Globalisierung ist in aller Munde – spätestens seit den großen Protesten anläßlich der WTO-Tagung in Seattle, denen eine Reihe ähnlicher Zusammenstöße der bis dahin oft auch von den Regierungen gelobten Zivilgesellschaft mit den hochkarätigen Gesprächs- und Verhandlungsrunden von IWF, WTO, der G8 oder des Weltwirtschaftsgipfels in Davos folgten.
Hinter dem griffigen Schlagwort verbergen sich eine ganze Reihe von Entwicklungen, die an sich nicht neu sind, aber vor allem in den letzten zehn Jahren in ihrer Dynamik enorm zugenommen haben. Ich möchte mich nach einer kurzen Übersicht vor allem auf die Einflüsse dieser Entwicklungen auf die Gesundheit und die Gesundheitssysteme in verschiedenen Regionen und Ländern konzentrieren.
Globalisierung im weiten Sinn ist der Fluß von Informationen, Waren, Kapital und Menschen über politische und ökonomische Grenzen hinweg. Schon daran wird deutlich, dass die Globalisierung keine Erfindung der letzten zehn Jahre, auch nicht des modernen kapitalistischen Wirtschaftssystems ist. Auch der weltweite Austausch von Ideen und Kulturen ist nicht neu. Neu ist dagegen das Ausmaß und die Geschwindigkeit dieser Globalisierung. Die “Abschaffung der Entfernung” wurde ausgerufen, dank Satelliten und moderner Telekommunikation scheint jeder Ort der Welt jederzeit erreichbar geworden zu sein – und auch die physische Bewegung hat in einem enormen Ausmaß zugenommen: gab es 1950 zwei Millionen Flugpassagiere pro Jahr, so sind es heute jährlich 1,4 Milliarden . Auch die unfreiwillige Mobilität von Flüchtlingen hat enorm zugenommen – der UNHCR zählte im letzten Jahr mehr als 30 Millionen Flüchtlinge, die ihre Heimatländer verlassen mußten.
Globalisierung steht aber heutzutage vor allem für eine ökonomische Strategie, die das möglichst ungehinderte Wirken des freien Handels und der Marktkräfte weltweit propagierte, um ein größtmögliches Wirtschaftswachstum und zugleich eine möglichst effiziente Organisation der Märkte zu sichern. In diesen sollen die Interessen der einzelnen Bürger als selbstbewußte Konsumenten nach günstigen und qualitativen Produkten durch das Gesetz von Angebot und Nachfrage gesichert werden. Staatliche Kontrolle und Förderung der heimischen Märkte stehen dem ebenso entgegen wie Importzölle und Begrenzungen von Investitionen ausländischer Konzerne. Dieses sogenannte Neoliberale Wirtschaftsmodell wurde in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts zur Überwindung der langen Rezession in den reichen Industriestaaten vor allem in den anglophonen Staaten propagiert und als Reagonomics und Thatcherismus bekannt. Im Zuge der massiven Verschuldungskrise, in die die meisten Entwicklungs- und auch Schwellenländer in diesem Jahrzehnt gerieten, wurden ihnen vom Weltwährungsfonds und der Weltbank Strukturanpassungsmaßnahmen auferlegt, die mit den gleichen Rezepten arbeiteten: Privatisierung, Deregulierung der eigenen Märkte und Handelsliberalisierungen sollten nicht nur ihre eigene Wirtschaft weltmarkttauglich machen sondern auch ausländische Investitionen ermöglichen und so eine eigene kapitalistische Entwicklungsperspektive bieten.
Mit dem Zusammenbruch der sozialistischen Planwirtschaften am Ende dieses Jahrzehnts schien sich die kapitalistische Marktwirtschaft als das überlegene Wirtschaftsprinzip endgültig bestätigt zu haben. Erst die durch kurzfristige Finanztransaktionen ausgelöste massive Wirtschaftskrise der asiatischen Tigerstaaten 1997-98, in deren Folge Malaysia, Südkorea, Thailand und Indonesien zwischen 20 und 35 Prozent ihres Bruttosozialproduktes einbüßten , ließ an der Stabilität des “Endes der Geschichte” das schon ausgerufen worden war, zweifeln.
