Armutsbekämpfung repolitisieren

Der peruanische Psychoanalytiker Dr. César Rodríguez Rabanal plädiert für ein Verständnis von Armutsbekämpfung, in dem Empathie und Solidarität im Mittelpunkt stehen

29.06.2011   Lesezeit: 9 min

Sie haben sich bereits in den achtziger Jahren mit den psychischen Folgen von Armut beschäftigt und mit psychoanalytischen Methoden die Situation der Menschen in den Elendsvierteln von Lima untersucht. Was waren damals die zentralen Ergebnisse dieser Beschäftigung?

César Rodríguez Rabanal: Damals beschäftigte man sich mit der Armut vor allem auf dem Gebiet der Ökonomie und der Entwicklungspolitik. Die sogenannten "harten Daten" der materiellen Armut wurden jedoch nicht mit der Herausbildung bestimmter Verhaltensmuster, die unter solchen Lebensumständen möglicherweise entstehen, in Verbindung gebracht. Letzten Endes ging es uns um die Wechselwirkungen zwischen der Innen- und der Außenwelt des Menschen am Beispiel der Armut: Welche äußeren Bedingungen führen dazu, dass Menschen bestimmte Haltungen und Verhaltensmuster übernehmen? Und umgekehrt. Wie tragen diese Haltungen und Verhaltensmuster dazu bei, dass materielle Armut und die Abhängigkeiten sich verewigen? Diesen Ausgangspunkt haben wir später um Untersuchungen zu politischer Gewalt erweitert.

Die Slumbewohner in Lima hatten das Land, auf dem sie ihre Hütten errichteten, besetzt. Gab es im Gegensatz zu heute politische Strukturen oder Formen der Selbstbestimmung auch unter den Allerärmsten?

Ja. Das waren allerdings keine nachhaltig organisierten Strukturen, sondern vielmehr Überlebensstrategien, die aus der Not entstanden waren, um sich gegen die Räumungen durch die Polizei zur Wehr zu setzen. Es gab auch damals Leute, die damit Geschäfte machen wollten oder versuchten aus der Situation politisches Kapital zu schlagen. Diese selbst organisierten Überlebensstrukturen werden von außen instrumentalisiert. Da gibt es politischen Opportunismus, Skrupellosigkeit, aber auch das Bedürfnis dieser Menschen, sich zu behaupten und das besetzte Land, das alles Wüste war, zu verteidigen. Zu diesem Zweck haben sie sich regelmäßig getroffen und an diesen Treffen haben wir teilgenommen. Wir haben uns vorgestellt und erklärt, dass wir keine psychologisierenden Ansätze hätten, sondern dass wir den Urbanisierungsprozess als Ganzes begleiten wollten. Dazu machten wir uns mit den Gegebenheiten vor Ort vertraut, was eine Grundvoraussetzung für eine solche Art von Arbeit ist. Für uns war die Identifizierung mit den Menschen und ihren Anliegen außerordentlich wichtig, gerade weil auch unser Anliegen im weitesten Sinne des Wortes ein politisches war.

Wie haben sich der Mikrokosmos Armut und seine psychischen Folgen für die Menschen in den Jahrzehnten des Neoliberalismus verändert?

Eine Arbeit wie damals ließe sich heute nicht so einfach durchführen, weil solche Organisationsformen, wie sie damals bestanden, mit dem wachsenden Individualismus nur selten entstehen. Würden wir heute in einem neu entstandenen Elendsviertel auftauchen, um uns zu solidarisieren und unsere fachliche Unterstützung bei der Ansiedlung anbieten, würde sofort die Frage nach unserem Interesse auftauchen: Was wollt ihr von uns? Welche Geschäfte wollt ihr mit uns machen? Beinahe alles wird heute im Sinne des Geschäfts verstanden. Misstrauen war zwar auch damals vorhanden, aber zumindest noch ambivalent ausgeprägt. Heute, nach Jahrzehnten des Neoliberalismus, herrscht vor allem ein utilitaristisches Denken vor: Wie kann man aus der Arbeit mit uns, Profit für sich schlagen. Die Folgen des Neoliberalismus bestehen vor allem im Verlust von Solidarität untereinander und in den wachsenden Vorbehalten, sich von uns unterstützen zu lassen.

Das Beispiel Bangladesch

Gesundheit in der Megacity

Es ist eines der irrwitzigen Phänomene des 21. Jahrhunderts: Nie war die Weltbevölkerung so groß und nie lebte sie auf so eng gedrängtem Raum. Das Gesicht dieser Urbanisierung ist die scheinbar wie entfesselt wachsende Megacity. 15 der 20 größten Stadtregionen liegen im globalen Süden und ein Drittel der Stadtbewohner leben dort in absoluter Armut. In der hauptstädtischen Agglomeration Dhaka wohnen heute 15 Millionen Menschen, 1950 waren es noch 500.000. Anders als auf dem Land, kann Gesundheitsfürsorge in diesem städtischen Raum nicht auf schon bestehende Gemeinschaft der Betroffenen setzen, sondern muss ein solches solidarisches Mit- und Füreinander erst schaffen. Das wagt der medico-Partner Gonoshastaya Kendra (GK) jetzt mit der Rickshawpullers Health Cooperative. Hier können sich die Fahrer der dreirädrigen Fahrradrikschas, sie alle leben in Konkurrenz zueinander in slumähnlichen Verhältnissen, für einen Euro jährlich gegenseitig krankenversichern. medico bezuschusst diesen Vorgriff von unten im Kampf um eine gesetzliche Krankenversicherung. Ihre Spende dafür unter dem Stichwort: Bangladesch.  

