Von Seattle nach Prag, von Dakar nach Porto Allegre

Stationen einer anderen Globalisierung

01.11.2000   Lesezeit: 8 min

Im Vorfeld des Prager Treffens von Weltbank und IWF im September war der Presse ein treffendes Urteil zur gegenwärtigen Entwicklungspolitik zu entnehmen. Der entscheidende Satz war ebenso knapp wie wahr formuliert und lautete: »Die Kürzung der öffentlichen Entwicklungshilfe ist ein Verbrechen«. Ausgesprochen wurde er nicht etwa von einem der Gewerkschafts-, NGO- oder Grassroot-Aktivisten, die zu dieser Zeit die Gegendemonstrationen organisierten. Die Sentenz stammt vielmehr von keinem Geringeren als dem Präsidenten der Weltbank, James D. Wolfensohn. Gegenüber der britischen Tageszeitung The Independent legte Wolfensohn dann noch einmal nach und bekundete der Öffentlichkeit seine Sympathie für die zu dieser Zeit bereits auf dem Weg nach Prag befindlichen Demonstrantinnen und Demonstranten: »Meine Sicht der Demonstrationen ist nicht völlig negativ. Ich begrüße die weltweit zunehmende Besorgnis über Themen wie Gleichheit und Armut.«

Solcher »Wandel durch Annäherung« fand auf dem Treffen selbst seine Fortsetzung. Zur Begrüßung der Gäste lud der tschechische Präsident Vaclav Havel, einst Dissident, jetzt Prediger der postkommunistischen Entwicklungsformel »Demokratie = Privatisierung der Staatsbetriebe + Reduzierung der Sozialausgaben«, zur Podiumsdiskussion auf den Hradschin. Dort sammelten sich neben Wolfensohn und dem neuen IWF-Chef Köhler eine gute Handvoll Prominenter aus der Internationale der Nicht-Regierungs-Organisationen zum offenen Streit nebst anschließender Gartenparty. Nachdem die NGO-Vertreter diverse Attacken gegen Weltbank und Währungsfonds vorgetragen hatten, war es diesmal der Chef des IWF, der den Schulterschluß zur Zivilgesellschaft suchte und den Anwesenden versicherte, daß auch er ein Herz besäße und eben deshalb gegen die Armut kämpfe.

Die neue Empfindsamkeit hat zwei Gründe, und beide mahnen zu äußerster Vorsicht und Reserve gegenüber den Annäherungsversuchen der Globalisierungsstrategen. Der eine hat mit ihrem kaum noch zu verbergenden Bankrott zu tun, der andere damit, daß weltweit immer mehr Menschen beginnen, aus diesem Bankrott ihre Lehren zu ziehen.

