Von Usche Merk und Marcus Balzereit
„Depression – let’s talk“ – dieses Thema hatte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) für den Weltgesundheitstag 2017 gewählt. Sie erinnert mit diesem Tag jährlich am 7. April an ein aus ihrer Perspektive weltweit drängendes Problem. Wenn nicht schnell gehandelt würde, so die Weltvereinigung für psychische Gesundheit (World Federation for Mental Health, WFMH), werde Depression bis 2030 zur weltweit führenden Krankheit aufsteigen.
Einst ein Stiefkind der globalen Gesundheitspolitik, steht der Bereich Mental Health – psychische Gesundheit – inzwischen weit oben auf der globalen Gesundheitsagenda. Laut WHO machen psychische Krankheiten 13 Prozent der Krankheitslast weltweit aus, 70 Prozent davon entfallen auf Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen. Dazu gibt es eine riesige Versorgungslücke: Zwei Drittel aller Menschen mit psychischen Erkrankungen werden nicht behandelt, in Ländern mit niedrigem Einkommen sogar bis zu 90 Prozent. Fachleute sprechen von einem globalen Gesundheitsskandal.
Seit mehr als zehn Jahren gibt es eine organisierte Global- Mental-Health-Bewegung, an der sich inzwischen mehr als 3000 Organisationen in 60 Ländern beteiligen. Sie orientieren sich an dem Mental Health Action Plan der WHO, den 2013 alle Mitgliedsstaaten verabschiedet haben. Dieser hat sich vier globale Ziele gesetzt: 80 Prozent der Staaten weltweit sollen bis 2020 staatliche Gesundheitspläne für Mental Health entsprechend der WHO-Leitlinien entwickeln oder aktualisieren.
Die psychosoziale Versorgung für schwere psychische Störungen soll durch gemeindenahe, in das öffentliche Gesundheitssystem integrierte Programme um 20 Prozent erhöht werden. Jedes Land soll mindestens zwei nationale Präventionsprogramme gegen psychische Störungen auf den Weg bringen, damit soll die Selbstmordrate bis 2020 um zehn Prozent gesenkt werden. Zudem sollen die Staaten alle zwei Jahre einen Bericht über ihre Fortschritte vorlegen.
Das Vorhaben ist ambitioniert, aber auch bitter nötig. Denn hinter den Zahlen verbergen sich unzählige Schicksale, das Leid und die Verzweiflung von Millionen Menschen. Vor allem die Ärmsten unter den Armen finden für ihre seelischen Nöte keine geeigneten Ansprechpartner und Orte der Unterstützung. Doch zugleich hängt die Hilfe für sie davon ab, wie ihre Probleme verstanden und beschrieben werden. Je nachdem, wie das Leid von Menschen definiert wird, gerät es in den Blick oder nicht. Hinzu kommt die Frage, welche gesellschaftlichen Interessen sich hinter bestimmten Definitionen und institutionalisierten Praktiken verbergen.
Fragwürdige Erhebungen
Zunächst die Frage nach den Zahlen. Erhebungen gehen immer bestimmte Vorannahmen voraus, und die Daten werden in den jeweiligen Ländern oft sehr unterschiedlich erfasst. So orientiert sich der Versorgungsgrad an Angaben des öffentlichen Gesundheitswesens. Andere private, traditionelle oder religiöse Hilfesysteme werden nicht berücksichtigt. Auch die Erfassung von Krankheitszahlen setzt eine bestimmte Definition von Krankheit und Gesundheit voraus, die selbst Teil einer heftigen Auseinandersetzung ist. Statistiken sind daher keine „letzten Wahrheiten“. Der Blick darauf, welche Folgen der Export eines westlichen Modells von Gesundheit in den globalen Süden hat, unterstreicht die Notwendigkeit, sich kritisch mit Global Mental Health auseinanderzusetzen.
Verschiedene Kulturen klassifizieren, diagnostizieren und heilen Krankheiten ganz unterschiedlich. Die westliche Krankheitslehre ist nur eine unter anderen. Was bei körperlichen Erkrankungen noch übertragbar sein mag, ist im Hinblick auf seelisches Leiden schon ungleich schwieriger. Denn seelisches Leid ist immer in ein System von Bedeutungen eingebettet, die sehr unterschiedlich sein können. Der international tätige Psychiater und Traumatherapeut Derek Summerfield fasst das so zusammen: „Wir müssen uns vergegenwärtigen, dass der westliche Diskurs seelischer Krankheiten zentrale Elemente der westlichen Kultur einführt, einschließlich einer Theorie über die menschliche Natur, eine Definition von Person, einen Begriff von Zeit und Erinnerung sowie ein Verständnis von moralischer Autorität. Nichts davon ist universell.“
Die Globalisierung der US-amerikanischen Psyche
Was es bedeuten kann, wenn das US-amerikanische Modell von psychischer Gesundheit in die Welt exportiert wird, hat der Wissenschaftsjournalist Ethan Watters in seinem Buch „Crazy Like Us – Die Globalisierung der US-amerikanischen Psyche“ untersucht. Sing Lee, ein chinesischer Fachmann für Essstörungen, erzählt Watter darin, wo und wann die westliche Diagnose der „Anorexie“ (Magersucht) in Hongkong ihren Anfang nahm. Es begann am 24. November 1994. An diesem Tag starb die 14-jährige Charlene Hsu Chi-Ying. Die Medien berichteten vielfach über die verhungerte Jugendliche und westliche Experten wurden um Erklärungen gebeten.
