Ein Kind, das heute in Japan zur Welt kommt, wird durchschnittlich 85 Jahre alt, während es in Afghanistan nur mit 51 Jahren rechnen kann. Von 1.000 Lebendgeborenen sterben in Mali 178 Kinder, bevor sie das fünfte Lebensjahr erreichen; in Schweden weniger als vier. In Sierra Leone arbeiten im ganzen Land weniger Ärztinnen und Ärzte als an der Berliner Charité.
Überall auf der Welt sind es maßgeblich die sozialen und politischen Verhältnisse, die über Leben und Tod entscheiden. Klar, dass dies Arme besonders trifft: Weil sie arm sind, werden sie häufiger krank, können ihre Behandlung nicht bezahlen und sterben früher. Der pure Zufall, wo man geboren wird, entscheidet über Lebenserwartung und -chancen, Heilung oder Leiden, Leben oder Tod. Die Ungleichheiten verlaufen nicht nur entlang geografischer Linien, sondern sind auch soziopolitischen Faktoren geschuldet. So sterben auch in Deutschland Arme durchschnittlich viele Jahre früher als Reiche. Und der Zugang zu Fachärzt:innen ist in einigen Vierteln in Nairobi leichter möglich als in Deutschland – vorausgesetzt, man kann die Kosten zahlen. Die Corona-Pandemie hat die weltweiten Ungleichheiten weiter vertieft.
Medizin als Privileg
Weltweit sterben Millionen Menschen an Krankheiten, die beim heutigen Stand der Medizin leicht heilbar wären. Das liegt daran, dass der Zugang zu medizinischer Versorgung extrem ungleich verteilt ist. In weiten Teilen der Erde fehlt es aus Geldmangel an Ärzt:innen und medizinischem Fachpersonal, ebenso an Krankenhäusern und Gesundheitsstationen.
Der Mangel an Gesundheitsfachkräften in den Ländern des Südens wird dadurch verschärft, dass die Industrienationen gezielt Fachkräfte abwerben, nachdem die Arbeitsbedingungen sich hierzulande so verschlechtert haben, dass es nicht gelingt, Fachkräfte in ihrem erlernten Beruf zu halten. Der weltweite Brain-Drain ist zu einem systemischen Problem geworden.
Einem Drittel der Weltbevölkerung stehen nicht einmal die wichtigsten Arzneimittel zur Verfügung. Patentregeln im Interesse der Pharmaindustrie führen zu hohen Medikamentenpreisen und verhindern für Millionen Menschen den Zugang zu lebensnotwendigen Medikamenten und Impfstoffen. Sogar medizinische Grundleistungen müssen vielerorts auch in öffentlichen Krankenhäusern aus eigener Tasche bezahlt werden – für Millionen Menschen unerschwinglich. Die Folge: Gesundheit wird zur Ware für Privilegierte. Im Widerspruch zu dieser Entwicklung setzt sich medico für die Schaffung allgemein zugänglicher öffentlicher Gesundheitssysteme ein.
Brasilien: Gegenöffentlichkeit für eine andere Gesundheit
In Brasilien ist das Recht auf Gesundheitsversorgung für alle in der Verfassung verankert. Mehr noch: Langjähriger zivilgesellschaftlicher Druck hat zum Aufbau eines tatsächlich allgemein zugänglichen öffentlichen Gesundheitssystems beigetragen. Doch der politische Rechtsruck im Land der vergangenen Jahre hat auch zu einem gesundheitspolitischen Rollback geführt: Das Gesundheitsbudget ist massiv beschnitten worden, Leistungen wurden gekürzt und wichtige Präventionsprogramme eingestampft. Vor allem aber wird die Privatisierung medizinischer Einrichtungen vorangetrieben. Durchsetzbar ist das auch deshalb, weil die Medien noch immer eng mit der alten politischen Elite verflochten sind. Eine umso wichtigere Ausnahme stellt Outras Palavras (OP) dar. Das Nachrichten- und Debattenportal steht für kritischen Journalismus, der über all das berichtet, was von den großen Medienmonopolen unterschlagen wird. Die Redaktion in São Paulo und das professionelle Netzwerk von Autorinnen und Autoren machen fundierte Gegenperspektiven öffentlich. Angesichts der massiven Angriffe auf das öffentliche Gesundheitssystem hat das Netzwerk auch die Plattform Outra Saúde („Andere Gesundheit“) aufgebaut – mit großer Resonanz. Auch und gerade in der Pandemie unter der Regierung Bolsonaro setzt die Plattform zentrale Impulse für eine Bewegung zur Verteidigung des Rechts auf Gesundheit.
