Palästinenser in Jarmuk

Auf mehr als einer Todesliste

09.04.2015   Lesezeit: 6 min

Die IS-Miliz hat Syriens Hauptstadt Damaskus im Visier. Ihr Weg führt durch das Palästinenserviertel Jarmuk.

Der sogenannte „Islamische Staat“ (IS) erreicht am 1. April Jamurk von östlicher Seite aus dem Nachbarstadtteil al-Hajar al-Aswad. Der Vorstoß wird mit Katjuscha-Raketen und schweren Maschinengewehren eingeleitet. Zwei Tage später gelingt es dem IS fast das gesamte Viertel unter seine Kontrolle zu bringen. Möglich war dies nur, weil die Al-Qaida-nahe Nusra-Front, die seit der Jahreswende die stärkste Militärkraft in Yarmouk war, eng mit dem IS kooperiert. Die Nusra-Front hatte bereits Ende 2014 zwei zivile Aktivisten mit dem Vorwurf der „Ungläubigkeit“ geköpft und damit ihre Macht öffentlich und für alle sichtbar als blanke Willkürherrschaft etabliert.

Zeitgleich mit dem Angriff des IS begann auch das Regime Jarmuk wieder unter Feuer zu nehmen. Der Bürgerjournalist Jamal Khalifa lieh sich zu Beginn der Kämpfe noch schnell die professionelle Kamera eines Freundes, um den Vormarsch des IS fotografisch zu dokumentieren. Nur kurze Zeit später wird er von einer Granate getroffen und getötet.

Schwarze Fahnen des IS über weiten Teilen von Jarmuk

Die Nusra-Front übergab gleich zu Anfang ihre Militärposten an den IS. Bereits am späteren Nachmittag des 2. April wehen in weiten Teilen Jarmuks die schwarzen Fahnen des IS auf den Dächern und die über die Lautsprecher der Moscheen wird  die Aufforderung verbreitet sich dem IS auszuliefern, um seine „Gläubigkeit“ unter Beweis zu stellen. Der IS nennt dies euphemistisch „die Beendigung der Belagerung von Jarmuk“ und beginnt damit in Wahrheit seine eigene Terrorherrschaft. Das Regime und mit ihm loyale palästinensische Milizen versuchen den IS zurückzudrängen.

Zwischen diesen beiden Fronten operiert die Hamas-nahe Aknaf Beet al Maqdisi-Miliz, welche das Stadtviertel als nahezu einzige relevante militärische Kraft gegen den IS aus dem Süden und das Regime aus dem Norden verteidigt. Jegliche direkte Unterstützung für die Aknaf-Einheiten wird durch die Nusra-Front verhindert, die gezielt den südöstlichen Zugang in die Viertel von Jarmuk blockiert. Zudem sind diese Gebiete gezielt vermint worden, wie Aktivist_innen aus Jarmuk berichten.

Dennoch nimmt der Kampf um Jarmuk zu, da sich offensichtlich in der Notlage immer mehr Freiwillige den Aknaf-Einheiten anschließen, um an beiden Fronten Widerstand zu leisten: Gegen Assad und seine loyalen Milizen, aber auch gegen den IS und die mit ihm verbündete radikalreligiöse Nusra-Front.

Leben in der Vorhölle

Wegen der Ausgangssperre ziehen sich die Zivilist_innen in ihre Häuser zurück. Es gibt kaum noch Nahrungsmittel, kein Wasser und keine medizinische Versorgung mehr. Ein Aktivist berichtet via Skype: „Wir sind seit drei Tagen von der Versorgung abgeschnitten und haben kein sauberes Wasser mehr. Die Kinder leiden an Durst.“ Ein anderer teilt mit: „Es war noch nie so schlimm in Jarmuk. Wir sind wirklich ein Teil der Hölle geworden.“ Und weiter: „Alle Märkte sind in der Gegend geschlossen worden. Sowohl der IS wie auch das Regime benutzen schwere Raketenwerfer. Wir sind also noch nicht mal mehr in unseren Häusern sicher, weil von oben und unten geschossen wird. Beide Seiten haben Scharfschützen auf den Dächern postiert und wir können es nicht mehr wagen, das Haus zu verlassen. Überall sind etliche verletzte Zivilisten und es gibt keinen Weg sie zu versorgen.“

Angriffe auf Solidarität und Selbstverwaltung

Zum Versorgungsmangel kommen die politische Perspektivlosigkeit und die zunehmende Verwilderung der bewaffneten oppositionellen Gruppen, die auch in Jarmuk aktiv sind. Früher konnte sich die Zivilgesellschaft dem Druck der Belagerung durch Eigeninitiative erwehren. Kleine lokale NGOs und Nachbarschaftsprojekte eröffneten Schulen, Kindergärten und landwirtschaftliche Projekte. Aber genau diese Selbstständigkeit wurde von den bewaffneten Gruppen als Bedrohung ihres Machtmonopols wahrgenommen. Seit November 2014 wurden fünf zivile Schlüsselfiguren in Jarmuk, die alle versuchten eine friedliche Lösung bezüglich der Belagerung ihres Stadtviertels zu erreichen, von Unbekannten erschossen.

