Westafrika: Das Trauma des Scheiterns

Von Charlotte Wiedemann.

02.12.2009   Lesezeit: 9 min

Der Wunsch nach Emigration hat tiefgreifende Konsequenzen für die afrikanischen Gesellschaften. Der Auswanderungswillige hat nicht nur die Grenzzäune Europas zu überwinden, sondern er muss sich auch gegenüber den finanziellen Erwartungen der am Ort verbliebenen Familien und Verwandten beweisen. Arbeitsmigranten aus Afrika überweisen jährlich etwa 12,5 Milliarden Euro in ihre Heimatländer. Auf das Trauma einer Abschiebung folgt daher nicht selten das Trauma einer Ankunft, die den Betroffenen ins gesellschaftliche Abseits fallen lässt.

Wer ein wenig sensibel ist, empfindet Scham beim Anblick der überfüllten Migranten-Boote im Mittelmeer. Scham über die europäische Politik, und auch ein Gefühl, schuldlos mitschuldig zu sein an diesem Desaster. Beides verbindet sich häufig mit einem moralischen Reflex: der Idealisierung der Migration und der Heroisierung der Migranten. Zumal jener aus Afrika, deren Notlage man zweifelsfrei zu kennen glaubt. Wahlweise gelten Migranten als die "Besten", die "Stärksten" ihrer Gesellschaften, als die "Ärmsten" oder die "Verzweifeltesten" des Kontinents. Weniges von diesen Superlativen hält Nachprüfungen stand. Die Verzweifeltesten und Ärmsten sind jene, die niemals in die Nähe eines teuren Schlepper-Tickets nach Europa kommen; sie werden in die innerafrikanischen Flüchtlingstrecks gespült, ohne jede Entscheidungsmöglichkeit. Wer sich aus Subsahara auf die hochgefährliche Reise in den Norden macht, hat hingegen eine Entscheidung getroffen. Dass es die stumme Macht der Verhältnisse sei, die alternativlos in die Migration treibe, "weil wir sonst verhungern", das ist eine Selbststilisierung für die Kameras weißer Fernsehteams.

Nur wer geht, der zählt

Der Mythos, es seien die Stärksten und Besten, die weggehen, beleidigt ganz nebenbei alle jene, die weiterhin jeden Tag mit der Hacke aufs Feld ziehen – also die Masse der Schwarzafrikaner. Und die Stilisierung zum Stärksten und Besten schlägt ohne Gnade auf den Migranten selbst zurück, wenn er mit leeren Händen zurückkehrt. Trotz tausendfacher Abschiebungen und hundertfachen Ertrinkens: Ein glückloser Heimkehrer wird zu Hause als individueller Versager behandelt. Sein Scheitern bedeutet Schande und Schuld, selbst wenn er als Abgeschobener in Handschellen ins Flugzeug gezwungen wurde. "Die Ausweisung wird von seiner sozialen Umgebung nicht verstanden", sagt Mamadou Keita, Generalsekretär der Association Malienne des Expulsés. "Man hält den Rückkehrer für einen Delinquenten oder für unfähig. Oder die Rückkehr wird sogar als Fluch gedeutet. Die Reaktion der Gemeinschaft kann dramatisch sein." Viele Heimkehrer wollen wegen der Stigmatisierung nicht zurück in ihr Heimatdorf. Manche nehmen sich sogar das Leben.

Warum diese Verachtung? Warum so wenig Mitgefühl, so wenig Solidarität mit dem traurigen Heimkehrer? Wie kann es sein, dass auf das Trauma der Abschiebung noch ein Trauma der Ankunft folgt? Am leichtesten zu verstehen sind materielle Gründe: Wenn die Familie ihre einzigen Rinder verkauft hat, um die Reisekosten aufzubringen, reißt das Scheitern des Migranten alle mit in die Katastrophe. Doch häufig hat die Verachtung eher kulturelle Gründe; sie hat mit der Sozialpsychologie, mit den Werten und den Ehrvorstellungen der Gesellschaft zu tun, und das gilt vor allem dort, wo – wie in Mali – eine zeitlich begrenzte Arbeitsmigration seit vielen Jahrzehnten im Lebensrhythmus von Familien, Dörfern, Gemeinschaften verankert ist. Das Abenteuer der Migration war dort früher für die männliche Jugend gleichbedeutend mit dem Schritt ins Erwachsenwerden. Weil die Reise heute, zumal die illegale, so kostspielig geworden ist, sind die Migranten bereits Spätstarter; kehren sie dann ohne Erfolg zurück, sind sie gleichsam nie erwachsen geworden.

