Brasilien

Am Ende

13.07.2016   Lesezeit: 7 min

Nach der vorübergehenden Amtsenthebung von Dilma Rousseff drohen radikale Kürzungen und die Rücknahme sozialer Rechte.

Von Moritz Krawinkel

Eine Woche war Ricardo Barros Gesundheitsminister Brasiliens, da sorgte er für einen ersten Aufreger: Der Staat könne das in der Verfassung verankerte Recht auf Gesundheit nicht mehr garantieren. Es sei zu wenig Geld da, die öffentliche Gesundheitsversorgung müsse reduziert werden. Barros schlug eine weitere Stärkung privater Krankenversicherungen vor und die Neuverhandlung der Verpflichtungen des Staates, die die Verfassung bislang garantiert. Barros Vorbild: die Rentenkürzungen in Griechenland. Mitte Mai 2016 hatte die Mehrheit des brasilianischen Senats für ein Amtsenthebungsverfahren gegen Präsidentin Dilma Rousseff von der Arbeiterpartei (PT) gestimmt. Vorgeworfen wird ihr, Haushaltszahlen geschönt zu haben. Mit ihrer vorläufigen Suspendierung endet die Regierungszeit der Arbeiterpartei, die 2002 mit der Wahl des Gewerkschafters Lula da Silva begonnen hatte.

Es war einer der größten Erfolge der brasilianischen Demokratiebewegung, dass 1988 eine steuerfinanzierte öffentliche Gesundheitsversorgung mit freiem Zugang für die gesamte Bevölkerung in die Verfassung aufgenommen wurde. Zwei Jahr später wurde das Sistema Único de Saude (SUS), das einheitliche Gesundheitssystem, eingeführt. Bis dato war gut die Hälfte der 200 Millionen Brasilianer von der damals beitragsfinanzierten Gesundheitsversorgung ausgeschlossen. Heute deckt das SUS bis zu 95 Prozent der Herzoperationen und Organtransplantationen ab. Doch trotz aller Fortschritte: Wirklich realisiert wurde der Zugang zu Gesundheit für alle nie. Von Anfang an hatte das SUS mit der parallelen Subventionierung eines privaten Gesundheitssystems zu kämpfen, das einflussreiche Fürsprecher hatte. Brasilien ist nach den USA der zweitgrößte Markt der Welt für private Krankenversicherungen.

Endemische Korruption

Einen Tag nach seinen Kürzungsvorschlägen ruderte Barros zurück. Das SUS müsse nicht revidiert werden. Die Gegner der Interimsregierung unter Michel Temer beruhigt das nicht. Niemand glaubt, dass Kürzungen im Gesundheitsbereich vom Tisch sind. Und sie wären nur ein Teil des Kahlschlags, den die Regierung angekündigt hat: Privatisierungen, Entlassungen, eine Rentenreform, die Liberalisierung des Arbeitsmarktes, Einsparungen beim staatlichen Wohnungsbauprogramm, die Streichung von Subventionen für die Ärmsten der Bevölkerng. Aber der angekündigte Sozialabbau hat nicht nur eine materielle Seite. Die ganze Idee von sozialer Gerechtigkeit steht auf dem Spiel, alles wofür Lula und Dilma gewählt worden waren. Das Interimskabinett ist komplett männlich und weiß – zum ersten Mal seit 1970. Eine konservative Revolution. „Unsere schlimmsten Befürchtungen wurden weit übertroffen“, sagt Isabela Soares Santos von medico-Partner CEBES in Rio de Janeiro, der das Recht auf Gesundheit als Verfassungsziel mit erkämpft hat. Zwar hätten Verfassungsanspruch und Wirklichkeit immer schon stark auseinandergeklafft – so dreist aber sei die Verfassung noch nie infrage gestellt worden.

