Fonds für Bewegungsfreiheit

Zeit als Waffe

27.08.2024   Lesezeit: 6 min

Maltas Umgang mit den El Hiblu 3. Von Ċetta Mainwaring und Maurice Stierl

Es ist ein warmer Aprilabend, als wir uns mit Abdalla und Amara in einem Restaurant an der felsigen Küste Maltas treffen. Beim Abendessen, während die Kinder um die Tische herumspielen, unterhalten wir uns über ihre Arbeit und ihre Familien. Wir sprechen über unsere Leben. Morgen werden Abdalla und Amara an der Universität von Malta von der Coalition for the El Hiblu 3 und der ehemaligen Präsidentin von Malta, Marie-Louise Coleiro Preca, als Menschenrechtsverteidiger geehrt.

Der Weg hin zu dieser Auszeichnung im April 2024 war nicht einfach. Fünf Jahre zuvor verließen Abdalla, Amara und Kader auf einem Schlauchboot die libysche Küste. Als sie aufbrachen, kannten sie sich noch nicht. Jeder von ihnen beschäftigte sich mit den Gefahren der bevorstehenden Überfahrt und der Frage, ob sie überleben würden. Sie fragten sich, ob sie ihre Familien in Guinea und der Côte d'Ivoire je wiedersehen würden. Dort hatte ihre Flucht lange vor Betreten des Bootes, das sie nach Europa bringen sollte, begonnen. Als sie schließlich in Malta ankamen, waren ihre Schicksale bereits eng miteinander verknüpft: Abdalla, Amara und Kader sind jetzt als die El Hiblu 3 bekannt, auch wenn einer von ihnen, Kader, Malta inzwischen verlassen hat.

Abdalla, Amara und Kader erreichten die maltesische Küste am 28. März 2019. Zwei Tage zuvor hatte die Besatzung des Öltankers „El Hiblu 1“ sie und ihre Mitreisenden von einem sinkenden Schlauchboot gerettet. An Bord des Tankers spielten die drei Jugendlichen, die damals erst 15, 16 und 19 Jahre alt waren, eine wichtige Rolle. Als Übersetzer und Vermittler trugen sie dazu bei, die angespannte Situation auf See zu entschärfen und den illegalen Pushback von über hundert Menschen nach Libyen zu verhindern. Im Rückblick auf diesen Moment erklärt Amara: „Wir haben für die Verständigung zwischen dem Kapitän und den geretteten Menschen gesorgt. Ich bin stolz. Ich habe sie nicht mit meiner Kraft gerettet. Aber ich habe sie mit dem bisschen Englisch gerettet, das ich sprechen konnte, mit den kleinen Worten aus meinem Mund.“

Doch als sie in Malta ankamen, wurden die El Hiblu 3 nicht als Helden begrüßt. Stattdessen stürmte die maltesische Armee den Öltanker, sperrte die drei ein und klagte sie des Terrorismus, der Entführung eines Schiffes und anderer Verbrechen an. Zusammengenommen könnten diese Anklagen zu mehrfachen lebenslangen Haftstrafen führen. Der damals 15-jährige Amara wurde zunächst im Hochsicherheitstrakt eines Gefängnisses für Erwachsene inhaftiert: „Am Anfang, als ich im Gefängnis war, dachte ich, dass es sich um ein Missverständnis handelt. Ich dachte, sie würden es später verstehen. Nach zwei bis drei Tagen würden sie es begreifen.“

Abdalla, Amara und Kader haben die letzten fünf Jahre in einem langen juristischen Schwebezustand verbracht, gespickt mit Frustrationen und Misserfolgen. Sie haben an unzähligen monatlichen Anhörungen teilgenommen. Sich von der Arbeit freigenommen und um Kinderbetreuungen gekümmert, um vor Gericht erscheinen zu können. Oft nur, um zu erfahren, dass die Anhörung wieder einmal verschoben wurde. Die strengen Kautionsauflagen, die für zwei der drei ganze fünf Jahre lang gelten, haben das Reisen verunmöglicht. Sie durften sich nicht einmal näher als 50 Meter an die maltesische Küste heranwagen und mussten sich jeden Tag bei der Polizei melden. So wird ihnen die Möglichkeit verwehrt, ihre Familien zu sehen, in andere Länder zu reisen oder in den langen, heißen Sommern Zeit an einem der vielen Strände Maltas zu verbringen.

Ihre Kriminalisierung durch den maltesischen Staat hat Abdalla, Amara und Kader ihrer Jugend beraubt. Amara ist jetzt zwanzig Jahre alt, hat also ein Viertel seines Lebens in einem Zustand der Ungewissheit verbracht. Abadalla und seine Frau haben ihre Tochter in Malta aufwachsen sehen, aber der Gerichtsprozess macht auch ihre Zukunft ungewiss. Auf diese Weise sind Zeit und Recht zu einer Waffe gegen sie geworden. Sie leben in der Schwebe und warten auf Gerechtigkeit.

