In Ihrem Roman »Duniyas Gaben« thematisieren Sie die psychologischen Folgen der humanitären Hilfe. Wie habe ich mir derlei Folgen denn vorzustellen?
Es gibt ein Buch eines französischen Philosophen namens Marcel Mauss mit dem Titel »Geschenke«. Die Idee dabei ist, erstens das Wesen eines Geschenks unter die Lupe zu nehmen: Von wem kommt ein Geschenk, wem wird ein Geschenk gegeben? Zweitens herauszufinden, wie der Austausch erfolgt: Wenn Menschen, die ein Geschenk austauschen, nicht gleich, nicht ebenbürtig sind, dann hat das Geschenk verschiedene Bedeutungen. Wenn amerikanische oder europäische Regierungen sagen, dass sie Afrika ein Geschenk machen wollen in Gestalt von Hilfe aus dem Ausland, dann geht damit gewöhnlich zweierlei einher: Die Afrikaner sind nicht in der Position, in der sie bestimmen können, was sie erhalten; und die Hilfe aus dem Ausland zementiert und schafft Abhängigkeit. Wenn Leute, die es gewohnt waren, selbst für ihre Nahrung zu sorgen – selbst mit noch so simplen Methoden, nach einer Hungerperiode amerikanischen Langkornreis und Weizen und Kekse erhalten, Dinge, die man sich sonst nie leisten konnte, dann untergräbt das ihre Achtung vor sich selbst, lässt sie psychologisch gesehen sinken. Man muss den Leuten etwas Ähnliches geben im Vergleich zu dem, was sie selbst anbauen, so dass eine Kontinuität in ihrem Leben erhalten bleibt. Wer feinen Langkornreis geschenkt bekommt, wird keinen eigenen, vielleicht weniger schmackhaften, mehr essen wollen.
Ein Beispiel dafür, wie mit Ernährung Politik gemacht wird, wie Bedürfnisse erzeugt werden: Als in Somalia Dokumentarfilme gezeigt wurden – erst durch die Italiener und dann durch die Briten, zeigten die Italiener ihre faschistische Propaganda, indem sie jedem, der zu den Dokumentarfilmen kam, ein Glas Milch und etwas Brot gaben. Die Leute kamen sich den Film anschauen, nicht etwa, weil sie sich für ihn interessierten, sondern weil sie sich für Brot und Milch interessierten. Sechs Monate später wurde das Brot gestrichen; weitere sechs Monate später wurde auch die Milch gestrichen. Eineinhalb Jahre später mussten die Leute, die zu den Filmen kamen, Eintritt bezahlen.
Wie könnten sich afrikanische Staaten selbst helfen, ohne abhängig zu werden von Hilfe aus dem Ausland? Wie könnte es ihnen gelingen, diese Hilfe zu steuern?
Das wird sehr schwierig, denn es gibt eine Industrie von Nicht-Regierungsorganisationen, die in manchen afrikanischen Ländern in der Tat einflussreicher sind als die Regierungen. Menschen fliegen mit ihren Brieftaschen zu den – korrupten – Regierungen und versprechen Lebensmittelhilfe, wenn diese etwas für das Volk tun. Aber wenn das Oberhaupt irgendeiner afrikanischen Regierung sein Land nicht managen kann, dann sollte diese Regierung nicht weiter damit betreut werden, die Geschicke des Landes zu leiten, und keine ausländische Regierung sollte eine solche Regierung unterstützen! Ich kann es akzeptieren, wenn es darum geht, ein oder zwei schwierige Jahre zu überbrücken, aber dann ist Schluss! Das ist die moralische Verantwortung der internationalen Gemeinschaft, die moralische und politische Verantwortung, nicht einfach die Hungrigen für immer zu füttern.