Die Kontroverse um Barros Äußerungen war nicht der erste Skandal der Interimsregierung unter Michel Temer. Die Ankündigung, das komplette Kulturministerium schließen zu wollen, wurde nach Protesten zurückgenommen. Und schon jetzt mussten drei Minister wegen Korruptionsvorwürfen zurücktreten. Die Korruption ist endemisch: Mehr als die Hälfte der 513 brasilianischen Parlamentsabgeordneten ist oder war wegen Geldwäsche, Bestechung, Betrug oder schwereren Verbrechen angeklagt. Nach der Amtsenthebung von Parlamentspräsident Eduardo Cunha wegen Korruption und Schweizer Schwarzgeldkonten rückt Michel Temer selbst in den Fokus der Staatsanwaltschaft. Dank abgehörter Gespräche zwischen Politikern der Interimsregierung ist inzwischen klar, dass das Absetzungsverfahren gegen Präsidentin Dilma Rousseff von langer Hand geplant war. Der Vorwurf, sie habe den Staatshaushalt manipuliert, stellt sich als Vorwand heraus, um nach der Machtübernahme das politische Projekt von Rousseffs PT wie auch die Korruptionsermittlungen gegen die wirtschaftliche und politische Elite zu beenden.

Hass auf den Aufstieg der Armen

Warum aber haben Hunderttausende über Wochen gegen Rousseff protestiert, wenn die ihr vorgeworfenen Verfehlungen sich im Vergleich zu denen ihrer Widersacher recht bescheiden ausnehmen? Ein Grund: Hass auf den Aufstieg der Armen, den die Arbeiterpartei in vierzehn Regierungsjahren ermöglicht hat. 30 Millionen Menschen konnten mit Sozialprogrammen aus der schlimmsten Armut geholt werden, die PT förderte den Zugang für Schwarze und Indigene zu den Universitäten. „Plötzlich waren die Kinder der Putzfrau auf der gleichen Schule wie die Kinder der weißen Mittelschicht“, sagt Graciela Rodriguez, Direktorin des Equit-Instituts für Geschlechter- und Wirtschaftsforschung in São Paulo. „Das hat das tradierte Klassensystem Brasiliens infrage gestellt.“

Mit der Bolsa Familia, einer Sozialhilfe für die Ärmsten, konnte die Arbeiterpartei Armut und Hunger im Land stark reduzieren. An den strukturellen Gründen für die Ungleichheit in Brasilien hat die Umverteilung gleichwohl nichts geändert, die Machtverhältnisse sind intakt geblieben. Mehr noch: Die Empfängerinnen und Empfänger der Bolsa Familia bleiben abhängig von staatlichen Zahlungen. Der erste PT-Präsident, Luis Inácio Lula da Silva, war als Repräsentant der Armen gewählt worden, aber eine neue politische Kultur oder Politisierung der Gesellschaft hat er nicht vorangetrieben. „Die Arbeiterpartei hat Konsumenten geschaffen, keine Bürger“, kritisiert Isis Campos von der Landlosenbewegung MST, die seit den 1980er Jahren für eine Landreform kämpft. Auch diese hat unter der PT keine Fortschritte gemacht. Die öffentlichen Subventionen für die privaten Krankenversicherungen und die großen Medienmonopole wurden nicht abgeschafft, sondern erhöht. „Anstatt die Erfahrungen und die Kreativität der sozialen Bewegungen zu nutzen, die sie an die Macht gebracht hatten, diffamierten die PT-Regierungen jede Kritik von links“, sagt Graciela.