In nur zwei Jahrzehnten hat die auch und gerade von IWF und Weltbank vorangetriebene Globalisierung zu einer historisch nie zuvor gekannten Verarmung von Millionen geführt. Schon Mitte der 90er Jahre waren nach Angaben des Flüchtlingskommissariats der UNO weltweit 20 Millionen Menschen auf der Flucht, in der Mehrzahl Frauen und Kinder. Nach dem neuesten Bericht der Interamerikanischen Entwicklungsbank muß ein Drittel der lateinamerikanischen Bevölkerung, das sind 150 Millionen Menschen, von weniger als 2 Dollar täglich leben, während sich 40% des Bruttosozialprodukts in der Hand von 1% der Bevölkerung konzentrieren. Die Kaufkraft eines durchschnittlichen Gehalts ist heute ein Drittel niedriger als 1980, in den meisten afrikanischen Staaten liegt das Durchschnittseinkommen gar unter dem Niveau der 60er Jahre. 70% der weltweiten Investitionen und des Welthandels werden von den 200 größten Transnationalen Konzernen kontrolliert, 20% Prozent der Länder dieser Welt verfügen über 80% des weltweiten Sozialprodukts. Dabei ist die Verschuldung der Entwicklungsstaaten von weniger als 100 Milliarden Dollar im Jahr 1970 auf über 2000 Milliarden Dollar im Jahr 1997 angestiegen, der größte Teil muß zur Tilgung der Zinsen aufgewendet werden. Weltbank und IWF tragen dafür einen wesentlichen Teil der Verantwortung. Wie wenig sie jetzt noch anzubieten haben, belegen die Konzepte für eine »Armutsbekämpfungsstrategie«, die den neo-liberalen »Strukturanpassungsprogrammen« seit neuestem angeheftet werden. Nachdem die afrikanischen Staaten auf Druck des IWF 15 Jahre lang ihre Ausgaben für Gesundheitspolitik absenken mußten – was einer Reduktion um 20% entspricht – soll ihnen ab 2000 erlaubt werden, ihr Budget um jährlich 2% zu erhöhen. Damit kann im Jahr 2010 das Ausgabenniveau des Jahres 1985 wieder erreicht werden – während sich die gesundheitspolitische Situation zwischenzeitlich dramatisch verschärft hat. Wer eine solch verheerende Bilanz vorzulegen hat, tut gut daran, diejenigen zum Dialog zu laden, die einem die gewünschte Entlastung verweigern könnten. Kein Wunder also, daß Wolfensohn und Köhler den Rat der NGOs suchen: nicht um einen Kurswechsel in die Gegenrichtung zu veranlassen, sondern um sich Legitimation zu verschaffen und die wachsende Kritik zu besänftigen. Fraglich allerdings ist, was die NGOs bei solchen Gesprächsrunden gewinnen wollen – etwa die Erlaubnis, daß die afrikanischen Staaten ihr Budget nicht bloß um 2, sondern um 4% erhöhen dürfen, was ja immerhin einer Verdopplung dessen entspräche, was die IWF-Strategen zuzugestehen bereit sind? Man braucht wahrlich nicht sonderlich rebellisch zu sein, um einzusehen, daß der Platz von menschenrechts- und entwicklungspolitischen Nicht-Regierungs-Organisationen nicht beim Gartenfest auf dem Hradschin, sondern auf der Straße, im erklärten Nicht-Regierungs-Lager zu suchen ist! Den Demonstrantinnen und Demonstranten gegenüber hörte denn auch jegliche Freundschaft auf. Mehrere tausend anreisende Demonstranten ließ man gar nicht erst ins Land, die strategisch wichtigen Punkte der Stadt wurden von der aus allen Landesteilen zusammengezogenen Polizei besetzt, wobei die mehrere Hügel überspannende Nusle-Brücke sogar von 2 Panzern gesperrt wurde. Die martialische Rüstung lud denn auch zum Angriff, neben den gewaltfreien Demonstrationen kam es zu Ausschreitungen mit Verletzten auf beiden Seiten. Den Schulkindern hatte man vorsorglich die ganze Woche freigegeben, um sie in der angeblich bevorstehenden »Schlacht um Prag« nicht zu gefährden, den Touristen Wochen zuvor schon dringend geraten, in der fraglichen Zeit die Stadt zu meiden. Die wurde dann tatsächlich auch von vielen ihrer Bürger verlassen, die ihre Läden verbarrikadierten und die Kundschaft auf selbstverfertigten Schildern wissen ließen: »Für die Dauer der Weltbank-Tagung geschlossen!« Auch wenn die Demonstrationen den Ablauf der Tagung empfindlich stören konnten – zum neuen Seattle ist Prag nicht geworden. Dort hatten Weltbank, IWF und Regierungsdelegierte aus aller Welt Ende des letzten Jahres ein ähnliches Treffen abbrechen müssen: 35.000 Demonstranten hatten damit dringend erforderliche Absprachen im Rahmen der »Milleniums-Runde« verhindert und dem Verhandlungsmarathon eine Zwangspause verordnet. Die Schwankungen im Mobilisierungserfolg – nur 10.000 fanden letzten Endes den Weg nach Prag – belegen, daß der in Seattle erstmals sichtbar gewordene Aufschwung einer internationalen sozialen Opposition längst nicht so gefestigt ist, wie dies wünschenswert und notwendig wäre. Trotzdem zeigt die von Wolfensohn, Köhler und ihren Regierungen verfolgte Doppelstrategie – Zuckerbrot für die NGOs, Peitsche für die Straße –, daß diese Opposition mittlerweile Chancen hat, zur wirksamen Gegenmacht zu werden. Das liegt vor allem – ganz unabhängig von der Größe und Anzahl der Demonstrationen – an der neuartigen Zusammensetzung der Nicht-Regierungs-Allianz. In Seattle wie in Prag und zwischenzeitlich anläßlich des Genfer Weltsozialgipfels kamen Menschen zusammen, die einander noch vor kurzem aus dem Weg gegangen wären: militante Aktionsgruppen und NGO-Lobbyisten, Umweltschützer und Gewerkschaftsaktivisten, friedensbewegte Kirchenleute und linke Intellektuelle, vor allem auch: eine große Anzahl junger Menschen, die damit das Stereotyp von der »angepaßten Generation« widerlegten. Viele gehören neuartigen Bündnissen an, denen ein ebenso neuer, ungewohnter Politikstil entspricht – der Entschuldungskampagne Jubilee 2000 bzw. Jubilee South, der Bauerninternationale Via Campesina, dem Internationalen Frauenmarsch, dem gegen die Finanzmärkte agierenden Netzwerk ATTAC oder dem von den mexikanischen Zapatisten inspirierten Bündnis People’s Global Action (PGA). An allen Aktionen waren Gäste aus der ganzen Welt beteiligt: Vertreterinnen der brasilianischen Landlosenbewegung, nigerianische Menschenrechtsaktivisten, Gewerkschafter aus Korea und Delegierte des linken französischen Bauernverbands Confédéderation Paysanne. Das führte auf allen Seiten zu überraschenden Begegnungen: dort, wo sich ausgerechnet die traditionell eher als rechtslastig geltenden Aktivisten des amerikanischen Gewerkschaftsdachverbands AFL/CIO prügelnden Polizisten in den Weg stellten, die Jagd auf jugendliche Autonome machten. Die Vielfalt und Verschiedenartigkeit dieser Neuen Internationale offenbart ihre Stärke – und ihre Schwäche. Ihre Stärke, weil sichtbar wird, wie weit verbreitet der Protest ist und wie schnell die verschiedensten Strömungen der sozialen Opposition zusammenfinden, ohne auf eine zentrale Steuerung oder gar eine bürokratische Führung angewiesen zu sein. Ihre Schwäche, weil die Breite der Allianz enorme Unterschiede der Erfahrung, der Motive und der Interessen überbrücken muß und sich deshalb bis jetzt nur auf einen vagen Konsens stützen kann: den, irgendwie gegen den Neoliberalismus, die Globalisierung und das Finanzkapital zu sein. Was das dann aber bei indischen Kleinbauern, us-amerikanischen Stahlarbeitern, indianischen Guerilleros aus Mexiko, spanischen Nonnen und tschechischen Anarchisten im einzelnen heißt, ist noch lange nicht ausgemacht und erst recht nicht ausdiskutiert. So fällt es der Gegenseite leicht, einzelne Gruppen gegeneinander auszuspielen und auf ihre Seite zu ziehen. Dabei fühlen sich manche Demonstranten auch ohne regierungsamtliche Störmanöver oder mediale Desinformation politischen Einstellungen verbunden, die vom Standpunkt der ausgereiften Kritischen Theorie aus selbst schon zur »Gegenseite« gehören. Solchen Widersprüchen und Differenzen kann allerdings selbst wieder nur die Fortsetzung und Vertiefung der Debatte abhelfen, die Bereitschaft, sich aufeinander einzulassen, voneinander zu lernen, sich zu respektieren, ohne sich zu vereinheitlichen: eine Kultur solidarischer Kritik und kritischer Solidarität, die in begründeter Weise auch Grenzen ziehen kann. Von daher braucht man nicht allzu traurig zu sein, daß »Vernetzung« zum Modewort geworden ist: die Sache selbst bleibt trotzdem richtig.

