People's Health Movement

Ein Aktionsfeld der Leidenschaft

19.08.2004   Lesezeit: 7 min

In Mumbai diskutierte das People’s Health Movement Alternativen zur herrschenden Gesundheitssituation. Von Andreas Wulf

Mumbai, Indien. Den längsten Weg hatten nicht die Delegierten aus Australien oder Ecuador, Kanada oder Südafrika, sondern die 200 Teilnehmer aus der unmittelbaren Nachbarschaft – zwei Tage brauchten sie, um aus Bangladesh zur Konferenz des People’s Health Movement (PHM) nach Indien zu gelangen. Einen Tag verbrachten sie an der Grenze zu Indien, den anderen im »People’s Health Train«, der 24 Stunden von Kalkutta bis nach Mumbai (früher Bombay) brauchte. Entsprechend groß war dann auch der Applaus, den die Delegation im weitläufigen Versammlungssaal des örtlichen YMCA nahe des Zentralbahnhofes in Mumbai einheimsen konnte. Ihre Teilnahme verdeutlichte auch, dass sich hier nicht allein die internationalen Gesundheitsexperten und NGO-Mitarbeiterinnen versammelten, sondern tatsächlich der Versuch geglückt war, Basisaktivisten mit einzubeziehen.

Denn auch aus Indien waren Hunderte angereist. Aus insgesamt 50 Ländern kamen die knapp 600 Menschen, die an dieser größten Manifestation der neuen Gesundheitsbewegung nach der People’s Health Assembly im Jahr 2000 teilnahmen, zwei Tage lang Erfahrungen austauschten, neue Aktivitäten planten und zumeist anschließend auch das 4. Weltsozialforum besuchten.

Zusammenkunft der Ungehörten

Die Verbindung zur globalisierungskritischen Bewegung und dem Weltsozialforum (WSF) war bewusst gesucht. Zur Eröffnung sprach mit Walden Bello einer ihrer bekanntesten Köpfe, und ein gutes Dutzend Veranstaltungen auf dem Weltsozialforum wurden seitens des PHM ausgerichtet. Aber nicht nur prominente WSF-Matadoren schätzten das Gesundheitsforum. Bedeutsamer noch als die Anwesenheit von Walden Bello war vielleicht die Präsenz von fünf offiziellen Delegierten der Weltgesundheitsorganisation WHO, die damit die Bedeutung des People’s Health Movement nach 3 Jahren hartnäckigen Lobbyierens anerkannte und das Gespräch offensiv suchte. Die Themen des Forums reichten von den Folgen neoliberaler Konzepte auf die Lebens- und Gesundheitsbedingungen der Menschen bis hin zu den verheerenden Auswirkungen von Krieg und Militarisierung in vielen Teilen der Welt. Im Fokus dabei immer: die zunehmende Kommerzialisierung der Gesundheitsversorgung und der damit einhergehende Ausschluss der Nicht-Zahlungskräftigen.

Indien bot dabei als Gastland ein besonders anschauliches Beispiel für die zunehmenden Spaltungen der Gesellschaft in Gewinner und Verlierer der Globalisierung. Steht doch gerade hier einer besonders seit den 90er Jahren wachsenden Mittelklasse und erfolgreichen Wirtschaftszentren – das indische »Silicon Valley 2« in der südindischen Stadt Bangalore beherbergt die weltweit zweitgrößte Computer- und EDV-Industrie nach den USA – eine wachsende Zahl von Ausgegrenzten gegenüber, die, von Großprojekten wie Staudämmen oder Flussprivatisierungen ihrer Lebensgrundlagen beraubt, die Zahl der städtischen Armen stetig vergrößern.

Medizintourismus nach Indien

Indische Hightech-Krankenhäuser zählen zu den Spitzenreitern in der Transplantationsmedizin und der »Medizintourismus« ist in Indien eine geförderte Deviseneinnahme auch für staatliche Hospitäler. Eine hohe Müttersterblichkeit und abnehmende Impfraten belegen dagegen die unzureichende Versorgung der »Globalisierungsverlierer« mit medizinischen Diensten, wie sie im Konzept der Basisgesundheitspflege (Primary Health Care) schon vor 25 Jahren nach der Konferenz von Alma Ata auch in Indien zur offiziellen Gesundheitspolitik erklärt wurde.

Ebenso deutlich zeigt sich die Kluft bei dem Thema HIV/AIDS. Während die indischen Firmen Cipla und Ranbaxy weltweit als »Markenpiraten« die antiretroviralen Medikamente mit 97-prozentigen Preisabschlägen gegenüber den Originalpräparaten der Pharmamultis anbieten und davon zunehmend auch Patienten in Lateinamerika und Afrika profitieren, standen diese Medikamente im staatlichen Gesundheitssystem Indiens paradoxerweise bis jetzt nicht zur Verfügung. Erst unter dem Druck der AIDS-Aktivisten hat die Regierung jetzt ein begrenztes Aktionsprogramm für sechs Bundesstaaten mit den höchsten Infektionsraten aufgelegt – wie viele und wieweit bei einem unzureichenden Gesundheitssystem die Betroffenen tatsächlich davon langfristig profitieren, muss sich erst noch erweisen.

Aber das Forum analysierte nicht nur die Weltkrankheitsverhältnisse, sondern brachte die konkreten Akteure und ihr Handeln für eine bessere Gesundheit zusammen – die indischen Dorfgesundheitsarbeiterinnen, die sich oftmals gegen die professionelle Arroganz der lokalen Mediziner Gehör und Respekt verschaffen müssen, die US-amerikanische ehemals obdachlose alleinerziehende Mutter, die sich jetzt für eine bessere Perspektive der fast 50 Millionen Armen ohne Krankenversicherung in den USA engagiert, die guatemaltekischen Aktivisten, die traditionelle Heilweisen und -traditionen in den Kampf um ein auch in den ländlichen Regionen funktionierendes Gesundheitswesen integrieren. Die »Stimmen der Ungehörten«, ihre Erfahrungen und Forderungen sind fester Bestandteil der Treffen des PHM. Besonders beeindruckten die Zeugnisse der beiden indischen AIDS-Aktivisten, die offen ihre eigene HIV-Infektion und Homosexualität ansprachen – beileibe keine Selbstverständlichkeit im viktorianisch-prüden Indien.