Welche sozialen Folgen wird diese Art von Globalisierung, die alle Bereiche der Gesellschaft in Märkte verwandeln will, haben? Es darf ja nicht vergessen werden, dass die “Liberalisierung der Märkte”, die sich die Globalisierung auf die Fahne geschrieben hat, natürlich auch weiterhin die Machtverhältnisse in der Welt reflektiert – liberalisiert wird, was den schon Erfolgreichen nützt: In der WTO stehen die Abkommen zum Handel von Dienstleistungen, zu globalen Investitionen und Wettbewerbspolitik und das Abkommen zum Schutz der Intellektuellen Rechte an erster Stelle, während die Bereiche, die von den reichen Staaten selbst am meisten geschützt sind – vor allem die Agrarproduktion und der Textilmarkt – und in denen die Entwicklungsländer Exportchancen hätten, weiterhin hart umkämpft sind . Die Weltbank schätzt die staatliche Förderung der heimischen Agrarmärkte der EU und der anderen Industriestaaten auf einen Betrag von einer Milliarde Dollar täglich – der sechsfache Betrag, der als Entwicklungshilfe von ihnen geleistet wird.
Wie also wirkt sich die Globalisierung auf die Gesundheit der Menschen und die Gesundheitssysteme der Staaten, die ja trotz aller Globalisierung immer noch eine zentrale politische Organisationsform sind, aus?
Die katastrophische Seite
Vor allem die im Rahmen von Globalisierungsmaßnahmen vorgenommenen Liberalisierung von Finanz- und Arbeitsmärkten hat einen negativen Einfluß auf die Verteilungsgerechtigkeit ebenso wie auf die Gesundheitsverhältnisse, weil in den entstehenden Sonderwirtschaftszonen gewerkschaftlich ausgehandelte Mindestlöhne und Höchstarbeitszeiten abgeschafft sind und Arbeitsschutzbestimmungen kaum noch eingehalten werden. Die Maquila-Industrien in Mittelamerika sind dafür ebenso charakteristisch wie die “Sweat-shops”, die Schwitzbuden in den USA; in denen vielfach illegalisierte Migranten für die Bekleidungsmultis schuften. Am massivsten sind die gesundheitlichen Folgen zu beobachten in den Staaten der früheren Sowjetunion, die in den 90er Jahren mit einem starken ökonomischen Einbruch, steigenden Arbeitslosenzahlen und Zunahme der sozialen Ungleichheit konfrontiert waren. Individuelle und gesellschaftliche Folgen wie Depressionen, Alkoholismus, häusliche Gewalt, stress-bedingte Krankheiten und Tod durch Herzkreislauferkrankungen, Suizide und Gewalt trafen vor allem eine neu entstehende Schicht von “Transitions-Verlierern” aus zumeist männlichen Arbeitern, Kollektivbauern und mittleren Partei-Funktionären ohne weitergehende Ausbildung, oftmals arbeitslos und Migranten oder Angehörige ethnischer Minderheiten. Die Reprivatisierung der großen Staatsbetriebe brachte eine neue Elite hervor, deren Aneignungsstrategien oft mit Korruption und maffiösen Methoden einherging, was zusätzlich zu den realen materiellen Notlagen Gefühle von ohnmächtiger Wut, Hoffnungslosigkeit und Kränkung erzeugte, die an den sozialen und gesundheitlichen Verwerfungen mitbeteiligt sind. Die nüchternen statistischen Zahlen bilden das Ausmaß der gesundheitlichen Folgen nur unzureichend ab: Die Lebenserwartung fiel in Russland, Weißrußland, Kazachstan und der Ukraine für Männer um 3 bis 4,5 Jahre in den zehn Jahren von 1989 bis 1999, bei Frauen war dieser Verlust geringer (1,5 bis 2,5 Jahre). Schätzungsweise vier Millionen zusätzliche Tote kommen auf das Konto dieser ökonomischen Krise in diesen Ländern.
Auch in Ländern mit nur vorübergehenden ökonomischen Krisen in den “globalisierten” 90er Jahren sind gesundheitliche Folgen des plötzlichen Einkommensverlustes vieler Haushalte noch lange nach der Erholung der makroökonomischen Ziffern zu spüren. Untersuchungen der Weltbank über die Folgen der Mexikanischen (1995) und Thailändischen (1997-98) Finanzkrisen zeigten langfristige Verschlechterungen des Gesundheitsstatus von Kindern, die während der Finanzkrise die Schule verlassen und in gesundheitsgefährlichen Arbeitsplätzen zum Familieneinkommen beitragen mußten oder sogar unmittelbar dauerhafte geistige Leistungseinbußen durch akute Unterernährung erlitten . Eine zentrale Frage ist die nach der Verteilung des Gewinns aus dem ökonomischen Wachstum, das die Globalisierung unzweifelhaft in einer ganzen Reihe von Staaten hat. Die Verteilung des Reichtums ist einer der stärksten Faktoren, der die Gesundheit nicht nur des Einzelnen, sondern der Bevölkerung als ganzes beeinflußt. Als drastisches Beispiel mag die durchschnittliche Lebenserwartung der männlichen Bewohner von Harlem, NYC gelten, die ebenso hoch (oder so niedrig) ist wie die der Männer in Bangladesh, schätzungsweise 58 Jahre.