Gesundheitsrisiko soziale Ungleichheit
Die medizinische Unterversorgung ist nur ein Teil der weltweiten Gesundheitskrise. Überall auf der Welt sind es die sozialen und politischen Verhältnisse, die weit mehr über Leben und Tod entscheiden als medizinische Faktoren. Denn die Bedingungen, unter denen wir aufwachsen, leben, arbeiten und lernen, beeinflussen unsere Gesundheit entscheidend: Zwei Milliarden Menschen haben keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser. Schätzungen zufolge sterben jedes Jahr 20 Millionen Menschen an armutsbedingten Krankheiten. Wer arm ist, wird noch immer häufiger krank und stirbt auch früher.
Wer sich vor Krankheiten schützen möchte, ist deshalb manchmal besser beraten in eine Gewerkschaft einzutreten oder auf eine Demo zu gehen als zur Ärztin oder in die Apotheke. Denn nur in sozialen Kämpfen können gesunde Lebensbedingungen für alle erstritten werden: menschenwürdige Arbeitsbedingungen und ein sicheres Einkommen, Zugang zu Bildung und Nahrung, eine anständige Wohnung, ein politisches System, in dem Menschen ohne Angst leben und mitentscheiden können und gesellschaftliche Verhältnisse ohne extreme Ungleichheit. medico international unterstützt weltweit Initiativen und Organisationen, die sich vor Ort für bessere Lebensbedingungen einsetzen und die Menschenrechte verteidigen.
Südafrika: Impfgerechtigkeit und viel mehr
In den vergangenen Jahrzehnten hat es in Südafrika immer wieder starke zivilgesellschaftliche Mobilisierungen zur Verteidigung auch der Gesundheitsrechte der armen und marginalisierten Bevölkerung gegeben. So war es im Zuge der HIVAIDS-Krise in den 1990er-Jahren, so ist es in der Corona-Pandemie. Schon früh hat sich die C19 People’s Coalition gegründet, ein Zusammenschluss von 310 Gruppen aus dem ganzen Land, darunter langjährige medico-Partnerorganisationen. Gemeinsam setzen sie sich für den Schutz und die Rechte auch und gerade der am härtesten von Corona Getroffenen in Südafrika ein. Die Aktivitäten reichen von Aufklärungsarbeit in den Communitys bis zu politischer Kampagnen- und Lobbyarbeit gegenüber der eigenen Regierung wie auch der Weltgemeinschaft. So demonstrierte die Koalition unter dem Motto „black lives matter – vaccines for all“ gegen die Blockade einer Patentfreigabe durch reiche Staaten bei der Welthandelsorganisation WTO und damit für globale Impfgerechtigkeit. Zugleich besteht sie auf einem umfassenden Verständnis von Gesundheit. Konkret: Das Netzwerk verbindet die politische Arbeit in der Pandemie mit Forderungen nach einer Reform des öffentlichen Gesundheitswesens, einem Grundeinkommen und der Schaffung menschenwürdiger Arbeits- und Lebensbedingungen überall im Land.
Gesundheit in der Globalisierung
In einer globalisierten Welt sind die Bedingungen für Gesundheit wesentlich von Regierungsentscheidungen und internationalen Institutionen beeinflusst, die ein Wirtschaftsmodell durchsetzen, das die Lebenswelten und -chancen der Menschen auseinanderdriften lässt. Hinter der weltweiten Gesundheitskrise steht die globale Entfesselung des Kapitalismus, die sich zum Beispiel in mit der Macht des Stärkeren durchgesetzten Handelsbedingungen oder Abkommen zum Investorenschutz zeigt. Ein zerstörerisches System häuft private Profite in ungeheurem Ausmaß an und verteilt Brosamen zur Behebung der Schäden.
Hinzu kommt, dass der globalisierte Kapitalismus nationalen Gesundheitspolitiken Grenzen setzt. Sollen nicht nur Symptome gelindert werden, braucht es eine globale Gesundheitspolitik, die die Ursachen krank machender Verhältnisse in den Blick nimmt. Hierzu zählen:
- unfaire Handelsabkommen, die die Interessen von Unternehmen den Menschenrechten überordnen
- Patentregeln, die den Zugang zu lebenswichtigen Medikamenten verhindern und die Forschung für die Krankheiten der Armen behindern
- die Kommerzialisierung und Privatisierung von Gesundheitsversorgung, die medizinische Behandlung für viele unerschwinglich macht
- fehlende Besteuerung von Unternehmensprofiten und unkontrollierte Finanzströme, z.B. Steuergeschenke und Steueroasen
- das Ausbleiben wirksamer Maßnahmen gegen den Klimawandel.
