Zurückblickend voranschreiten

Organisationsentwicklung für eine politische Transformation - Das Centro Ecuménico Antonio Valdivieso (CEAV)

08.05.2009   Lesezeit: 4 min

Die 22jährige Kenia Roca spielt Nicaragua. Jemand anderes stellt Daniel Ortega dar, drei weitere die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. In diesem Rollenspiel geht es um die Position der einzelnen Elemente zu den anderen und ihre Verbindung miteinander. Die anderen Workshopteilnehmerinnen und –teilnehmer analysieren die Konstellation. „Die Zukunft war ein Mann, der möglichst weit weg von der Vergangenheit und der Gegenwart stehen wollte, aber er verstand nicht, dass er ein Teil von beiden und mit ihnen verbunden ist“, sagt Maria, eine der Beteiligten.

Um die eigene Geschichte verstehen und verarbeiten zu können, muss man auch die Geschichte des Landes analysieren, erklärt Marta Cabrera, Leiterin des ökumenischen Centro Antonio Valdivieso (CEAV), das dieses „psychosoziale Fortbildungsprogramm zur sozialen Transformation“ in verschiedenen Regionen Nicaraguas anbietet. Zu den Teilnehmerinnen und Teilnehmern zählen vor allem junge Frauen wie Kenia Roca, die ehrenamtlich in einer Jugendorganisation auf der Insel Ometepe arbeitet und in diesem Lehrgang dazu befähigt werden soll, Strukturen der Selbstorganisation und der strategischen Allianzen aufzubauen. Dadurch versucht das CEAV, lokale Basisorganisationen, die den sozialen Wandel anstreben, mit ihrem politischen Konzept der Organisationsentwicklung zu unterstützen und Multiplikatoren für eine soziale Transformation auszubilden.

Von der Befreiungstheologie zur psychosozialen Arbeit

Der in mehrere Workshops gegliederte einjährige Diplomlehrgang ist das Ergebnis der in über einer Dekade gesammelten Erfahrungen in psychosozialer Arbeit des CEAV. 1979 gegründet, um den sandinistischen Revolutionsprozess aus christlicher Perspektive solidarisch zu begleiten, musste sich das CEAV in den 90er Jahren nach der Niederlage der Sandinistas inhaltlich neu orientieren und begann 1997 mit seiner psychosozialen Arbeit.
Ausgangspunkt hierzu war die Beobachtung, dass die Fülle kommunaler Workshops und lokaler Entwicklungsprojekte zu Themen wie Mitbestimmung, Geschlechterfragen oder ökologischer Nachhaltigkeit in Nicaragua kaum positive Wirkung zeigte. Auf der Suche nach den Gründen für die mangelnde Initiative vieler Menschen, ihr Leben und die gesellschaftliche Situation aktiv zu verändern, bereisten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des CEAV das Land. Sie kamen zu dem Schluss, Nicaragua sei ein durch die vielen gesellschaftlichen Umbrüche und Naturkatastrophen der letzten Jahrzehnte vielfach traumatisiertes Land.
Ein Grossteil der nicaraguanischen Bevölkerung hat entweder Kriegsverletzungen, ist traumatisiert oder desillusioniert. Viele hatten auf unterschiedlichste Weise für die sandinistische Revolution und den sozialen Wandel gekämpft und mussten dann das Trauma der Niederlage individuell verarbeiten, weil es keinen kollektiven Raum gab, um den Schmerz, die Trauer und andere in jahrelanger Aufopferung und Bemühung angesammelten Emotionen mitzuteilen und so den Erfahrungen dieser Zeit eine neue Bedeutung geben zu können.

Das Subjekt im Fokus alternativer Entwicklungsansätze

Bei ersten Gesprächen mit Betroffenen des Hurrican Mitch fanden die PsychologInnen des CEAV heraus, dass häufig Verbindungen zwischen den kollektiven und den individuellen Traumata bestünden. Viele Menschen, die von ihren Verlusten erzählten, begannen, auch andere Probleme anzusprechen, die bisher im Verborgenen geblieben waren, wie etwa eine Frau aus León, die erzählte: „Es tut mir sehr weh, dass ich mein Haus verloren habe, aber noch viel schlimmer ist, dass ich nachts nicht schlafen kann, weil ich Angst habe, dass mein Mann sich ins Bett meiner Tochter legt und sie belästigt.“
Psychologische Probleme beeinträchtigen auch das körperliche Wohlbefinden. Nicht verarbeitete traumatische Erlebnisse führen häufig zu chronischen Krankheiten wie Gastritis oder Migräne und fördern zudem eine apathische und apolitische Haltung der Betroffenen, wodurch sich die geringe Wirksamkeit der entwicklungspolitischen Workshops erklären lässt. Das CEAV beschloss, einen mehrdimensionalen Ansatz zur Traumabewältigung zu schaffen. „Wir wollten Themen auf den Tisch bringen, die niemand bearbeitete: das Subjektive, das Psychologische, das Spirituelle.“

Ausgehend von der Komplexität der Lebenswirklichkeiten und in Anerkennung der Vielschichtigkeit der Erfahrungen, die insbesondere durch die Revolution und ihre Niederlage geprägt sind, wird deutlich, dass eine Intervention genau diese diversen Bedürfnisse, Interessen und Erfahrungen berücksichtigen muss. Psychosoziale Arbeit, die in einem ganzheitlichen Entwicklungskonzept eingebettet ist, stellt die einzelnen Personen ins Zentrum ihres Ansatzes. Entwicklung wird vom CEAV also nicht mit Wirtschaftswachstum gleichgesetzt und die Gesellschaft nicht als von den Individuen unabhängiges Subjekt betrachtet.

Über Lehrstühle und Seminare an Universitäten sowie gemeinsame Diskussionsveranstaltungen mit Dozent/innen soll auch Einfluss auf die in den ökonomistischen Entwicklungstheorien noch sehr verhaftete Hochschullandschaft genommen werden. Vor allem in den Geistes- und Sozialwissenschaften sollte mehr Bereitschaft zur Reflexion und Offenheit gegenüber alternativen Entwicklungsansätzen entstehen.

Wandel von innen

Auch die institutionellen Strukturen sind im Kontext der Revolution und ihrem Scheitern zu betrachten, um das Misstrauen gegen neue Organisationen, die für sozialen Wandel einstehen, begreifen zu können. „In Nicaragua wollen viele Organisationen eine Herzoperation mit der Machete durchführen“, sagt Martha Cabrera. „Sie wollen die Welt verändern während sich innerhalb der Organisationen ein veralteter Führungsstil reproduziert, der jede Änderung unmöglich macht. Daniel Ortega und Arnoldo Alemán sind nicht die einzigen Caudillos dieses Landes, es gibt sie in den Organisationen, NGOs, in allen Sektoren unserer Gesellschaft.“

Es sei daher wichtig, die Konsequenzen der Revolution sowie den durch Globalisierungsprozesse beschleunigten sozialen Wandel der letzten 20 Jahre zu analysieren, erklärt Martha Cabrera, denn „Um mit festem Schritt in die Zukunft zu gehen, ist es unabdingbar, die Vergangenheit anerkennen und verarbeiten zu können.

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