Die Prinzipien von Alma Ata

Wert gelegt wurde auf das Konkrete, wenn mögliche Lösungsstrategien der großen Gesundheitsprobleme zur Diskussion kamen. So auch in der intensiven Debatte mit den anwesenden WHO-Delegierten, deren aktuelle Kampagne »Behandlung für 3 Millionen AIDS-Kranke bis zum Jahr 2005« das größte Einzelprojekt in der Geschichte der Weltgesundheitsorganisation werden soll. Denn zu oft wurde erlebt, dass große Ankündigungen an den miserablen Bedingungen der Gesundheitseinrichtungen vor Ort scheiterten, dass die besten Programmentwürfe ohne eine intakte dezentrale Struktur, ohne motivierte, ordentlich bezahlte und ausgebildete Gesundheitsarbeiterinnen nicht funktionieren. Hinzu kommt auch in Ländern des Südens der Abbau des öffentlichen Gesundheitswesens im Namen des Rückzugs des Staates und verstärkter Privatisierung.

Es sind diese Erfahrungen, die den Hintergrund des hartnäckigen Festhaltens an den »Prinzipien von Alma Ata« bilden; eines Gesundheitsbegriffs, der die Rahmenbedingungen gesunden Lebens wie Wasser, Ernährung, Wohnraum ebenso für alle einfordert wie die Verantwortung des Staates für eine allen zugängliche Gesundheitsversorgung und die aktive Beteiligung der Menschen an der Gestaltung ihrer Gesundheitssysteme. Aus passiven Empfängern von Wohltätigkeit sollten kritische Akteure ihrer Gesellschaften werden.

Gesundheitsbewegungen im Iran

Dabei sind es nicht nur die international bekannten Beispiele wie die AIDS-Aktivisten, die für einen Zugang zu Behandlung kämpfen, die positive Beispiele abgeben und mit denen sich die Aktivisten des PHM in vielen Ländern verbündet haben. Auch aus dem Iran wurde von der erfolgreichen Basisarbeit der Gesundheitsbewegung berichtet, die in vielen Regionen des Landes ein flächendeckendes Netz von Gesundheitshäusern etablieren konnte, die nicht nur die Versorgung der ländlichen Bevölkerung substantiell verbesserten, sondern auch eine relevante Berufs- und Weiterbildungsoption für iranische Frauen darstellen.

Die Idee der Gesundheitsbewegung selbst kann dabei viele verschiedene Formen annehmen: professionelles Lobbying in der WHO-Zentrale in Genf gehört ebenso dazu wie die beeindruckende Leistung der Übersetzung der Gesundheitscharta in nunmehr 50 verschiedene Sprachen, die auch Menschen, die nicht die kolonialen Weltsprachen beherrschen, Zugang zu diesem Dokument ermöglicht. Oder die aktuelle weltweite Unterschriften-Kampagne, die ihr Ziel der 1 Million Unterschriften für »Health for All Now!« schon fast erreicht hat – zur Zeit haben bereits 800000 unterschrieben! – und die in Deutschland von medico international koordiniert wird.

Bangladesh und Indien haben bereits nationale »Gesundheitsbewegungen«, die die Gesundheitspolitik ihrer Regierungen kritisch beobachten und lokale, regionale und landesweite Aktivitäten koordinieren; auch in Lateinamerika existieren lange schon überregionale Kontakte, in anderen Regionen der Welt sind diese Netzwerke im Entstehen begriffen. Damit wird die »Gesundheitsbewegung der Menschen« Teil des Prozesses der »Bewegung der Bewegungen«, die sich in ihrer Vielfältigkeit in den Sozialforen weltweit und regional ausdrückt.

Vernetzung von unten

Die Basisgesundheitsbewegung hat ehrgeizige Ziele. Für das Jahr 2005 wurde eine zweite große People’s Health Assembly vereinbart – diesmal im südamerikanischen Ecuador. Den Akteuren des Netzwerkes soll dann noch mehr Zeit für den Austausch und die Entwicklung gemeinsamer Aktionen ermöglicht werden als auf dem diesjährigen Gesundheitsforum. Ebenso soll in Ecuador die erste Ausgabe eines Global Health Watch vorliegen, eine kritische Bestandsaufnahme des Zustands der Gesundheit der Menschen und der Ursachen, warum das alte Ziel »Gesundheit für Alle« immer noch in weiter Ferne liegt.

medico wird im Netzwerk seiner Partner daran mitwirken. Die palästinensische Union of Medical Relief Committees (UPMRC) zählt zu den Initiatoren des People’s Health Movement, wie unser südafrikanischer Partner David Sanders, Direktor der renommierten School of Public Health in Kapstadt. Sie alle stehen in kritischer Distanz zu den rein technokratischen »Quick Fix«-Vorschlägen und »kostengünstigen« Gesundheitsinterventionen, die im nationalen wie internationalen Diskurs der Politik so en vogue sind. Gleichzeitig setzen sie auf die Internationalisierung ihrer Erfahrungen und die weltweite Vernetzung, zur Stärkung lokaler Handlungsoptionen wider die krankmachenden Verhältnisse. Politisch, ökonomisch und sozial. Denn auch die Gesundheit ist letztlich eine Machtfrage.


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