Die Fremde als Statussymbol

Die Idealisierung der Migration, die Verbindung von Männlichkeit & Migration hat ihren festen Platz in der Folklore. Wer nicht migrieren will, ist ein Schwächling, ein Stubenhocker; in der Soninke-Sprache werden sie "Klebenbleiber" genannt, sie sind unreif, faul und feige. Da wundert es nicht, wenn sie keine Frau finden. Die Familienstrukturen: In einer afrikanischen Großfamilie herrscht viel Rivalität. Mit Erfolg und Misserfolg des Migranten steigt und fällt der Status einer Reihe anderer Familienmitglieder. Alle, die auf ihn gesetzt haben, verlieren mit ihm, vor allem die Frauen, Mütter, Schwestern. Weil es für die Frauen am schwersten ist, ihren Status durch eigene Leistung anzuheben, entlädt sich ihre Enttäuschung oft in besonders bitterem Spott über den glücklosen Bruder oder Cousin. Dass er viel gewagt hat, dass er womöglich sein Leben aufs Spiel gesetzt hat, dass er knapp überlebte und schließlich im Abschiebeknast litt, all das allein zählt wenig. Denn die Ehre gebührt dem, der seine Familie gut versorgt.

Im Idealfall kam früher der älteste Sohn zu einem Zeitpunkt aus dem Ausland zurück, zu dem er von seinem Vater die Rolle des Familienoberhaupts übernahm; nun konnten die jüngeren Brüder reisen. Das alles funktioniert heute nicht mehr; die afrikanische Familienordnung ähnelt einer Marionette, an den Fäden ziehen Konsularbeamte, Visabeschaffer, Schlepper und Schwarzarbeitskontrolleure. Werden gerade deshalb die alten Ehrvorstellungen so vehement, so gnadenlos verteidigt? Ein Chef de famille, der die Seinen nicht versorgen kann, hat keine Existenzberechtigung. Ein Rückkehrer, der es zu nichts gebracht hat und trotzdem Familienoberhaupt werden muss, befindet sich psychisch in einer aussichtslosen Lage.

Es scheint, als würden zwei Dinge völlig unverbunden in den Köpfen existieren: Einerseits ist das Wissen, welche unüberwindbaren Hürden Europa gegen die Migration aufgebaut hat, durchaus verbreitet - und auch die Empörung darüber; andererseits wird das Scheitern trotzdem dem Individuum angelastet. Ein Modell, das in der Vergangenheit Erfolg versprach, hat seine Gültigkeit verloren; aber dieses abstrakte Wissen setzt sich nicht um in Verhalten, in neue Werte, neue Orientierungen. Emotional und sozial hat sich die Gesellschaft der veränderten Realität nicht angepasst. Dies Phänomen ist nicht allein afrikanisch: auch andere Kulturen, in denen periodische Arbeitsmigration üblich war, leiden an dieser Bruchstelle.

Afrikanisch mag allerdings sein, dass die Idealisierung der Migration verstärkt wird durch eine fatale Psychologie der Außenorientierung. Wenn sich ein schwarzer Müllmann in Paris oder ein ausgebeuteter illegaler Tellerwäscher in Berlin ein Ansehen in seinem Heimatdorf erarbeiten kann, das ihm durch Feldarbeit niemals möglich wäre, dann hat das natürlich erst einmal mit den Einkommensunterschieden zwischen dem reichen und dem armen Teil der Welt zu tun. Aber es ist auch etwas zutiefst nicht in Ordnung im Seelenhaushalt einer solchen Gesellschaft. Und der glücklose Heimkehrer bezahlt dafür den Preis.

Mit Afrika fertig sein

Um der sozialen Verachtung zu entrinnen, wird er sich, wenn es nur irgend geht, bald in den nächsten fatalen Reiseplan stürzen. Und niemand mit kühlem Kopf und moralischer Autorität stellt sich ihm in den Weg. Wo sind die afrikanischen Aufklärer, wo sind die Imame, die die jungen Leute davon abhalten, zu horrenden Schlepperkosten den Routen des Todes zu folgen? Als der italienische Journalist Gabriele del Grande die Lebensumstände verunglückter Migranten rekonstruierte und in ihren Milieus nach den Gründen für die Ausreise forschte, stieß er auf das Gefühl, Bleiben bedeute, "sein Leben wegzuwerfen, weil es keine Arbeit gibt, weil sich nichts bewegt". Über einen 22-jährigen notiert del Grande: "Mit Afrika ist er fertig." Korrupte, unfähige Regierungen sehen solche jungen Männer gern gehen: Migration statt Rebellion. So nährt eine verhängnisvolle Allianz die Sucht, bloß wegzukommen: ruchlose Schlepper, geldgierige Marabouts, die Fetische fürs Überleben verkaufen, larmoyante Oberklassen und geltungssüchtige Dorfchefs, die eine prächtigere Moschee aus Migrantengeld haben wollen als das Nachbardorf.