... und der “Normalzustand”
Im marktorientierten Kontext der “Globalisierung” wurde der öffentliche Sektor als ineffizient angesehen, da es keine ökonomischen Anreize gab, sich effizient zu verhalten. Solche Anreize sollte vor allem der Wettbewerb schaffen, Privatisierung der vormals staatlichen Gesundheitssysteme war deshalb in den 80er und 90er Jahre weltweit das Patentrezept der Wirtschaftsstrategen. Der Staat sollte sich auf seine Rolle als Rahmensetzer zurückziehen, der Markt sollte eine größere Transparenz und bessere Kontrolle über das Leistungsangebot herstellen. Patienten sollten sich nicht mehr als dankbare Hilfsempfänger, sondern als Kunden verstehen, die kompetent Gesundheitsdienstleistungen am Markt einkaufen, Krankenversicherungen, ÄrztInnen, TherapeutInnen und Pflegende als Anbieter solcher Leistungen.
Am radikalsten wurden diese Rezepte den hochverschuldeten Entwicklungsländern verordnet, die durch die Reduktion oder kompletten Abbau der staatlich finanzierten öffentlichen Dienste wie Gesundheit und Bildung und weiteren öffentlichen Subventionen, etwa für Grundnahrungsmittel ihre Ausgabenseite sanieren sollten. Aber auch in den Industriestaaten wurden die Konzepte von Wettbewerb und ökonomischen Anreizen zur Kosteneinsparung und Effizienzsteigerung der Gesundheitssysteme favorisiert – die “health sector reform” war das Schlagwort des Jahrzehnts, mit dem ein “kontrollierter Wettbewerb” eingeführt wurde.
Besonders die Gesundheitsmärkte in den OECD-Ländern, nach aktuellen Schätzungen mit einem Jahresumsatz von drei Billionen US$, sind dabei von privatwirtschaftlichem Interesse. Wachstumsprognosen sehen eine Steigerung in den nächsten fünf Jahren noch auf vier Billionen US$ , ein ordentlicher Kuchen, um den es sich zu streiten lohnt. Neben den schon immer transnational arbeitenden Pharmaunternehmen sind die Interessenten große Krankenhauskonzerne, die eine Expansion über die jeweiligen Landesgrenzen hinaus suchen oder Versicherungsgesellschaften, die neue Kunden anwerben. Auch spezialisierte medizinische Dienstleistungsangebote lassen sich zunehmend über die Grenzen hinweg anbieten und wahrnehmen. Mit Hilfe der Telemedizin ist die physische Präsenz des Arztes beim Patienten für Diagnostik und Therapie nicht mehr erforderlich. Und auch Laborleistungen lassen sich, entsprechende Transportwege vorausgesetzt, globalisieren.
Welche Effekte haben diese Gesundheitsreformen? Wer profitiert davon und wer kommt dabei zu kurz? Ein Blick in die Entwicklungsländer kann dabei Tendenzen aufzeigen, die bei uns sich erst andeuten, aber unter ähnlichen Vorgaben ebenfalls Realität werden können
Public-private Mix: interner und externer Brain-Drain
Eine schon lange existierende Form der Globalisierung im Gesundheitswesen ist die Arbeitsmigration von GesundheitsarbeiterInnen. Der überwiegende Teil findet als Süd-Nord-Migration statt, von Entwicklungs(- oder Schwellen)ländern in die reichen Zentren der Welt. Typische “Export-Länder” sind Indien, Philippinen und Südafrika, von wo aus ÄrztInnen, Pflege- und technisches Personal in den Mittleren Osten, die USA, Großbritannien und Australien emigrieren. Dies kann dramatische Ausmaße annehmen. 70 Prozent aller philippinischen Krankenschwestern arbeiten außerhalb des Landes; in Südafrika verläßt ein Drittel bis die Hälfte aller Absolventen der medizinischen Fakultäten das Land kurz nach dem Examen , die südafrikanische Gesundheitsministerin verhandelte vor kurzem mit der kanadischen Regierung, um das offensive Anwerbungen durch kanadische Krankenhäuser einzuschränken. Mit sich verschlechternden Arbeitsperspektiven im eigenen Land, sinkenden Löhnen im öffentlichen Sektor verschärft sich diese Tendenz, die individuell verständlich und gerechtfertigt ist, für das Versorgungssystem als ganzes aber katastrophale Folgen hat, weil ein systematischer Abfluß von Fachwissen einsetzt, der in diesen Ländern dringend benötigt wird. Dieser externe Brain-Drain wird verstärkt durch einen internen vom öffentlichen zum privaten System, da viele GesundheitsarbeiterInnen nicht mehr allein von den öffentlichen Löhnen leben können. Wenn sie nicht komplett privat arbeiten können verschieben sie doch die Gewichte in diese Richtung, Dazu zählen offizielle und nicht offizielle Bezahlungen für ihre Dienste, die Vernachlässigung der Arbeit im öffentlichen Sektor oder die Rekrutierung von Privatpatienten aus den öffentlichen Sprechstunden, die sie noch abhalten.
