Es ist heiß und eng in dem kleinen Büro, das zum Workshopraum umgewandelt wurde. Alle brauchen eine Pause. Edward möchte noch schnell ein Foto machen. „Kann ich das auf meine Facebook-Seite stellen?“, fragt er. In der Mittagspause kommt M. vorbei, Daramy begrüßt ihn herzlich und klopft ihm auf die Schulter. „Ihm geht es nicht gut,“ erklärt er mir, „es ist ein dauerndes Auf und Ab, er ist nicht mehr richtig im Kopf seit der Abschiebung.“
Ich bin in Freetown bei der Selbsthilfegruppe für ehemalige Asylsuchende, die nun in der Hauptstadt von Sierra Leone gestrandet sind. NEAS wird von medico schon seit vielen Jahren gefördert, auch deshalb, weil die Gruppe anfangs von aus Deutschland Abgeschobenen initiiert wurde. Viele haben Kinder, zu denen sie keinen Kontakt mehr haben. So auch Abdulay Daramy, der Leiter der Gruppe. Sein Sohn ist jetzt 18 und gerade von Hamburg nach Oldenburg gezogen. „Er ist ein leidenschaftlicher Basketballspieler und dort im Verein“, erzählt Daramy. Er hat seinen Sohn seit dem achten Geburtstag nicht mehr gesehen. Daramy wurde zweimal abgeschoben. Als er sich wehrte, brachen sie ihm seine Hand.
Daramy begrüßt die rund 25 Anwesenden, die zum Workshop gekommen sind. Heute ist der dritte Tag einer Fortbildung über Flucht und Migrationspolitik, über die Genfer Flüchtlingskonvention, über Frontex und das europäische Migrationsregime, über internationale Organisationen im Flucht- und Migrationskontext wie UNHCR und IOM. Ich informiere über das neue Gesetz zur „geordneten Rückkehr“ in Deutschland, das Abschiebungen beschleunigen soll, über die Abschiebehaftzentren und die Proteste, die in Deutschland dagegen organisiert werden. Außerdem schauen wir gemeinsam den Film „Im Kreis – Afghanistan ist nicht sicher“, der über Abschiebungen nach Afghanistan berichtet. Der Film zeigt auch eine Demonstration in Hamburg, die sich unter dem Motto „We‘ll come united“ gegen die Abschiebung afghanischer Geflüchtete wendet. Plötzlich ist ein Stück Welt in diesem Büro. „Ja, vereint müssen wir sein“, sagt Eward Kallon, „sonst sind wir verloren.“ Er wurde vor zwei Jahren aus den USA abgeschoben, wo er über zwanzig Jahre gelebt hatte. Als Jugendlicher kam er dorthin, aber unter Trump haben sich die Abschiebungen aus den USA mehr als verdoppelt. Im tiefsten amerikanischen Englisch sagt er: „Hey Daramy, als du mich damals am Flughafen empfangen hast, hast du mich gerettet.“ Und: „You made me feel belong.“ NEAS ist seine Bezugsgruppe geworden, denn eine Familie hat er in Sierra Leone nicht mehr.
Die Gruppe diskutiert, was sie von der sierraleonischen Regierung in Bezug auf Migrationspolitik fordern sollen. „Wir brauchen eine Policy, wie mit Rückkehrern umgegangen wird, es muss ein Programm geben, das sie auffängt und wieder integriert. Es kann nicht sein, dass wir als NEAS das alleine machen“, meint einer. Andere geben zu bedenken, dass es nicht darum gehen dürfe, die Infrastruktur für Abschiebungen zu verbessern. Daramy steht auf und sagt voller Leidenschaft: „Wir lehnen Abschiebungen ab. Es sind Menschenrechtsverletzungen. Wir müssen unsere Regierung dazu bringen, sich nicht daran zu beteiligen, in dem sie Papiere ausstellt oder auf andere Weise kooperiert!“
Koloniale Kontinuitäten
Freetown. Abends im Gästehaus lese ich über diese Stadt mit ihrer völlig schrägen Geschichte zwischen Europa, Afrika und Amerika. Britische Philanthropen schickten 1786 380 freigelassene Sklaven aus Amerika dorthin, als „Dank“, weil sie auf Seiten Großbritanniens im Unabhängigkeitskrieg gekämpft hatten. 122 erlagen schon in den ersten Monaten Krankheiten, die restlichen verhungerten fast, weil sie zur falschen Jahreszeit mit dem falschen Saatgut kamen und nichts anpflanzen konnten. Einige waren so verzweifelt, dass sie für Sklavenschiffe arbeiteten, die an der Küste Menschen nach Amerika verfrachteten. Bunce Island in der Nähe von Freetown war einer der Ausfuhrhäfen für Sklaven, zwischen 1668 und 1807 wurden von hier über 50.000 Menschen vor allem nach Zentral- und Nordamerika verschleppt, wo sie in North Carolina und Georgia, aber auch in Jamaika und Kuba die sogenannten Gullah communities bildeten, deren Sprache Wurzeln in Sierra Leone hat.