In die Netzwerke dieser »staatenlosen Demokratie« bringen auch wir unsere Erfahrung ein. Seit Jahren schon ist medico ein Knoten im Netz der »Health Action International« (HAI), einer Allianz von Verbraucher-, Gesundheits- und entwicklungspolitischen Gruppen, die in vielen Ländern der Welt aktiv ist. Im Rahmen der Internationalen Kampagne gegen Landminen sind wir beteiligt an der weltweiten Durchsetzung des Verbots dieser Killerwaffen. In der Internationalen Kampagne für Entschuldung und Entschädigung im Südlichen Afrika streiten wir mit unseren Partnern dafür, daß den Opfern der Apartheid endlich Gerechtigkeit widerfährt und diejenigen zur Rechenschaft gezogen werden, die hier wie dort am Unrecht profitiert haben. In der Kampagne Fatal Transactions enthüllen wir, wie hinter dem angeblich »sinnlosen« Blutvergießen in afrikanischen »Bürgerkriegen« die wohlberechneten Profitkalküle transnationaler Diamanten- und Ölkonzerne wirken. Im Vorfeld von Seattle war medico im Juli des letzten Jahres mitverantwortlich für den Gegengipfel und die Gegendemonstration zum Kölner Treffen der G7-Staaten.

Unbürokratisch und kurzentschlossen unterstützen wir auch Aktivitäten, an denen wir nicht direkt Anteil nehmen können, wie etwa den Kongreß der Entschuldungskampagnen Afrikas, Asiens, Lateinamerikas und der Karibik in Johannesburg, auf dem Ende letzten Jahres das Netzwerk Jubilee South gegründet wurde. Das war uns nur durch Ihre Spenden möglich.

Bitte helfen Sie uns auch weiterhin. Im Dezember trifft sich die Jubilee-Bewegung in Dakar, um zu diskutieren, wie sie ihren Kampf für eine bedingungslose Schuldenstreichung nach dem Jahr 2000 fortsetzt. Und zum Januar des nächsten Jahres lädt die brasilianische Landlosenbewegung MST die Globalisierungsopposition der ganzen Welt nach Porto Allegre. Wir halten Sie auf dem Laufenden!

Thomas Seibert


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