Am 30. März 2015, nur zwei Tage bevor der IS in Jarmuk einfiel, wird mit Yahiya al-Horani, dem Leiter des Palästinensischen Roten Halbmonds in Jarmuk, auch der verantwortliche Ausbilder für das medizinische Freiwilligenpersonal im Lager erschossen. Horani arbeitete besonders in den randständigen Vierteln von Jarmuk, wo es kaum medizinische Versorgung gibt.

Drei Wochen zuvor, am 8. März, misslang bereits der Versuch den bekannten Menschenrechtler Abdallah al-Khatteb vor seinem Haus zu entführen. Beide Angriffe waren Versuche die Selbstorganisation der Gesellschaft zu schwächen und Angst zu verbreiten. Auch ein Mitarbeiter der palästinensischen al-Jafra Foundation, des lokalen medico-Partners in Jarmuk, wurde von einem Scharfschützen erschossen, als er sein Haus verlässt.

Alle zivilgesellschaftlichen Organisationen mussten mittlerweile ihre Hilfsprojekte unterbrechen. Der letzte Mikrokosmos der Solidarität in Jarmuk droht komplett zerstört zu werden.

Gefangen zwischen den Fronten

Tausende Menschen sind bereits in die letzten noch nicht vom IS kontrollierten Gebiete im Norden von Jarmuk geflohen. Unterdessen sind die letzten Reste der oppositionellen Zivilgesellschaft in einer doppelten Zwangslage gefangen.

Diejenigen palästinensischen Aktivist_innen die sich einer Zusammenarbeit mit dem IS, als auch dem syrischen Regime verweigern, werden von beiden Konfliktparteien mit regelrechten Todeslisten gesucht. Eine Flucht durch die offiziellen Checkpoints bleibt ihnen damit zzt. verwehrt.

Es sind Akteure, die in der Zeit der Belagerung die Gesellschaft nicht nur vor dem völligen Zusammenbruch retteten, sondern auch tatsächliche Überlebensmöglichkeiten in einem solidarischen Teilen und Miteinander aufbauten. Ihnen muss sicheres Geleit und eine garantierte Nicht-Festnahme zugesichert werden.

Für die äußere Belagerung von Jarmuk sind das Regime und die regimeloyale palästinensische PFLP-GC verantwortlich. Sie sind es, die erst den tödlichen Sperrgürtel schufen, der Jarmuk in ein großes Gefängnis verwandelte in das jetzt der IS hineinstoßen konnte. Der IS hat durch seine Kontrolle weiter Teile des Viertels über die Bewohner_innen eine zweite innerer Belagerung verhängt.

Der Bevölkerung in den umkämpften Vierteln bleibt nur noch, sich in ihren Wohnungen zu verstecken, um nicht auf offener Straße getötet zu werden. Nur die Öffnung der Checkpoints wäre der gangbare Weg gleichzeitig beide Belagerungen zu durchbrechen. Der Verantwortliche für diese Kontrollpunkte und den eisernen Ring um Jarmuk sitzt nur wenige Kilometer entfernt im Präsidentenpalast von Damaskus und heißt Bashar al-Assad.

Die Verantwortung der Palästinensischen Autonomiebehörde

Es muss jetzt einen humanitären Zugang nach Jarmuk geben, der durch die UN gesichert und garantiert wird. Dazu müssen sich all jene verpflichten, denen die offizielle und politische Verantwortung für die Bevölkerung von Jarmuk obliegt. Zu nennen ist nicht nur das syrische Regime und in zweiter Linie vielleicht die UNWRA, sondern vor allem auch die Palästinensische Autonomiebehörde. Sie hat sich in den letzten zwei Jahren – wenn überhaupt – nur sehr zurückhaltend zu katastrophalen Lebensbedingungen der Palästinenser_innen in Jarmuk geäußert. Noch gestern sagte in Damaskus der palästinensische Vertreter im syrischen Staatsradio, dass er alle Maßnahmen der syrischen Regierung in Jarmuk gutheiße und dass der andauernde Abwurf von Fassbomben allein die IS-Kämpfer treffen würde und nicht gegen die Zivilbevölkerung gerichtet sei.

Jarmuk mag aufgrund seiner palästinensischen Geschichte und seiner eigenen Widerstandskultur ein besonderer Ort in Syrien gewesen sein, heute ist es ein Beispiel für eine gesellschaftliche Verrohung, in der die militärische Macht alles und die Bevölkerung nichts wert ist. Jarmuk war der einzige Ort in Syrien, an dem mehr als hundert Menschen an Hunger starben. Von den ursprünglich 160 000 Bewohnern flohen bereits Ende 2012 die meisten vor der Gewalt. Zurück blieben nur die ärmsten unter ihnen. Und auch sie blicken jetzt dem Tod ins Auge. Heute starb in Jarmuk eine alte Frau an Auszehrung und Unterernährung. Sie war im Jahr 1935 geboren worden, im früheren Palästina.


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