Diese Überlebensstrategien der GesundheitsarbeiterInnen gefährden besonders den Zugang zu einer geregelten Gesundheitsversorgung für diejenigen, die nicht für solche teil- oder ganzprivatisierten Dienste aus der eigenen Tasche zahlen können, da vielfach staatliche Kompensationsmechanismen für Bedürftige nur unzureichend funktionieren. Auch verschärft sich die Diskrepanz in der Versorgung zwischen den Städten und den ländlichen Gebieten, da nur in den Städten Gesundheitsarbeiter genügend Gelegenheit zu solcher privater Praxis finden und diese deshalb ungern verlassen.
Die Kombination aus ökonomischer Notwendigkeit und Marktideologie, nach der sich jeder selbst der nächste ist, führt nicht nur zu einer radikalen Beschädigung des professionellen Ethos, das einer “catch as catch can”-Haltung weicht, sondern verstärkt auch die Entwicklung eines zweigeteilten Gesundheitssystem in ein schäbiges öffentliches mit unmotivierten, überarbeiteten und schlechter qualifiziertem Personal und einen Privatsektor, der qualifizierte Leistungen nur gegen Bezahlung bereitstellt und der keine Verantwortung für die gesundheitliche Versorgung der ökonomisch Schwachen übernimmt.
Sind dies auch Verhältnisse, wie sie hier kaum in Kürze zu erwarten sind, so liegen ihnen doch Strategien zugrunde, die auch in unserem Gesundheitssystem Wirkung zeigen. Die Verwandlung des Arzt-Patienten-Verhältnisses in eine Geschäftsbeziehung nach der Logik der Dienstleistungsmärkte macht aus Patienten Kunden, die Leistungen nachfragen und von den Anbietern (ÄrztInnen, TherapeutInnen, Pflegende) angeboten werden.
Konsumentenkonzept – mangelnde Nachfragemacht
Gegen das Patient-als-Konsumenten-Konzept sind wichtige Einschränkungen anzumerken: Der Informationsvorsprung der medizinischen Experten – und besonders in seiner schichtspezifischen Wirkung - ist prinzipiell uneinholbar. Die Nachfrage des Patienten erfolgt in der Regel unspezifisch und wird erst durch die Fachkompetenz des Anbieters (Arztes) zu einem Angebot konkreter Dienstleistungen. Auch ist Patient-Sein mit Ängsten, Schmerzen und Hilfsbedürftigkeit verbunden und macht eine vertrauensvolle Haltung gegenüber dem Helfer erforderlich, die die Rolle des “souveränen Konsumenten” schwächt. Schließlich tendiert das Marktmodell zur Ausweitung der durchgeführten Maßnahmen, unabhängig von ihrem Nutzen. Denn auch der Medizinbetrieb unterliegt wie die Patienten der für Warengesellschaften verständlichen Einschätzung, nachdem “mehr Medizin” automatisch besser für die Gesundheit ist und “teurere Medizin” besser als “billige Medizin” ist. Somit wird auch der finanziell gutgestellte Patient vielleicht wie ein “königlicher Kunde” bedient, aber nicht wie ein kranker Mensch behandelt.
Wichtig bleibt daher nicht nur, die Seite der Patienten zu stärken, wie es im Bereich der chronischen Erkrankungen durch Selbsthilfegruppen geschieht, in denen Patienten zu Experten “in eigener Sache” werden, sondern generell ist das Konsumentenkonzept in Frage zu stellen, weil es die Eigenleistung des Patienten bei der Herstellung seiner eigenen Gesundheit systematisch ausblendet. Dies ist der wesentliche Unterschied zwischen dem kranken Menschen und dem kaputten Auto, das man in die Reparatur gibt.