Rettung verzögert, Rückführung beschleunigt

Der Einsatz von „Zeit als Waffe“ ist nicht nur gegen die El Hiblu 3 zu beobachten, sondern auch in anderen Bereichen des Grenzschutzes. Etwa verzögern die maltesischen Behörden systematisch und absichtlich Rettungsbemühungen. Da die maltesische Marine die vorm Ertrinken Bedrohten routinemäßig vernachlässigt, können Migrant:innen in Seenot in der riesigen maltesischen Such- und Rettungszone kaum mit einer Rettung rechnen.

In der ersten Jahreshälfte 2024 haben nur 68 Menschen Malta auf dem Seeweg erreicht. Malta verkörpert damit eine seit Jahren zu beobachtende Entwicklung, bei der die Zeit zur Waffe wird, indem einerseits die Rettungen verzögert und andererseits die Abfangaktionen und Rückführungen nach Libyen und Tunesien beschleunigt werden. Im Jahr 2023 wurden mehr als 60.600 Menschen auf See aufgegriffen und zwangsweise nach Libyen und Tunesien zurückgeführt.

Diese erzwungenen Rückführungen und die systematischen Verzögerungen bei der Rettung verursachen Leid und Tod: Das Mittelmeer ist mit über 3.100 dokumentierten Todesfällen im vergangenen Jahr nach wie vor eine der tödlichsten Fluchtrouten der Welt. Die wenigen von den maltesischen Autoritäten Geretteten werden in Malta einem „Schnellverfahren“ unterzogen, insbesondere wenn sie aus einem vermeintlich sicheren Land kommen: Sie werden schnell inhaftiert, ihre Asylanträge als „offensichtlich unbegründet“ abgelehnt und innerhalb weniger Monate zwangsweise abgeschoben.

Internationale Kampagne für die El Hiblu 3

Angesichts Maltas Zermürbungsstrategien, haben die El Hiblu 3 enorme Widerstandsfähigkeit und Charakterstärke bewiesen. Sie haben sich trotz aller Schwierigkeiten ein Leben aufgebaut: Sie haben ein Kind großgezogen, Arbeit gefunden, studiert, Wohnungen geteilt, gemeinsam gegessen, gelacht, sich zu jungen Männern entwickelt, und unsere guten Freunde geworden. In ihrem Kampf gegen Ungerechtigkeit haben sie sich auch einer internationalen Kampagne angeschlossen, die fordert, die Anklage gegen sie fallenzulassen.

Der Prozess gegen die El Hiblu 3 ist auch ein Prozess gegen alle, die sich gegen die Gewalt an den Grenzen wehren, einschließlich der gewaltsamen Zurückdrängung von Booten in Ländern wie Libyen. In seiner Rede bei der Preisverleihung im April 2024 sagte Amara: „Die Verleihung dieses Preises ist für mich persönlich von großer Bedeutung. Sie erinnert mich daran, dass unsere Bemühungen etwas bewirken können, egal wie klein sie sind. Diese Auszeichnung ist eine Anerkennung für meinen langjährigen Kampf gegen Ungerechtigkeit und ein Ansporn für künftige Anstrengungen, Gerechtigkeit für alle zu erreichen. Sie bestärkt mich darin, weiterhin für meine Rechte und die Rechte und die Würde aller Menschen, insbesondere der Schwachen, zu kämpfen.“

Als die ehemalige Präsidentin Marie-Louise Coleiro Preca in Valletta die El Hiblu 3 als Menschenrechtsverteidiger auszeichnete, dankte sie Amara und Abdalla, für ihren inspirierenden Kampf für Gerechtigkeit. Coleiro Preca versprach, ihnen bis zu ihrer Freilassung beizustehen. Als Mitglieder der Coalition for the El Hiblu 3 werden wir das Gleiche tun.

Dr. Cetta Mainwaring ist Dozentin für Internationale Beziehungen an der Universität Edinburgh, Großbritannien. Dr. Maurice Stierl ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Migrationsforschung und Internationale Studien (IMIS) an der Universität Osnabrück, Deutschland. Beide engagieren sich als Aktivist:innen und Forscher:innen entlang der Mittelmeergrenze und sind Mitglieder der Coalition for the El Hiblu 3.

Mit dem Fonds für Bewegungsfreiheit unterstützen wir Menschen, die an den Rändern Europas unrechtmäßig in Gefängnissen sitzen oder sich verteidigen müssen. Wir finanzieren Prozess- und Anwaltskosten, unterstützen im Alltag und schaffen mit öffentlichen Kampagnen Aufmerksamkeit – weil Flucht kein Verbrechen ist. Helfen Sie uns dabei!


Jetzt spenden!