Aus all dem ergibt sich eine große und schwierige Frage: Ist es allein progressiv, für das Recht auf Migration einzustehen? Ist es möglich, der Migration entgegenzuwirken, ohne das Geschäft der Europäischen Union zu betreiben? Europa hat der Migration den Krieg erklärt, und manche jungen Migranten sehen sich reziprok als Kämpfer, als Soldaten in diesem Krieg. Ihre verunglückten Kameraden nennen sie "Gefallene". Doch aus der Parole Europa oder der Tod! spricht eine entsetzliche Resignation; sie ist eine Bankrotterklärung Afrikas. Die Schlacht müsste anderswo geschlagen werden: wenn die jungen Leute mit der Kraft, dem Wagemut und der Hartnäckigkeit, die sie durch die Sahara und über die Meere treibt, ihren Regierungen entgegenträten. Um ein Leben zu fordern, das es wert ist, nicht auf See weggeworfen zu werden.

Charlotte Wiedemann ist freie Journalistin und Buchautorin. Zuletzt erschien von ihr: "Ihr wisst nichts über uns!" Meine Reisen durch einen unbekannten Islam (Verlag Herder, 2008).

Projektstichwort

Mehr als nur Akuthilfe: Das westafrikanische Netzwerk für die Rechte der Migranten

Der malische medico-Partner Association Malienne des Expulsés (AME) kümmert sich als Selbsthilfegruppe ehemaliger Abgeschobener in Bamako um jene abgeschobenen Migranten, die allabendlich von den europäischen Fluglinien am Flughafen ausgespuckt werden. Aber die Organisation reagiert auch auf die zunehmende Präsenz des europäischen Migrationsregimes in der Region, indem sie den intensivierten Grenzkontrollen im ehemals gänzlich visumsfreien subsaharischen Westafrika eine länderübergreifende Solidarität entgegensetzt: Gemeinsam mit zwei weiteren medico-Partnern, der Menschenrechtsvereinigung (AMDH) aus der mauretanischen Hauptstadt Nouakchott und der Assoziation Beni Znassen für Kultur, Entwicklung und Solidarität (ABCDS) aus Oujda im Nordosten Marokkos, versucht die AME ein transnationales Solidaritätsnetzwerk aufzubauen. Dabei geht es nicht allein um akute Nothilfe für Abgeschobene oder direkte Kooperationen, wie etwa im mauretanisch-malischen Grenzgebiet, wo tagtäglich Halbverdurstete aufgefunden und versorgt werden, sondern auch um die Schaffung von öffentlicher Gegenmacht für die Rechte der Migranten durch länderübergreifende Workshops und demonstrative Aktionen. In Bamako leistet die AME zudem eine Entwicklungshilfe besonderer Art: Mit ihrer Beratung gründete sich die Selbsthilfegruppe (ARACEM) der Abgeschobenen aus zentralafrikanischen Ländern (Kamerun, beide Kongos, Tschad, Zentralafrikanische Republik, Gabun), die versucht, hunderte von festsitzenden Migranten mit dem Allernotwendigsten (Medizin, Wasser, Nahrung) zu versorgen. medico leistet auch hier eine erste Überbrückungshilfe.

Unser Partnernetzwerk in Westafrika beginnt sich zu organisieren. Noch sind ihre personellen Kapazitäten und finanziellen Ressourcen viel zu gering, um auch nur einen Bruchteil all jener versorgen zu können, die per Flugzeug ausgeflogen, an den innerafrikanischen Wüstengrenzen aufgehalten, oder in den Booten entlang der südlichen Meere vor Europa aufgebracht werden. Aber ein wichtiger Schritt ist erfolgt: Die "Sprachlosen" haben begonnen zu sprechen und klagen wahrnehmbar ihre Rechte gegenüber ihren eigenen, Europa allzu willfährigen afrikanischen Machthabern ein. Unterstützen Sie diese mutigen Menschenrechtler mit Ihrer Spende. Das Stichwort lautet: Migration.

 

 


Jetzt spenden!