Das Beispiel Haiti

Solidarität der Kleinbauern

Ländliche Armut ist in vielen lateinamerikanischen Ländern Ausdruck von extremer Ausweglosigkeit und Vernachlässigung. Aufgrund ökologischer und weltwirtschaftlicher Rahmenbedingungen ist die Situation der Kleinbauern und Landarbeiter in Haiti allerdings besonders problematisch. Trotzdem, auch hier existiert eine soziale Bewegung der Kleinbauern, Tet Kole, die seit zwei Jahren mit ihren 70.000 Mitgliedern auch der internationalen Bewegung Via Campesina angehört, die sich unter anderem für die Landreform und den Widerstand gegen das Agrobusiness einsetzt. Seit zwei Jahren gibt es eine brasilianische Solidaritätsbrigade, die Tet Kole ihr Wissen in Theorie und Praxis zur Verfügung stellt. Nach dem Erdbeben organisierte sie 1.284 Zisternen für vernachlässigte haitianische Dörfer, die der brasilianische Bundesstaat Bahia spendete. Die Installation der Zisternen unterstützte medico. Die haitianisch-brasilianische Solidarität geht weiter und wird unter anderem von medico gefördert. Ihre Spende dafür unter dem Stichwort: Haiti.

Ist so auch eine wichtige Ressource der Selbstheilung verloren gegangen?

Nicht nur der Selbstheilung, sondern auch der Motivation für solidarische Unterstützung. Wir wollten damals nicht einfach helfen, wir wollten die Menschen in ihrem Recht auf Stadt politisch unterstützen und auch uns selbst an der Aufgabe entwickeln. Heute herrscht ein kurzsichtiger Pragmatismus vor, der sich auch in der Politik gegenüber der Armut und den Armen wiederfindet. Politik besteht nur noch aus handfesten Angeboten. Geld wird zugeschossen oder Infrastruktur verbessert. Das ist richtig, aber die Vorstellung von Entwicklung beschränkt sich dabei eben nur auf das Materielle. Ein integraleres Konzept von Entwicklung, das den Menschen mit seinen Potenzialen umfasst, hat leider immer weniger Platz.

Die eher technisch ausgerichteten weltweiten Armutsbekämpfungsprogramme treffen auf Menschen, die letztlich nicht in der Lage sind, selbst aus der Armut herauszukommen. Bleiben sie deshalb auf Dauer unwirksam?

Ohne die ganze Welt zu kennen, würde ich sagen, dass sich dieser Trend auf jeden Fall deutlich abzeichnet. Hier in Peru gibt es zum Beispiel spezielle staatliche Institutionen für die Vergabe von Mikrokrediten. Die führen Weiterbildungen durch, sogenannte "capacitaciones", bei denen auf einer Veranstaltung Tausende von Menschen innerhalb von drei bis vier Stunden im Umgang mit den Mikrokrediten geschult werden. Nach dieser Veranstaltung gelten sie als weitergebildet und bekommen sogar ein Zeugnis ausgestellt. Das ist eine Beleidigung der Menschen. Es handelt sich um eine Instrumentalisierung der Armutsbekämpfung für sehr kurzfristige politische Ziele. Es geht immer nur um Zahlen. Die jetzige Regierung Perus behauptet, die Armut hätte sich erheblich reduziert. Aber wie die Armen leben, wie sie miteinander umgehen, wie sie sich organisieren und welche Perspektiven sie im Leben haben, interessiert keinen.

Welche Ansätze kann eine solidarische Hilfe verfolgen, die diesen inneren wie äußeren Kreislauf der Armutszementierung durchbrechen will?

Wir arbeiten wie medico mit Partnern, die im guten Sinne des Wortes politisiert sind. Sie verfügen über langjährige Erfahrungen im Umgang mit der Armut, im Umgang mit Menschen in Armut und in praktischer Solidarität. Es fehlt ihnen vielleicht an Fachkenntnissen, die hilfreich sein könnten. Wir wollen sie nicht zu Psychoanalytikern oder Psychotherapeuten ausbilden. Aber in Selbsterfahrungsgruppen sollen ihnen Fachkenntnisse vermittelt und ihre Fähigkeit, auf Menschen aus Armutskontexten einzugehen, gefördert werden. Das ist ein ganz entscheidender Punkt, der in der Regel in der Entwicklungszusammenarbeit vernachlässigt wird.

Aber Traumaarbeit ist doch gerade ein großes Schlagwort in der Entwicklungspolitik?

