Wirklichkeit und visibility – Über den Schein und das Sein von Hilfe

Der medico-Geschäftsbericht 1999

26.08.2000   Lesezeit: 6 min

Bekanntlich ereignen sich die Dinge heutzutage erst dann wirklich, wenn sie in den Medien visible, sichtbar werden. Man mag das für falsch halten – und ist doch gerade dieser Realität permanent ausgesetzt. Die Konsequenzen sind beträchtlich: Satellitengestützte Kameras fokussieren die öffentliche Wahrnehmung auf einzelne Katastrophen und verstellen damit den Blick für die alltäglichen Nöte und Schrecken, denen Menschen in aller Welt unablässig ausgesetzt sind. Die hautnahe Reportage über spektakuläre Erdbeben, Flugzeugabstürze, Geiselnahmen, kriegerische Konflikte oder geheimnisvolle neue Seuchen baut auf das Bedürfnis nach öffentlichem thrill (Angstlust). Und hohe Einschaltquoten versprechen gute Werbeeinnahmen.

Andere Wirklichkeiten, die nicht ins mediale Bild passen, weil sie entweder nichts Aufregendes mehr zu bieten haben oder sich einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort ereignen, bleiben unsichtbar, scheinen nicht eigentlich mehr wahr oder gelten bestenfalls noch als »vergessene Konflikte«. Wer erinnert sich beispielsweise noch an die Flüchtlinge aus der Westsahara, die seit über einem Vierteljahrhundert im Wüstenexil ausharren. Unwirklich, weil medial nicht visible, sind auch die unzähligen Afghanen, die auf der Suche nach Wasser in den benachbarten Iran geflohen sind. Nichtig die Tatsache, daß Millionen von Menschen alljährlich an Krankheiten sterben, die – wie die Tuberkulose – tatsächlich gut behandelbar wären. Und wen empört noch die Wahrheit, daß täglich 25.000 Kinder an den Folgen von Mangel- und Fehlernährung sterben? Solche Realitäten wirken auf sonderbare Weise irreal, weil sie sich dem Versuch einer schrillen und populären Inszenierung entziehen. Das anhaltende Verrecken von Zigtausenden von Menschen erregt kein Aufsehen und wird geradezu vorsätzlich aus dem öffentlichen Bewußtsein verdrängt. Denn anders als bei Naturkatastrophen, die noch immer den Eindruck schicksalsgegebener Menschheitsprüfungen erwecken, oder bei Kriegen, die sich so trefflich falsch aus der Pathologie von Schurken und Schurkenstaaten erklären lassen, verweisen Flucht, Krankheit und Hunger auf die beschämende Tatsache, daß solche Nöte in einer Welt überbordenden Reichtums durchaus vermeidbar gewesen wären. Von Veränderbarkeit aber will kaum jemand mehr hören und sehen. Auf scheinbar paradoxe Weise befreit gerade die beständige Überzeichnung des katastrophalen Geschehens von der eigenen Verantwortung: – unsichtbar machen sich die Waffen, je blutiger die Wunden sind.

Unter solchen Umständen kann auch die Hilfe für die Opfer der Katastrophe der Stabilisierung des herrschenden Unrechts dienen. Humanitäre Hilfe ermöglicht die öffentliche Inszenierung einer politischen Handlungsfähigkeit, die sich bei näherer Betrachtung als Ersatz für fehlende Politik erweist. Statt für die Beseitigung der Ursachen von Not und Gewalt zu sorgen und die in der Welt wachsende wirtschaftliche Zerrüttung und soziale Marginalisierung zu bekämpfen, läßt sich mit Katastrophenhilfe, die auf das Spektakuläre beschränkt bleibt, prächtig der Schein von zupackender Aktivität bewahren. Vorausgesetzt, daß die Hilfsbemühungen medial sichtbar werden, weil sie eben nur dann wirklich scheinen. Derart hat das Diktat der visibility längst auch die Hilfe eingeholt. Mit Uniformen, T-Shirts und immer größer werdenden Hinweistafeln sind nicht wenige Helfer heute darum bemüht, auf sich selbst aufmerksam zu machen. Es gilt, mit pragmatischem Handeln, nicht aber mit politischer Kritik an Ursachen in Erscheinung zu treten, – ein Handeln, das sich überzeugend ins Bild setzen läßt, selbst wenn durch die entsandten Nothelfer die Initiative jener, denen geholfen werden soll, behindert wird und die Opfer in einem Opferstatus festgehalten werden. Im Kosovo haben Hilfsorganisationen zur endgültigen Auflösung jener Reste der lokalen Zivilgesellschaft beigetragen, die sich den Übergriffen des Milosevic Regimes noch hatten erwehren können. Aus kompetenten kosovarischen Partnern wurden Fahrer, Dolmetscher und die Putzfrauen ausländischer Hilfswerke. Hunderte von NGOs, die um die mediale visibility ihrer Hilfe konkurrieren, haben die einheimischen Partner, ohne die Veränderung nicht möglich ist, unsichtbar, ja kaum noch existent werden lassen: – je sichtbarer die Hilfe, desto entfernter die Veränderung.