Sie empfahlen Schulprogramme gegen den „Diätwahn“, und erst infolge dessen wurden „anorektische Mädchen“ zu einem Massenphänomen. Damit begann der Siegeszug eines Krankheitsbilds, das es, so Sing Lee, in China bis dahin nicht gegeben habe. Zuvor waren in ähnlichen Fällen ausschließlich die individuellen Schwierigkeiten der betroffenen Personen in den Blick genommen worden. Der Blick auf das Einzelschicksal konnte nach diesem dramatischen Vorfall durch die Diagnose „Anorexie“ ersetzt werden.
Watters zeigt zudem am Beispiel Sansibars, dass die Erklärung, ein krankes Familienmitglied sei von Dämonen besessen, entgegen westlichen Vorurteilen zu Akzeptanz und Integration führen kann. Geister und Dämonen seien Teil des dortigen kollektiven Bewusstseins. Da man wisse, dass sie kommen und gehen, wie es ihnen beliebt, brächten Familien für die Schwierigkeiten ihrer Angehörigen viel Verständnis auf. Inzwischen säßen aber auch in Sansibar immer mehr Menschen mit einer „psychischen Krankheit“ von ihren Familien isoliert in nach westlichem Vorbild organisierten Psychiatrien. Ein Begriff von psychischer Krankheit, der sich ausschließlich am westlichen Modell orientiert, kann also gravierende Folgen haben – wenn er etwa in Ländern des globalen Südens andere, erfolgreiche und bereits sehr lange erprobte Formen der Bearbeitung seelischer Nöte verdrängt.
Zu einem westlich-medizinischen Modell gehört auch die Orientierung an standardisierten Diagnosen, nach denen sich dann die Behandlung richtet. Für die Diagnostik psychischer Krankheiten beansprucht das Diagnosemanual (DSM) der amerikanischen Psychiatervereinigung (APA) weltweite Gültigkeit, viele internationale Diagnostika richten sich danach. Die APA veröffentlichte 1952 ihr erstes Diagnosemanual mit zunächst 106 Störungen. Das dritte Manual von 1968 enthielt bereits 265 Diagnosen und vollzog zudem einen folgenreichen Paradigmenwechsel.
Psychische Störungen als „Krankheiten des Gehirns“
Die bis dahin noch stark psychoanalytisch ausgerichtete Psychiatrie verlor zugunsten einer ausdrücklich biomedizinisch orientierten Psychiatrie. Die Frage nach den Relationen zwischen den unterschiedlichen psychischen Instanzen (Es, Ich, Über-Ich) und zu Fragen gesellschaftlicher Normen wurde damit von einem Verständnis psychischer Störungen als „Krankheiten des Gehirns“ abgelöst. Die Kategorien Ursache und Wirkung ersetzten die Fragen danach, wie sich jemand selbst beurteilt und wie er den Sinn und Zweck einer Handlung interpretiert.
Damit rückte die Psychiatrie wieder näher an die Medizin heran und erhöhte zugleich ihren Status und ihre Reputation. Darüber hinaus wurden Ansprüche anderer Professionen wie Sozialarbeiter und Berater im Umgang mit psychisch Kranken zurückgedrängt. Beides hat auch mit der Legitimationskrise der Psychiatrie durch die anti-psychiatrische Bewegung in den 1960er und 1970er Jahren zu tun, die das Konzept einer universalen, objektiven und von sozialen Kontexten befreiten Diagnose infrage stellte.
Mit jeder Ausgabe des DSM erhöhte sich die Zahl der Diagnosen. An der fünften Ausgabe, die seit Mai 2013 gültig ist und 374 psychische Krankheiten beschreibt, entwickelte sich jedoch auch Kritik – das Manual macht es erstmals möglich, jede Verhaltensauffälligkeit als „milde“ Störung zu diagnostizieren. Auf diese Weise kann zum Beispiel die Trauer über den Tod eines nahen Angehörigen bereits nach zwei Wochen mit dem Etikett „Depression“ versehen werden. Selbst Autoren früherer DSM-Manuale kritisierten das mit den Worten, es gelte, die „Normalität vor der Pathologisierung zu retten“. Damit bleibt für eine „normale“, nicht pathologisierende Bearbeitung von Tücken der eigenen, endlichen und zerbrechlichen Existenz sowie für eine Auseinandersetzung mit den Ursachen struktureller Gewalt schlicht kein Platz mehr.