Zudem verdeckt das Konsumenten-Konzept auch die soziale Schichtspezifik dieser Abhängigkeit von den medizinischen Experten: bessere Bildung ermöglicht mehr Handlungsspielräume gegenüber den Experten und so gewinnen Mittel- und Oberklasse-Angehörige von Wahlmöglichkeiten nach dem Konsumentenkonzept mehr als die die niedrigerer Schichten.
Kommerzielle Präsens über Grenzen hinweg
Verschärft wird diese Tendenz durch eine weitere Form des Handels mit Gesundheitsdienstleistungen, der kommerziellen Präsenz von großen Krankenhauskonzernen, die mit Joint Ventures zusätzliche private Einrichtungen in anderen Ländern aufbauen, zum Teil um die niedrigeren Lohnkosten für einen “Behandlungstourismus” zu nutzen, aber auch, um das kaufkräftige Segment des jeweiligen Segmentes abzuschöpfen – cream skimming – ist der passende Ausdruck dafür, denn mit der Konzentration auf High-tech-Medizin im Gegensatz zu breiteren Dienstleistungen werden Ressourcen speziell auf diejenigen konzentriert, die dafür bezahlen können. Thailand ist ein Beispiel für eine solche Dynamik im Gesundheitsbereich. Ein interner brain drain setzte nach der Eröffnung solcher joint venture Krankenhäuser ein, der die höher qualifizierten Kräfte in den privaten Bereich zog und die Versorgung im öffentlichen Sektor und besonders in den ländlichen Gebieten weiter beeinträchtigte.
Auch in Indien werden solche Joint Ventures benutzt, um kostengünstige Behandlungen im Vergleich zu den westlichen Industriestaaten anzubieten. So kosten dort Bypass-Operationen ein Zehntel des üblichen Preises in den USA . Sind es auch vor allem bisher regionale Schwerpunkte, die sich in diesem grenzüberschreitenden Handel mit Gesundheitsdiensten ausdrücken – so verzehnfachte sich der Betrag, den Patienten aus Bangladesh in Indien für spezialisierte Gesundheitsversorgung, zumeist für Krebs, Herz und Nierenerkrankungen ausgaben, von 1993/94 bis 1998/99 . Eine ähnliche Rolle als “regionale Zentren für HighTech Medizin” spielen für den Mittleren Osten spielen Jordanien und der Libanon.
In der Tendenz sind solche Entwicklungen, die zu einer Vergrößerung der Kluft zwischen den attraktiven Patienten, an denen sich verdienen läßt und den lästigen Armen, deren Gesundheitsprobleme sich nicht betriebswirtschaftlich lohnen, auch in den Strategien erkennbar, die aktuell in der Umgestaltung der Krankenhäuser in Deutschland wirksam sind.
Krankenhausversorgung – Profitcenter
Die Kosten für die stationäre Versorgung sind der größte Einzelposten in der gesetzlichen Krankenversicherung. Dementsprechend groß war und ist das Interesse, hier durch verstärktes betriebswirtschaftliches Management Kosten einzusparen. Dazu gehören auf der Tagesordnung marktliberaler Gesundheitspolitik neben der Privatisierung von Krankenhäusern vor allem interne Umstrukturierungen, die aus Verwaltungseinheiten, Service-Bereichen wie Wäscherei oder Küche und klinischen Fach-Abteilungen sog. Profit-Center machen, die im Rahmen der Krankenhausgesamtplanung eigenständig wirtschaften. Sie orientieren ihre Angebote direkt an dem Bedarf ihrer “Kunden” und nutzen Gewinne auch in gewissem Rahmen selbst zur Reinvestition oder Umsatzbeteiligung der MitarbeiterInnen. Mögliche Vorteile dieser Konzepte liegen neben der größere Transparenz und Optimierung von Abläufen innerhalb der “Profit-Center” in der stärkeren Motivation und Eigenverantworlichkeit der MitarbeiterInnen. Diese können ohne Zweifel zu wichtigen und längst überfälligen Verbesserungen im Bereich der Arbeitsbedingungen und der Patienten-Freundlichkeit der Institution Krankenhaus führen.