Prävention sei notwendig, darin sind sich alle einig. Doch wie kann Prävention sichtbar gemacht werden. Erfolgreiche Vorbeugung – die stets mehr ist als die bloße Früherkennung von Krisen – muß sich zwangsläufig einer Wahrnehmung entziehen, die nur noch auf das Spektakuläre reagiert. Weil von keinem Schrecken mehr zu berichten wäre, wenn Prävention erfolgreich ist, kann sie weder in den Medien, noch in der Wahrnehmung der politischen Öffentlichkeit jemals »real« werden.

Die Finanzen 1999

Auch medico leistet Nothilfe. Im vergangenen Jahr in Nicaragua, der Westsahara und der Türkei. Immer waren es die Bemühungen unserer Partner, die wir unterstützt haben, ohne dabei selbst vor Ort sonderlich in Erscheinung zu treten.

Der Haushalt 1999 betrug 14,3 Mio. DM: eine Summe, die sich aus Spenden, Zuschüssen, Bußgeldern, Mitgliedsbeiträgen und Rücklagen für langfristige Projektverpflichtungen zusammensetzte. Zwar lag der Spendenanteil mit 4,8 Mio. DM geringfügig unter dem Stand des Vorjahres, doch kam es nicht zu dem Einbruch, der aufgrund der massierten Fokussierung der medialen Öffentlichkeit auf den Kosovo und Südost-Europa, wo medico aus grundsätzlichen Überlegungen nicht tätig war und ist, möglich gewesen wäre. Die relativen Stabilität der Spenden betrachten wir, liebe Spenderinnen und Spender, als Ihren ungebrochenen Auftrag, uns auch weiterhin um die »vergessenen Konflikte« und die kaum sichtbare strukturelle Prävention zu kümmern.

Für die knapp 70 Projekte, die medico 1999 förderte, haben wir 10,5 Mio. DM aufgewendet. Darunter die großen Programme: die Hilfe für die Flüchtlinge aus der Westsahara (3,8 Mio. DM), die Rehabilitationsbemühungen im minenverseuchten Angola (1,3 Mio. DM) und die Unterstützung für die Opfer des Hurrikan Mitch in Nicaragua (2,3 Mio. DM). Daß auch humanitäre Hilfe einen langen Atem haben und weit über die Phase der akuten Notlage hinaus fortgesetzt werden muß, konnten wir exemplarisch in Nicaragua verdeutlichen, wo Dank Ihrer Mithilfe und eines größeren Zuschusses aus dem BMZ gut 200 Familien, deren Hab und Gut in einer Schlammlawine untergegangen war, ein komplett neues Dorf errichten konnten.

Für die Öffentlichkeitsarbeit haben wir 1,5 Mio. DM ausgegeben, was 11,6% der Gesamtausgaben (10,7% im Vorjahr) bedeutet. Hervorzuheben sind die kritische Beschäftigung mit dem Thema Nothilfe (Nicaragua, Kosovo, Türkei), dem wirtschaftlichen Hintergrund von Gewalt und Krieg (Diamanten-Kampagne/Angola, Apartheid-Schulden/Südafrika, deutsche Rüstungsexporte/Türkei) sowie den Möglichkeiten von Versöhnung und (Re)-Konstruktion des Sozialen in kriegsgeschädigten Gesellschaften. Die Aufwendungen für administrative Belange sind gegenüber den Vorjahren mit 7,2% der Gesamtausgaben annähernd konstant geblieben.

Für das recht gute und solide Ergebnis des zurückliegenden Jahres möchte wir uns bei Ihnen allen herzlich bedanken. Es sind Ihre Spenden, die unsere Arbeit möglich gemacht haben. Die Zustimmung, die wir von Ihnen erfahren haben, ist uns Ermunterung, nicht nachzulassen. Es ist gut zu wissen, auch dann mit Ihrer Unterstützung rechnen zu können, wenn andere Themen und Ereignisse die mediale Öffentlichkeit beherrschen. Wir freuen uns darauf, gemeinsam mit Ihnen auch weiterhin auf eine Hilfe zu setzen, die dem sozialen Kontext gerecht wird und vor allem die Partner im Auge behält. Hilfe darf sich nicht selbst zum Zweck werden. Schon jetzt möchten wir uns für Ihre kritischen Anmerkungen, für die Mitwirkung bei Info-Ständen, Straßenaktionen, bei der Organsiation von Vorträgen, dem Verteilen des Rundschreibens im Kreise Ihrer Freunde und Arbeitskollegen bedanken.

Mit ganz herzlichen Grüßen

Thomas Gebauer

Geschäftsführer


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