. Diese Einsicht steht im Kontrast zu einer nur individuell verstandenen „Selbstverantwortung“ des einzelnen für ein gesundes Leben, die Risiken nur auf der persönlichen Ebene verortet. Zugleich forderte die Deklaration, die Betroffenen an der Lösung ihrer Probleme selbst mitzuwirken zu lassen. Beide Aspekte standen dem konventionelle Verständnis des Gesundheitswesens als Ort der Produktion von Gesundheit entgegen. Betont wurde dagegen das engagierte Handeln von Experten im Kampf gegen Unwissenheit (Prävention) und Krankheit (Kuration).
Zusätzlich erforderte eine solche Umorientierung auf eine „bestmögliche Gesundheit für Alle“ ein massives politisches „Commitment“ zur Umverteilung von Ressourcen und Entscheidungskompetenzen hin zur Peripherie der Gesellschaft. Es ging um Infrastrukturen für arme ländliche Gebiete und vernachlässigte urbane Elendsviertel, es ging um intersektorale Kraftanstrengungen, um bessere Lebensbedingungen für veramte und ausgegrenzte Bevölkerungsgruppen.
Dieser Ansatz mochte zwar auf einer internationalen Konferenz beklatscht und in unverbindlichen Dokumenten unterschrieben werden. Die Realität sah anders aus. Die beginnende Wirtschaftsrezession der frühen 80er Jahre und Stellvertreterkonflikte des Kalten Krieges blockierten die Umsetzung solcher Konzepte mit gesellschaftsveränderndem Potential.
In diesem Kontext schien es eher erfolgversprechend, einzelne Gesundheitsprogramme aufzulegen, um sowohl Handlungsfähigkeit und Ergebnisse demonstrieren zu können. In der Tat ließen die Wunderwaffen von Unicef die Sterblichkeitsraten von Kleinkindern invers zum steigenden Impfschutz fallen. Die weltweiten Raten mit den 6 Standart-Impfungen (Tuberkulose, Masern, Polio, Tetanuns, Keuchhusten und Diphtherie) stiegen laut WHO/Unicef-Schätzungen von 2003 während der 80er Jahre von 40 auf 70 Prozent, und die die Kleinkindersterblichkeit (0-5 Jahre) sank weltweit um 40 Prozent. Die Lebensverhältnisse besserten sich aber nicht umfassend oder gar nachhaltig. Denn zugleich wurden die Gesundheits- und Bildungsausgaben in vielen Entwicklungsländern im Rahmen der Strukturanpassungsmaßnahmen von Weltbank und Internationalem Währungsfonds zur Aufrechterhaltung des Schuldendienstes zusammengestrichen, während immer wieder staatliche Institutionen privatisiert wurden.
Die Millenniums-Agenda der UN steht nun in einem eigenartigen Spannungsverhältnis zu der Erklärung von Alma Ata einerseits und dem Unicef-Ansatz von 1981 andererseits. Zwar werden die oben genannten Gesundheitsziele von anderen gesundheitsrelevanten Zielen ergänzt (Ziel 1: Halbierung des Hungers, Ziel 2: allgemeine Grundbildung, Ziel 3: Geschlechtergleichstellung in Primar- und Sekundarschule, Ziel 7: ökologische Nachhaltigkeit inklusive sicherer Wasserversorgung und Ziel 8: globale Entwicklungspartnerschaft inklusive fairer Welthandelsordnung). Aber die verschiedenen Ziele stehen unverknüpft nebeneinander. Zudem fokussieren sich die Gesundheitsziele auf nachvollziehbare, letztlich aber doch willkürliche Prioritätensetzungen – ganz in der Tradition des Unicef-Konzepts von 1981.
Zu Recht fragen nicht nur Akteure in den Target Countries ob es sich nicht doch um den immer wieder gleichen Versuch handelt, kurzfristig attraktiv wirkende Statistiken zu erreichen, statt das schwierige Ganze anzugehen. Erforderlich wäre nämlich der Aufbau von verlässlichen, handlungsfähigen Gesundheitssystemen, die sich verbindlich um die Probleme aller Menschen kümmern und sie in Notlagen unterstützen. Dabei sind schnelle Erfolge, die Politiker glänzend aussehen lassen und Geldgebern Bestätigung geben, kaum zu erwarten. Leider mögen indessen fokussierte Einzelprogramme zwar punktuell Erfolg haben, sie treiben aber auch die Fragmentierung weiter voran. Denn sie folgen einem Aktivismus, in dem Maßnahmen zur Bekämpfung einzelner Krankheiten fast zwangsläufig miteinander in Konkurrenz um begrenzte Ressourcen an Personal, Sachmitteln und Aufmerksamkeit geraten.