Dem stehen gewichtige Risiken gegenüber. Gesundheitspolitische Zielvorstellungen, die einen “Versorgungsauftrag” formulieren, also an einer gesicherten Krankenhausversorgung für die Bevölkerung festhalten, lassen sich mit Profit-Center Strukturen schwerlich vereinbaren. Durch die Bildung eigenverantwortlicher Substrukturen innerhalb des Krankenhauses (und auch durch das neue Finanzierungsinstrument der DRGs, mit der nicht mehr Krankenhaustagessätze von den Kassen finanziert werden, sondern festgelegte Entgälte für standardisierte Behandlungsfälle) fallen wichtige Möglichkeiten der Quersubventionierung weg. Schon wenige, besonders “teure” Behandlungsfälle können die betriebswirtschaftliche Rechnung des Profitcenters aus der Bahn werfen. Systematisch wird so eine Vermeidung der Behandlung kostenintensiver Patienten gefördert. Schon jetzt zeigt sich die Tendenz in betriebswirtschaftlich streng geführten Krankenhäusern, solche Patienten trotz offiziellem Versorgungsauftrag abzuwehren. Verdeckter findet eine solche Risikoabwehr statt, wenn bestimmte Behandlungen, die sich nicht ausreichend standardisieren lassen, nicht mehr angeboten werden.
Medikamente für die Armen?
Ein wichtiger Teil des Gesundheitswesen ist die Arzneimittelproduktion. Auch dieses Thema wurde in der WTO heiß debattiert, da sich die Transnationalen Pharmamultis ihre Erfindungen und Entdeckungen (oftmals auch nur die Entwicklung zur Marktfähigkeit oder die Vermarktung von Substanzen, die mit öffentlichen Forschungsgeldern entwickelt wurden) mit einem 20jährigen Patentschutz weltweit absichern lassen wollen und dabei vor allem von ihren Heimatländern, allen voran den USA unterstützt werden. Dieses Patentrecht sichert die Profite der Hersteller und verhindert für diesen langen Zeitraum eine effektive Produktkonkurrenz durch die Nachahmerpräparate (Generika). Die enormen Preisdifferenzen wurden in den beiden letzten Jahren vor allem am Beispiel der virushemmenden Medikamente zur Behandlung von AIDS diskutiert und führten zu einem unerwartet erfolgreichen Druck auf die Hersteller, relevante Nachlässe zuzulassen. Dabei ist die Tatsache, dass es eine medikamentöse Therapieoption überhaupt gibt für diese neue Gesundheitskatastrophe in den Entwicklungsländern eher ein “glücklicher Zufall” zu nennen, wenn es sich angesichts des Ausmaßes nicht verbieten würde, von Glück zu sprechen. Denn die meisten der Gesundheitsprobleme der Habenichtse in diesen Ländern, soweit eine medikamentöse Therapie sinnvoll erscheint, sind in der Logik der Pharmakonzerne, ihrer Manager und Aktionäre im wahrsten Sinne des Wortes nichts wert, weil sie über keine Kaufkraft verfügen, die das Engagement für neue Medikamente oder Impfstoffe gegen Malaria, Tuberkulose oder Schlafkrankheit rentabel erscheinen lassen.
Auf der Suche nach “Block-bustern”, den großen Gewinnern im Kampf um die Marktprozente konzentrieren sie sich auf die Probleme und Bedürfnisse der wohlhabenden Staaten – das nächste Antidepressivum, der neueste Blutdruck- oder Blutfettsenker, auch Viagra für Frauen ist in der Forschungspipeline. Kürzlich fand ich die Meldung aus den Gentech-Labors, dass jetzt endlich der Genort des männlichen Haarausfalls gefunden worden sei, so dass wir wahrscheinlich in Kürze mit dem ultimativen Medikament gegen diese vorletzte Hürde auf dem Weg zur ewigen Jugend rechnen können. Selbst ein Mittel gegen Heimweh von Haustieren ist in der Entwicklung bei einem Pharmamulti.
Konkurrenz der Versicherer
Eine begrenzte Konkurrenz der gesetzlichen Krankenkassen um Versicherte wurde 1992 mit der Gesundheitsreform eingeführt, um Wirtschaftlichkeitsreserven zu erschließen und mit zur Beitragsstabilität, mithin der Lohnnebenkosten, das goldene Kalb der aktuellen Bundesregierung, beizutragen. Zwar wurden interne Umverteilungsmechanismen zwischen den Versicherungen eingeführt, aber der Wettbewerb um die “besseren Risiken” gegen die “schlechteren Risiken”, also um diejenigen, die weniger Kosten verursachen als Beiträge zahlen, ist der wesentliche Mechanismus, der im Wettbewerb Erfolg verspricht. Dies richtet sich nicht nur gegen chronisch Kranke, sondern enthält eine spezifische Vergrößerung der sozialen Gräben, weil bekanntermaßen angehörige der sog. unteren Schichten aufgrund ihrer Lebens- und Arbeitsbedingungen stärker von Krankheit, Behinderung und vorzeitigem Tod bedroht sind und entsprechend häufig von solchen Entwicklungen betroffen sein werden. Man muß nicht so weit wie nach Chile blicken, wo unter der Diktatur bereits vor über 20 Jahren begonnen wurde, systematisch eine private Krankenkassenkonkurrenz zur allgemeinen Sozialversicherung gemäß den wirtschaftsliberalen Vorgaben der Chicagoer Ökonomen zu fördern.