Bangladesch: Gesundheitsrechte statt Ausbeutungsketten
Am Anfang stand die Vision einer Bewegung von Gesundheitsaktivist:innen, die ein solidarisches Netzwerk von Basisgesundheitseinrichtungen aufbauen wollte. Heute, fast 50 Jahre später, ist Gonoshasthaya Kendra (GK) die größte nichtstaatliche Gesundheitsorganisation Bangladeschs. Ihre Gesundheitsarbeiter:innen betreuen mehr als eine Million Menschen in fast 600 Dörfern und Städten in allen Teilen des Landes, sie vermitteln medizinisches Wissen und Kenntnisse über Ernährung, Familienplanung und die sozialen Verhältnisse. GK kooperiert dabei eng mit lokalen Gesundheitskomittees in den Gemeinden. In Katastrophenfällen leistet GK Nothilfe. Der medico-Partner stritt auch für die Entwicklung einer landeseigenen Arzneimittelproduktion und ging mit gutem Beispiel voran: Viele unentbehrliche Medikamente stellt GK inzwischen selbst her. Wie Solidarität als konkrete Hilfe aussehen kann, zeigte sich auch 2013 nach dem Einsturz der Rana Plaza Textilfabrik in Sabhar, bei dem 1.135 Menschen ums Leben kamen. Die Gesundheitsarbeiter: innen von Gonoshasthaya Kendra stellten Wasser, Sauerstoff und Nahrung für die Eingeschlossenen bereit. Die Unterstützung überdauerte die Akutversorgung, Verletzte wurden noch lange nachbehandelt. Inzwischen hat GK sogar ein solidarisch finanziertes Gesundheitsprogramm für Textilarbeiter:innen aufgelegt. Darüber hinaus fordert GK politische Maßnahmen gegen die tödlichen Folgen der Ausbeutung: „Die Ignoranz der großen Auftraggeber gegenüber Menschenrechtsverletzungen in den Lieferketten muss aufhören“, so Gulam Dulal von Gonoshasthaya Kendra. Die heutigen Lieferketten in der Textilindustrie zeigen deutlich, wie eng globalisierte Produktionsverhältnisse und Gesundheitsfragen zusammenhängen. Die Arbeitsbedingungen in den Nähfabriken Südasiens sind extrem gesundheitsschädlich. Die Arbeiterinnen und Arbeiter sind Giften und Lärm ungeschützt ausgesetzt, ihre Körper werden extrem ausgebeutet: Der Konkurrenzdruck, für den vor allem die Auftraggeber aus den Industrieländern verantwortlich sind, produziert Dumpinglöhne und völlig entgrenzte Arbeitszeiten. Möglich wird dies auch durch unfaire Handelsabkommen, die die Interessen von Unternehmen den Menschenrechten überordnen. Aus diesem Grund setzt medico sich
für weltweit verbindliche Regeln zu Wirtschaft und Menschenrechten ein.
Es ist an uns
Das Menschenrecht auf den Zugang zu Gesundheit wird der Hälfte der Weltbevölkerung vorenthalten. Es ist nicht hinnehmbar, dass jährlich Millionen Menschen aufgrund von privaten Gesundheitskosten in Armut gestürzt werden, dass Hunderttausende sterben, weil Patente lebenswichtige Medikamente gegen Hepatitis oder Krebs unerschwinglich machen, dass Menschen sich zu Tode schuften oder verhungern müssen, weil ihnen ihr Land geraubt wurde. Globale Gesundheitspolitik braucht daher eine Regulierung der herrschenden Ökonomie. Nicht bi- und multilaterale Handelsverträge zum Schutz der Interessen von Investoren sind notwendig, sondern Verträge, mit denen die Wirtschaft grenzüberschreitend nach sozialen Maßstäben eingehegt wird.
Wir setzen uns für eine an den Grundbedürfnissen der Menschen ausgerichtete Gesundheitsversorgung ein, verstanden als öffentliches Gut, das jeder und jedem überall auf der Welt zusteht. Das kostet Geld. medico fordert daher einen rechtlich bindenden internationalen Umverteilungsmechanismus. Ob es den freien Zugang zu lebenswichtigen Medikamenten betrifft, das Recht auf ein garantiertes Einkommen, den Zugang zu Bildung und Land, Nahrung und Wasser: All das muss keine Utopie sein. Es fehlt nicht an Geld und Ressourcen, sondern allein an dem politischen Willen, die notwendigen Mittel bereitzustellen. Es ist an uns, dies gemeinsam zu erstreiten.
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