Zudem wird die Mehrheit der Nahrungsmittelhilfe doch oft insofern beschafft, als zum Beispiel die USA eine Überproduktion etwa an Reis aufkaufen und woanders abladen. Es geht da um Preisstabilität, aber nicht um Hilfe. Das ist unmoralisch! Unmoralisch auch, weil die Afrikaner dann beginnen, Hilfe zu erwarten – und damit verlieren sie ihre Selbstachtung. Im Koran heißt es: Die Hand, die oben ist, ist derjenigen vorzuziehen, die unten ist – die gebende Hand steht einem besser zu Gesicht als eine Hand, die sich beschenken lässt!
In Ihren Romanen, beginnend mit »Aus einer gekrümmten Rippe«, spielen Frauen eine sehr bedeutende Rolle. Wie hoch schätzen Sie den Anteil, den Einfluss der Frauen im Demokratisierungsprozess afrikanischer Staaten?
Lassen Sie mich besonders auf Somalia eingehen und auf meine nächste Familie. Bevor der Bürgerkrieg in Somalia ausbrach – ich habe vier Brüder und fünf Schwestern – machten meine Brüder und Schwestern mehr oder weniger das selbe. Aber erst in schwierigen Zeiten stellt man fest, wer gut arbeitet und wer nicht, und als der Krieg begann, brachen meine Brüder und mit ihnen drei Viertel der Männer in Somalia zusammen, hielten ihre Köpfe zwischen den Händen und wussten nicht mehr, was sie tun sollten.
Traditionell und historisch gesehen sind sie von der Vorzugsbehandlung verdorben worden: Männer gingen zur Schule, bekamen die besten Jobs. Als die Dinge sich zum Schlechten wandten und manche Männer natürlich nicht in den Krieg ziehen und kämpfen wollten, wussten diese Männer nicht mehr, was sie tun sollten. Frauen haben sich im Bürgerkrieg als die stärksten Persönlichkeiten herausgestellt. Jede Familie, die nur eine Tochter hatte, überlebte, kam durch. Diejenigen Familien mit einer Tochter hatten weit bessere Chancen, durch den Bürgerkrieg zu kommen. Wenn sie nur fünf Jungen und kein Mädchen hatten, überlebten diese Familien manchmal nicht. Ich interessiere mich deshalb für die Situation der Frauen, weil Frauen stärker als Männer sind. Wir sollten die Energie, die wir haben, nicht an nutzlose Männer verschwenden, sondern für Frauen nutzen, die uns von der Kraft profitieren lassen, die wir in sie investieren. Sind sie fähig, zur Demokratie beizutragen? Zumindest in Somalia sind sie dazu fähiger als die meisten Männer!
Die somalischen Familienverhältnisse drehen sich um die Männer, aber Frauen fühlen sich durch eine Clanzugehörigkeit nicht so sehr gebunden wie Männer – und daher neigen Frauen in Somalia eher dazu, vernünftig vorzugehen. Wieder ein Beispiel: Meine Mutter handelte deutlich überlegter, wenn gesunder Menschenverstand gefragt war oder wenn es Schwierigkeiten gab, als mein Vater, der stets seine Wut ausleben, etwas beweisen wollte. Meine Mutter reagierte eher nach dem Motto: Komm, setz‘ dich und wir denken wir nach, wie eine Auseinandersetzung vermieden werden kann und wir trotzdem erreichen, dass die Dinge zu unseren Gunsten verlaufen. Das aber ist demokratisches Verhalten, auch wenn ich nun sehr verallgemeinere. Der zu Grunde liegende Begriff ist Toleranz. Erdulde die andere Person, selbst wenn du nicht mit ihr übereinstimmst, aber ihr beide habt einen berechtigten Standpunkt.
Das Interview führte Manfred Loimeier
Nuruddin Farah ist einer der bekanntesten Schriftsteller Afrikas und wird immer wieder als Kandidat für den Literatur-Nobelpreis gehandelt. Er lebt im südafrikanischen Exil und wird an der medico-Konferenz »Macht und Ohnmacht der Hilfe« teilnehmen.