Aber in diesem Extrem wird das Prinzip besonders deutlich:
Gezielt werben die privaten, profitorientierten Krankenversicherungen junge, gutverdienende Kunden an, denen sie für ihre Einkommensklasse günstige Einstiegsprämien anbieten können, während ärmere, besonders kinderreiche Familien kaum bezahlbare Policen bei den Privaten finden und weiterhin auf die öffentliche Grundversicherung angewiesen sind, die wie die deutsche GKV lohnabhängige Beiträge kennt. Damit bedienen sie sich der Technik der “Rosinenpickerei”, da sie gezielt den sozial besser gestellten Teil der Gesellschaft versorgen, der auch im Durchschnitt geringere Erkrankungsrisiken trägt, die wie überall sozial ungleich verteilt sind.
Aber auch die Besserverdienenden werden allzuoft durch hohe Zuzahlungsregelungen bei schwerwiegenden und vor allem langdauernden, chronischen Krankheitsverläufen in ihrer vermeintlichen besseren Absicherung enttäuscht. Die wenigsten Versicherten wissen genau über ihren Versicherungsschutz Bescheid, den sie zudem in “gesunden Zeiten” abschließen, wenn eine umfassende Einschätzung möglicher Erkrankungssituationen für den Versicherten schwierig einzuschätzen ist.
Die von den Ökonomen erwünschte “Markttransparenz” stellt sich so nicht her, mit der Folge, dass insbesondere mit steigendem Alter, wenn die Versicherungsprämien auch für Besser- und Gutverdienende oft unbezahlbar werden, die Versicherten wieder auf die öffentliche Sozialversicherung angewiesen sind, just dann, wenn sich erfahrungsgemäß chronische Beschwerden und Erkrankungen zunehmen. So entlastet sich die private Versicherungsbranche zusätzlich von Kosten und schiebt die Einkommensschwächsten, die Kränkesten und Ältesten, die mit den höchsten Gesundheitsrisiken, dem öffentlichen Sektor zu.
Die Diskussionen rund um die Reform der sozialen Sicherungssysteme in Deutschland enthüllen ähnliche Strategien, insbesondere die Teilprivatisierung der Rentenversicherung. Auch die Diskussionen um Rückerstattungen von Krankenkassenbeiträge für Kostengünstige Versicherte (ähnlich wie beim unfallfreien Autofahren) zeigen bereits die Richtung an, in die gedacht wird. Noch ist das gesundheitspolitische Solidarprinzip – das sich der Unterstützung einer breiten Mehrheit in den Bevölkerungen der jeweiligen Länder erfreut - nicht aufgegeben und ermöglicht so Umverteilungen zwischen Jungen und Älteren, Familien und Singles, Männern und Frauen, Menschen mit höheren und niedrigeren Gesundheitsrisiken, Besser- und Schlechterverdienenden. Aber der Wettbewerb um die “guten Risiken” findet verdeckt schon statt. Gezielt werden zusätzliche Angebote gemacht, die neue Mitglieder anwerben sollen, die ein günstiges Risikoprofil aufweisen. Besonders die flexible, moderne, gutverdienende und gesundheitsbewußte Mittelschicht ist umworben. Sie wandert aus den großen Kassen ab zu neuen, flexiblen nur noch per Telefon und Email erreichbaren “virtuellen Betriebskrankenkassen” abwandert. Diese zeigen sich im Gegenzug für den verringerten personalintensiven Service dann besonders großzügig bei der Bewilligung alternativer Therapieformen wie Akupunktur und Naturheilkunde. Die Umverteilungspotentiale werden so in den großen Kassen geringer, die bereits durch verringerte Einnahmen infolge der hohen Zahl von Arbeitslosen belastet sind, für die die staatlichen Stellen nur reduzierte Beiträge bezahlen.
Mit den vorliegenden Beispielen habe ich versucht darzustellen, wie durch die Einführung von Wettbewerb, Privatisierung und Konkurrenz die Kommerzialisierung der Gesundheitsversorgung vorangetrieben wird, und wie dadurch wichtige Ziele in der Gesundheitspolitik, wie Solidarität und gleicher Zugang zu einer qualitativen Gesundheitsversorgung, gefährdet werden kann. Die Profitinteressen, die das treibende Moment hinter den Anbietern in einem kommerzialisierten System darstellen, seien es private ÄrztInnen, Krankenhäuser, Pharmafirmen oder Krankenkassen, nutzen nicht nur den Anbietern selbst, sondern bevorzugen auch die, denen es schon besser geht, die sich eine bessere “Marktübersicht” verschaffen können und die sich um ihre Gesundheit in einer gewissen Weise kümmern können. Andere, die mehr angewiesen sind auf Umverteilungsmechanismen, auf gesellschaftliche Solidarität in sozialen Systemen, werden systematisch ausgeschlossen und weiter marginalisiert.
