Geboren und aufgewachsen in Bangalore in Südindien erlebt Ravi Narayan die Gegensätze und Ungleichheiten eines Subkontinents, in dessen Städten sich die Einwohnerzahl innerhalb eines Jahrzehnts verdoppelt, wo ein Großteil der Stadt- und Landbevölkerung keinen Zugang zur Basisgesundheitsversorgung hat, während in Privatkliniken Springbrunnen in den mit Marmor ausgekleideten Eingangshallen plätschern. Er studiert Medizin, verlässt jedoch den angestrebten Weg als Arzt bald wieder: „Um wirklich etwas zu verändern, muss man mit den Menschen arbeiten – in den Stadtteilen, in den Slums und in den Dörfern.“
Kaum die Abschlussurkunde des Medizinstudiums in der Hand, folgte er zunächst als junger Arzt 1971 dem Aufruf der indischen Regierung medizinische Versorgung in einem der vielen Flüchtlingscamps entlang der indischen Grenze zu leisten. Neun Millionen Menschen flohen vor der blutigen Unterdrückung eines Massenaufstandes, der später zur Unabhängigkeit des zukünftigen Bangladesch führte. Zusammen mit zwei Kollegen waren sie, neben einer Krankenschwester und einem Techniker, alleine verantwortlich für die Versorgung von 5.000 Flüchtlingen, zusammengepfercht auf einer Fläche nicht größer als ein Hektar. Die Erfahrungen sollten sein Leben verändern.
Er beschloss die klinische Medizin zu verlassen und seinem gewachsenen Interesse an Public Health und Gesundheitspolitik zu folgen. Nach weiterbildendem Studium in London kehrte er als Akademiker in die medizinische Lehre nach Südindien zurück. Aus Protest über die biomedizinische Ausrichtung und den mangelnden Kontakt mit der Bevölkerung kündigte er jedoch bald seine sichere Anstellung an der Universität: Zusammen mit einer Gruppe von Freunden gründete er 1984 ein Zentrum für Ausbildung, politische Öffentlichkeits- und Netzwerkarbeit für ein soziales Verständnis von Gesundheit. Der Mensch und der Einfluss der sozialen, ökonomischen, kulturellen und ökologischen Bedingungen auf seine Gesundheit sollten im Zentrum stehen und politische Teilhabe die Grundvoraussetzung für die Veränderungen sein. 1990 wurde die „Society for Community Health Awareness, Research and Action“ (SOCHARA) gegründet, welche bis heute mit einem multidisziplinären Team Öffentlichkeitsarbeit, Forschung und Lehre – mit klarem Schwerpunkt auf zivilgesellschaftlicher Beteiligung für Gesundheit – im Süden Indiens organisiert.
Gesundheit als Menschenrecht
Von Beginn an auf verschieden Ebenen aktiv – lokal, national und global – war die Teilnahme an den Versammlungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) bald ein wichtiger Bestandteil seines Engagements. Wenn auch nur als zivilgesellschaftlicher Akteur und somit extrem eingeschränkten Rederecht, so konnten hier jedoch der Austausch mit Gleichgesinnten aus aller Welt stattfinden und globale Netzwerke geschmiedet werden. Unter der Leitung des charismatischen Generaldirektors Halfdan Mahler war 1978 ein entscheidender Schritt gelungen: mit der Erklärung von Alma Ata wurde erstmalig festgeschrieben, dass Gesundheit ein Menschenrecht ist, welches der Beteiligung der Gesellschaft bedarf und dessen Grundvoraussetzung eine gerechte und solidarische Politik sein muss. Endlich konnten alle, die sich jahrzehntelang genau dafür eingesetzt hatten sagen „Das ist es, was wir wollen!“. In den Folgejahren bezogen sich Menschen und Organisationen nahezu euphorisch auf diese Deklaration. Ein Hoffnungsschimmer am Horizont!
Doch die Euphorie ließ schnell nach: Die 1980er und 1990er waren die Jahre massiver Kürzungen der Sozial- und Gesundheitsetats im Rahmen der sogenannten Strukturanpassungsprogramme insbesondere in den Entwicklungsländern. Die Rückzahlung der Schulden an Weltbank und den Internationalen Währungsfond stand im Vordergrund. Nicht mehr umfassende Gesundheitsprogramme wurden gefördert, sondern selektive, vermeintlich messbare, Programme der Basisgesundheitsversorgung. Die Menschen wurden wieder zunehmend zu Hilfsempfängern degradiert, welche durch warenförmig angebotene vertikal durchgeführte Gesundheitsprogramme „überleben“ können sollten.
Weltgesundheitsversammlung von unten
Ravi Narayan war es leid, dem Desaster als passiver Zuschauer vom Balkon der WHO-Sitzungen aus zuzusehen und beschloss mit weiteren Aktivisten 1998 durch eine „Weltversammlung von unten“ ein Zeichen zu setzen. Hier sollten alle reden dürfen und das Menschenrecht auf Gesundheit im Zentrum stehen – nicht die Effizienzsteigerung selektiver Gesundheitsprogramme mit dem Ziel der Kostenreduktion.
Zur ersten People’s Health Assembly kamen im Jahr 2000 mehr als 1.400 Menschen aus über 75 Ländern zusammen. Bei diesem Zusammentreffen so vieler Gleichgesinnter, die sich in Bangladesch erstmals persönlich begegneten, entstand die Idee eine globale Bewegung zu initiieren: das People’s Health Movement. Dr. Ravi Narayan wurde ihr erster Geschäftsführer.