Posttraumatische Belastung – ein Störungskonzept?
Die Problematik von Diagnosen zeigt sich etwa bei der „Posttraumatischen Belastungsstörung“ (PTBS), die höchst kontrovers diskutiert wird. Ein Leiden, das sich schon per Definition als Auswirkung äußerer Ereignisse auf das Individuum versteht, wird über die Diagnose zu einem Störungskonzept, das die komplexe Wirkung von Gewalt auf einen Katalog von Symptomen reduziert. Seit der neurobiologischen Wende werden diese Symptome im Wesentlichen als Störungen der Erinnerungsspeicherung im Gehirn gesehen und entsprechend therapiert – manchmal vollkommen losgelöst von den äußeren Entstehungsbedingungen.
Doch traumatische Erfahrungen können nicht getrennt von der subjektiven Wahrnehmung der auslösenden Ereignisse definiert werden. Ein Trauma ist charakterisiert von der Wechselwirkung zwischen einem äußeren Ereignis und der individuellen, um Verständnis und Problemlösung ringenden Reaktion von Menschen. Die wiederum ist abhängig vom gesellschaftlichen Umgang mit der traumatischen Erfahrung.
Aus den Diagnosen folgen bestimmte Formen der Behandlung und Hilfe. So liegt dem Mental Health Gap Action Programme (mHGap) der WHO, das die behauptete Versorgungslücke in den armen Ländern des globalen Südens schließen will, ein deutlich neurobiologisches Verständnis von psychischer Krankheit zugrunde. Höchst unterschiedliche Phänomene werden unter „mental, neurological and substance use disorders“ zusammenfasst und in sechs Störungsformen unterteilt: Depressionen, Psychosen und bipolare Störungen, Epilepsie, Verhaltensstörungen bei Kindern und Jugendlichen, Demenz und suchtbedingte Störungen. Das entsprechende Interventionsmanual sieht als geeignete Behandlungsformen vor allem verhaltenstherapeutische Methoden und Psychopharmaka.
Doch angesichts von Standardprogrammen, die mit wenigen Ressourcen ambitionierte Ziele erreichen sollen, sowie den Interessen von Gesundheitssystemen und Pharmaunternehmen, ist die Gefahr groß, dass am Ende nur die massenweise Verabreichung von Psychopharmaka übrig bleibt. Die Mental-Health-Versorgung droht, zur Zwei-Klassen-Medizin zu werden, die zwischen Armen und Reichen und deren gesellschaftlicher Relevanz unterscheidet.
Denn der Störungsbegriff im Diagnosemanual fragt zuerst nach der beruflichen und privaten Funktionsfähigkeit eines Menschen, das Erleben von Leid als Kriterium für eine Störung wird häufig erst an dritter Stelle genannt. Damit kommt ein mächtiger Begriff von Normalität in die Welt: Patienten mit einer Störung seien unfähig, sich unauffällig – sprich: normal – zu verhalten. Solche Diagnosen können in dem Maße, in dem sie gesellschaftlichen und ökonomischen Strukturen gegenüber blind und auf eine Behandlung des Einzelnen ausgerichtet sind, auch als Versuche interpretiert werden, die „Gestörten“ an die herrschenden Verhältnisse anzupassen. Im Kontext globaler Ungleichheit müssen sich Mental-Health-Programme im globalen Süden fragen lassen, ob sie als Ersatz für die Schaffung gerechter, menschenwürdiger Lebensbedingungen dienen und den Einzelnen die Verantwortung für ihr Leiden auferlegen.
Zur Suche nach geeigneten Formen der Unterstützung von seelisch leidenden Menschen gehören also gleichzeitig die Verteidigung und die Kritik von Hilfe. Es gilt, denen Gehör und Unterstützung zu verschaffen, die gesellschaftlich ausgegrenzt und ohne soziale Versorgung sind und nach einer Anlaufstelle für ihre Nöte suchen. Es muss ein reduzierter und normativer Begriff von Gesundheit kritisiert werden, der menschliche Handlungen nur in den Begriffen von Ursache und Wirkung zu fassen versucht und sich alleine des medizinischen Modells von Krankheit bedient. Und schließlich muss nach Wegen gesucht werden, wie die Bedingungen gesellschaftlich produzierter Notlagen verändert und überwunden werden können: für eine soziale Infrastruktur und ein gutes Leben für alle Menschen.
Zuerst erschienen in welt-sichten Ausgabe 8/2017: Wenn die Seele krank ist.