Für eine solche Orientierung auf einen gerechten, gesicherten Zugang zu Gesundheitsdiensten und darüber hinaus auf eine Perspektive, die die sozialen Ungleichheiten im Blick auf Krankheit und Tod verringern will, steht die Forderung nach dem Menschenrecht auf Gesundheit. Natürlich ist mit dem Zugang zum Gesundheitssystem noch nicht Gesundheit hergestellt. Vielfach sind es viel grundlegendere Dinge als das Gesundheitswesen, die dazu beitragen, das Menschen besser, gesünder und länger leben können. So banale Dinge wie gute, ausreichende Nahrung, sauberes Wasser, sanitäre Einrichtungen, gute Wohnmöglichkeiten, ein sicheres Einkommen, stabile soziale Beziehungen, die Abwesenheit von Krieg, Gewalt und Ausbeutung. Für diese Perspektive stand und steht die alte Strategie der Primären Gesundheitfürsorge – Primary Health Care – von der Weltgesundheitsorganisation 1978 verabschiedet , und bald darauf in den meisten Ländern unter die Räder der beginnenden marktwirtschaftlichen Orientierung der Strukturanpassungsmaßnahmen und des neoliberalen Mißtrauens gegenüber staatlichen Gesundheitssystemen gekommen.
Vergessen wurde es aber nicht – vor allem nicht von den Betroffenen selbst, denn das PHC-Konzept betonte nicht nur die Verantwortung des Staates zur Gewährleistung dieser Grundversorgung aller mit den notwendigen Diensten, sondern stellte die aktive Beteiligung der Menschen an der Planung und Durchführung “ihrer” Gesundheitsdienste heraus, so wie es des aktiven Beitrags jedes einzelnen an seiner/ihrer Gesundheit selbst bedarf. Das “Recht auf Gesundheit” entsteht aus beidem: dem formulierten Rechtsanspruch und dem Aktivwerden der Menschen, ihn umzusetzen. Exemplarisch für diese Gesundheitsbewegung von unten ist in den letzen Monaten besonders die südafrikanische Treatment Action Campaign bekannt geworden, die sich aktiv für die Rechte der AIDS-Kranken auf Behandlung einsetzt und zugleich ein treibender Faktor in der Bekämpfung der Epidemie in diesem Land ist . Viele andere solcher Initiativen sind seit langem aktiv – einige hat medico international unterstützt, eine 20jährige Zusammenarbeit gibt es beispielsweise mit dem Netzwerk Health Action International, in dem die beteiligten Gruppen und Einzelpersonen den Focus auf die Arzneimittelversorgung gelegt haben als ein wichtiger Baustein des PHC-Konzeptes. Die kritische Beobachtung der Medikamentenhersteller und der lokalen und internationalen Pharmageschäfte gehört ebenso dazu wie die Förderung des sinnvollen Einsatzes der bunten Pillen durch die VerschreiberInnen und der AnwenderInnen.
Die Idee einer ganzen Weltgesundheitsversammlung von unten, wie sie schon lange von den GesundheitsaktivistInnen geplant war als Gegenstück zur jährlich stattfindenden Weltgesundheitsversammlung der staatlichen VertreterInnen, konnte im letzten Dezember in Bangladesch verwirklicht werden, nachdem ein ganzes Jahr lang Aktivitäten zur Vorbereitung in allen Teilen der Welt stattgefunden hatten. Die dabei vertieften Kontakte werden in den jeweiligen Kontinenten fortgeführt.
Wenn Gesundheit für alle mit Solidarität, Umverteilung und gemeinsamen Engagement zusammenhängt, dann ist das Marktmodell vielleicht wirklich nicht die beste aller möglichen Lösungen dafür. Welche anderen möglich wären und dafür in Frage kommen, sollten wir nicht Experten überlassen – wie die People’s Health Assembly sagte, ist es wichtig, von Opfern zu Protagonisten zu werden.
*Andreas Wulf arbeitet für medico international. Der Text basiert auf einem Vortrag, den Andreas Wulf am 08. November 2001 im Club Voltaire in Frankfurt/M gehalten hat.