Die Ignoranz der Arbeiterpartei wird besonders am wirtschaftlichen Entwicklungsmodell deutlich, das die PT gegen den Widerstand vor allem indigener Bewegungen durchgesetzt hat: Stärker als je zuvor wird auf Großprojekte wie Staudämme, Häfen und Flughäfen, extensiven Sojaanbau und den Raubbau von Rohstoffen gesetzt. Die gesundheitlichen Folgen dieser Politik sind für die betroffene Bevölkerung verheerend. In Piquiá de Baixo im nördlichen Bundesstaat Maranhão etwa siedelte die Regierung an der 1.000 Kilometer langen Bahnlinie zwischen der Eisenerzmine Carajás und dem Exporthafen São Luis Stahlindustrie an. Eingeschlossen von Schlackegrube, Stahlwerk, Zementfabrik und Zugstrecke kämpften die Anwohnerinnen und Anwohner der kleinen Siedlung zusammen mit dem medico-Partner Justiça nos Trilhos („Gerechtigkeit entlang der Gleise“) über Jahre gegen den gesundheitsgefährdenden Staub und für ihre Umsiedlung. Arbeit in den Anlagen gab es für sie ohnehin nicht. Und wenn man krank wird? Der öffentliche Gesundheitsposten im Ort ist nur an einem Nachmittag pro Woche geöffnet. Wer keinen der 25 Behandlungszettel ergattert, muss in die nächste Stadt, nach Açailandia, fahren – eine Reise, die viele fast die Hälfte ihres monatlichen Einkommens kostet. Kurz vor ihrer Absetzung unterzeichnete Präsidentin Rousseff schließlich ein Dekret, das den Umzug bestätigt. Der Jubel war groß. Aber die aktuellen Kürzungen beim staatlichen Wohnungsbauprogramm gefährden die errungene Gerechtigkeit bereits wieder.

Teil des Problems

Auch die Kürzungen haben mit dem eingeschlagenen Entwicklungsmodell zu tun. So verdankt sich die Förderung des Extraktivismus vor allem dem wirtschaftlichen Boom Anfang der 2000er Jahre. Die Überschüsse aus dem Export von Soja und Eisenerz nach China, Europa und in die USA waren so verlockend, dass die Kapazitäten erhöht wurden. Es bestand aus Sicht der Regierung keinerlei Druck, etwas an der Abhängigkeit vom Weltmarkt zu ändern – ähnlich wie die Regierungen in Venezuela und Bolivien keine Veranlassung sahen, ihre Einnahmequellen zu diversifizieren. Als dann infolge der Weltwirtschaftskrise und zuletzt der Krise in China die Nachfrage nach brasilianischen Rohstoffen einbrach, waren plötzlich weniger Überschüsse zu verteilen. In der Folge schwenkte auch Dilma Rousseff auf einen neoliberalen Kurs ein und kürzte Sozialausgaben. „Die PT war historisch ein Verbündeter der sozialen Bewegungen“, sagt Isis von der Landlosenbewegung. Ob man sie heute noch verteidigen kann? „Unmöglich. Die PT wurde zwar als progressive Kraft gewählt, aber eine progressive Politik hat sie nie gemacht.“ Die Arbeiterpartei habe sich vielmehr das politische System zu eigen gemacht und sei Teil des Problems geworden. Aber hatte die Partei eine Alternative? Im brasilianischen Parlament sitzen 30 Parteien, Regierungen werden aus bis zu elf Parteien gegründet, die zum Großteil kein politisches Programm haben, sondern nur die Interessen ihrer Klientel vertreten und sich alles weitere teuer bezahlen lassen – wortwörtlich. Die Arbeiterpartei hat nie die Mehrheit im Parlament gestellt und entsprechend nie mit ihrem Programm regieren können. Stattdessen hat sie sich die Unterstützung ihrer Regierung in breiten Koalitionen durch die Bestechung von Abgeordneten erkauft, wie im sogenannten Mensalão-Skandal 2005 bekannt wurde. Geändert hat sich seitdem nichts.

„Das politische System Brasiliens ist am Ende“, sagt Paulo Henrique von CEBES. Reformierbar wäre es. Aber während die neue Regierung die Profiteure des Ist-Zustands vertritt und auf die Rücknahme der sozialen Fortschritte zielt, fehlt der Arbeiterpartei die Fähigkeit zur Selbstkritik. Nur Druck von unten könnte notwendige politische Reformen durchsetzen.

Die medico-Partner in Brasilien kämpfen seit Jahrzehnten für das Recht aller auf Gesundheit. Dazu gehört die Verteidigung des öffentlichen Gesundheitssystems, der Einsatz für eine Landreform und gegen ein auf Raubbau basierendes Entwicklungsmodell.

Spendenstichwort: Brasilien

Dieser Artikel erschien zuerst im medico-Rundschreiben 2/2016. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!


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