Bei den Themen Selbstwertgefühl und Trauma muss man aufpassen. Das Ganze ist sehr psychiatrisiert worden, beziehungsweise zu Schemen und Schlagworten verkommen. Alle sprechen nur von den Folgen des Traumas und haben ein bestimmtes Schema beim Umgang damit vor Augen. Aber im Umgang mit einem konkreten Menschen und seinen Gefühlen gibt es keine generellen Antworten. Man muss sich immer wieder aufs Neue mit dem einzelnen Fall beschäftigen und die Fähigkeit der Menschen, die vor Ort mit diesen Menschen arbeiten, entsprechend in diese Richtung entwickeln und fördern; immerhin geht es dabei um Traumatisierungen. In Lateinamerika gibt es immer wieder die Praxis der Workshops, die meistens an einem Wochenende stattfinden und auf denen man erklärt bekommt, wie man ein anderes, ein besseres Selbstwertgefühl erlangt. Das ist doch sehr naiv. Vielmehr müsste die ständige Begleitung dieser Gruppen im Vordergrund stehen.

Das Beispiel Südafrika

Wider den Kreislauf aus Armut und Gewalt

Aus einer Gruppe engagierte Psychologen, die Gefangene und Folteropfer des Apartheid-Regimes therapeutisch unterstützen, ist dieser langjährige medico-Projektpartner entstanden. Die Arbeit von Sinani in ausgegrenzten und gewaltgeprägten Gemeinden in KwaZulu-Natal ist getragen von der Überzeugung, dass Hilfe für Veränderungsprozesse alle Bedürfnisse wahrnehmen und ganzheitlich organisiert sein muss. Seit 1995 arbeitet Sinani in ca. 20 Gemeinden, in denen politische, soziale und häusliche Gewalt eng verschränkt sind, extreme Armut und eine hohe HIV-Infektionsrate herrscht. Die Gemeinwesenarbeit von Sinani verbindet die Selbstermächtigung des Einzelnen mit der Wiederherstellung von Beziehungen und Verbindungen in den Gemeinden sowie zu staatlichen Institutionen. Ziel ist es die politischen und sozialen Akteure in den Gemeinden - durch Fortbildungen, Entwicklung von sozialen und wirtschaftlichen Programmen - in ihrer Selbstermächtigung zu stärken. Die langjährige Begleitung der Gemeinden hat sich als so erfolgreich erwiesen, dass Sinani von staatlichen Stellen zur Fortbildung angefordert wird und ein Curriculum erarbeitet, auf dessen Grundlage Gemeinwesenarbeiter und Sozialpädagogen ausgebildet werden, die in diesen extremen Armuts- und Gewaltkontexten tätig sein werden. (Ausführliche Informationen zum Arbeitsansatz von Sinani)
Spendenstichwort: Südafrika.

Was wären Schwerpunkte einer solchen Weiterbildung in Abgrenzung zum allgemeinen Traumadiskurs?

Am Anfang ist es wichtig, eben keine Agenda zu haben, sondern sich erst einmal mit den Menschen zu treffen und sich anzuhören, was sie zu erzählen haben. Dabei sollte man ihnen nicht den Eindruck vermitteln, sie seien krank und man würde sie nun als Arzt entsprechend behandeln. Vielmehr sollte man deutlich machen, dass sie Menschen sind, die unter schwierigen Bedingungen leben, sich daher schwer tun, alleine weiterzukommen. Im Vordergrund sollte auf jeden Fall die Begleitung dieser Personen stehen und nicht die Einengung auf ihre traumatischen Geschichten. Ich selbst habe einmal in Peru einen Workshop mit ehemaligen Tuberkulosepatienten veranstaltet. Da haben wir erst einmal nur über den Alltag dieser Menschen gesprochen und erst später über das Thema Tuberkulose. Wir haben sie nicht als Kranke behandelt, sondern als Menschen, die es schwer haben im Leben und alleine damit nicht fertig werden, und dadurch ihre Geschichte entmedikalisiert. Es muss doch betont werden, dass niemand allein fertig werden kann mit so etwas Gravierendem wie der Vernachlässigung durch Armutsverhältnisse und den Katastrophen, die damit so häufig verbunden sind.

Ohne Agenda, das widerspricht den Armutsbekämpfungsprogrammen, die auf messbare Erfolge abzielen?

Auch ich bin für erfolgreiche Armutsbekämpfung. Es kommt dabei ganz darauf an, wie man den Erfolg definiert. Wenn man unter Erfolg versteht, dass immer mehr Menschen ein Bewusstsein für die eigene Lage entwickeln, empathisch im Umgang mit anderen werden und Solidarität ausüben, dann halte ich das für sehr erfolgreich.

Das Interview führte Katja Maurer

Dr. César Rodríguez Rabanal, in Peru geboren, hat in der Bundesrepublik studiert und am Frankfurter Sigmund-Freud-Institut seine psychoanalytische Ausbildung erhalten. Er hat mehrere Bücher zu psychosozialen Problemen in peruanischen Elendsvierteln verfasst.


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