Aktuell ist das besonders in Ländern wie Kenia oder Tansania zu sehen, in denen bis zu 20 verschiedene Gesundheitsprogramme mit internationaler Finanzierung (wie die großen Global Public Private Partnerships for Health wie „Roll back Malaria“, „Stop TB“ die Global Alliance for Vaccines and Immunisation“) parallel durchgeführt werden sollen (WEMOS, 2004). Vielleicht noch problematischer ist, dass die Schwerpunkte dabei in aller Regel von außen verordnet wird. Das läuft der Entwicklung einer Kultur des Beteiligtseins, des Mitbestimmens, der „Ownership“ der Gesundheitsfachkräfte sowie der aktuellen und zukünftigen Patienten – also aller vor Ort relevanten Beteiligten – diametral entgegen.
Solche Beteiligung führt aber gerade zu der nötigen und gewünschten Eigenverantwortung für Gesundheit. Es ist ein selten ausgesprochenes Paradox, dass nur die Einbettung in den gesellschaftlichen Kontext diese Haltung fördert, während Gesundheitsprobleme in der Praxis oft mit dem Schlagwort „Eigenverantwortung“ als rein private Angelegenheit entpolitisiert werden. Vorbildlich ist dagegen die guatemaltekische Dorfgemeinschaft, die sich mit der angemessenen Honorierung der „Zahnheilkünstler“ aus ihrer eigenen Gemeinde auseinandersetzt. Richtungweisend sind ehrenamtliche Erste-Hilfe-Gruppen in den Städten der Palästinensischen Gebiete, die trotz Ausgangssperren während der Intifada Medikamente für chronisch Kranke ausliefern. Als Modell kann auch die indischen Gemeinden dienen, die aus ihrer Mitte die verlässlichsten Kandidaten für die Ausbildung zur Gesundheitsfachkraft bestimmt.
Die Erfolge solchen Gesundheitsengagements lassen sich mit Statistiken und geretteten Menschenleben nicht abbilden. Aber sie reichen doch über den gelungenen Einzelfall engagierter Menschen hinaus. Sie belegen, das Gesundheit gerade nicht in der Aktivität von Experten, Professionellen und Prozeduren (seien es Medikamente, Operationen oder auch das „richtige“ Gesundheitsverhalten) aufgeht, sondern maßgeblich eine gemeinsame Anstrengung ist, die ein Teil des andauernden Bemühens um ein „gutes Leben“ ist.
Die Kreativität solcher Prozesse zu unterstützen sollte ein wesentlicher Beitrag einer Gesundheitsförderung durch internationale Hilfe sein, wie sie auch medico international leistet. Dies ist eine andere Form des „Investing in Health“ als es sich die Weltbank und die Commission for Macroeconomics and Health der WHO vorstellen. Es geht dabei nicht vorrangig um die Steigerung der ökonomischen Leistungsfähigkeit der verarmten Bevölkerungsgruppen Asiens, Afrikas und Lateinamerikas. Es geht um Kooperation mit Partnern und lokalen Strukturen, die ihre eigenen Schwerpunkte zur Verbesserung der Gesundheit setzen.
Klar ist, dass auch solche lokalen Prozesse keine harmonischen, hierarchiefreien Veranstaltungen sind, die alle Interessen gleichermaßen berücksichtigen. Es gibt die Trends der oftmals schwachen gesellschaftlichen Position von Frauen und Kindern, der Dominanz durch lokale Machtpolitiken und der Verdrängung unliebsamer Probleme (wie exemplarisch am Beispiel AIDS zu sehen). Deshalb gilt es gezielt diejenigen zu unterstützen, deren Stimme traditionell zu wenig Gehör findet. Von außen aufgedrängte Entscheidungen mobilisieren dabei eher Widerstände als kritische Auseinandersetzung.
In dieser Gefahr steht auch die gesundheitspolitische MDG-Agenda. Ihre Ziele sind nicht grundsätzlich falsch, aber sie sind nicht in kein gesellschaftliches Gesamtkonzept eingebettet. In ihrer Kontextlosigkeit drohen sie, eher den zynischen Blick auf die „Schwatzbuden“ der Internationalen Politik zu lenken, die sich in Sonntagsreden gefällt, während die Grundvoraussetzungen von Ressorcenverteilung, Weltmarktregeln und Privatisierungspolitik unverändert bleiben.
Dr. Andreas Wulf ist Arzt. Er arbeitet als Projektkoordinator Medizin bei medico international. Kontakt: wulf@medico.de
Dieser Artikel erschien in: E+Z (Entwicklung und Zusammenarbeit) Heft 08/2005, S. 320 - 322