Als die Briten sechs Jahre später eine neue Gruppe befreiter Sklaven nach Freetown schickten, gelang es diesen nach harten Kämpfen, dort zu siedeln. Aber statt der versprochenen Eigentumsrechte an Land wurden sie der britischen Sierra Leone Company unterstellt und sollten für die Briten Steuern eintreiben. Nach dem Ende der Sklaverei 1807 wurde Sierra Leone britische Kronkolonie. Freigelassene Sklaven von überall, Angola, Senegal, Karibik kamen nach Freetown, zeitweilig wurden hier 200 verschiedene Sprachen gesprochen. Sie bildeten die Struktur der Kolonialverwaltung und sollten britische Interessen vertreten, weil die Kolonialherren die klimatischen Bedingungen in Freetown fürchteten. Um der schwülen Hitze zu entgehen, bauten sich die Briten Häuser weit oben auf dem Berg. Noch heute residieren dort die Reichen, die amerikanische Botschaft, das British Council und andere internationale Organisationen in stattlichen Villen. Unten im Zentrum Freetowns finden sich Holzhäuser im Stil der Karibik. Die Bauweise hatten einst aus Jamaika zurückgekehrte „Maroons“ mitgebracht. In einem solchen Holzhaus ist auch das Büro von NEAS untergebracht.
Mit den Mitteln des Rechts
Am nächsten Tag besuche ich medicos anderen Projektpartner in Sierra Leone, die Menschenrechtsorganisation NMJD. Diese setzt sich seit vielen Jahren für die Rechte der Landbevölkerung in den Abbaugebieten der Diamentenfirmen ein. Im März 2019 haben sie einen neuen Weg beschritten: Vor dem höchsten Gericht des Landes haben die Gemeinden von Gbense und Tankoro Klage gegen Koidu Ltd., eine der größten Firmen, eingereicht. Sie werfen Koidu Ltd. die Beteiligung an Gewalt, Mord, Umweltschäden und der Zerstörung von Häusern und Feldern vor. Koidu Ltd., das sich inzwischen Octea nennt, ist der Name einer Firma, die von südafrikanischen Söldnern der Executive Outcomes gegründet wurde. Die ehemaligen Spezialeinheiten des Apartheidregimes waren dafür berüchtigt, politische Gegner zu verfolgen. Nach dem Ende der Apartheid haben sie sich als privatisierte Einheiten im Bürgerkrieg in Sierra Leone anheuern lassen. Als Gegenleistung für ihren Einsatz gegen Rebellengruppen erhielten sie Diamantenminen und -schürfrechte. Im Laufe der Jahre änderte die Firma immer wieder ihren Namen und ihre komplizierte Besitzstruktur, behielt aber ihren rücksichtslosen Stil der Expansion und Vertreibung lokaler Gemeinden bei. So nehmen sie auf der Suche nach Diamanten in bewohnten Gebieten unterirdische Sprengungen vor.
„Koidu Ltd. hat unser Leben zerstört“, erklärt die Vertreterin der Anwohnerorganisation „Marginalized Affected Property Owners Association“ in der Klageschrift. „Unser Land ist mit Steinbrocken bedeckt und unsere Wasserquellen sind vergiftet. Unsere Häuser werden jeden Tag von Explosionen erschüttert.“ Unter den Klägerinnen sind Frauen, die früher kleine Felder betrieben, ihr Land aber entschädigungslos an die Diamantenmine verloren haben. Proteste wurden brutal niedergeschlagen, mehrere Menschen kamen ums Leben. Beteiligt an der Repression war auch Koidu Ltd. Es gibt also viele Gründe für die jetzige Klage. Und doch ist es außergewöhnlich, dass lokale Gemeinden sich auf diese Weise gegen die mächtigen Bergbauunternehmen wehren und damit auch das eigene Rechtssystem herausfordern. In einem ersten Schritt verlangen die Kläger, dass die Firma, die weltweit vernetzt ist, Transparenz über ihre Teilhaber herstellt, um die Verantwortlichen sichtbar zu machen, anklagen zu können. Joseph Ansumana, einer der NMJD-Kollegen, sagt mir verschmitzt: „Seit wir die Klage eingereicht haben, hat Octea plötzlich angefangen, in den Bergbaugemeinden Brunnen zu bohren und Frauengruppen zu unterstützen.“ Kürzlich sei ein Vertreter der PR-Abteilung von Octea zu ihm gekommen und habe gefragt, ob man über die Sache nicht noch mal reden könne. Schließlich habe man doch als Kinder in der gleichen Kirche gesessen. „Das habe ich abgelehnt“, so Joseph. „Geredet haben wir die ganzen letzten Jahre, aber Octea wollte nichts hören und hat seine Sicherheitskräfte gegen die Gemeinden gehetzt. Jetzt klagen wir weiter.“ In Sierra Leone und wenn nötig vor einem westafrikanischen Regionalgericht.
Abu Brima, der Direktor eben jener Menschenrechtsorganisation, langjähriger Aktivist gegen den Ressourcenraub, stellt die Klage gegen die Diamantenfirma zudem in einen großen Kontext und verweist auf die Forderungen nach einem UN-Vertrag, der die Klage gegen Menschenrechtsverbrechen von privaten Firmen als Rechtsinstrument rechtlich bindend verankern soll. Mit großem Interesse verfolgt er die globale Kampagne, an der sich Staaten aus dem Süden genauso beteiligen wie zivilgesellschaftliche Organisationen. Abu Brima berichtet von der langfristigen Planung seiner Organisation, die auf zwei Jahrzehnte gedacht ist. Scherzend meint Brima zu diesem Zeitraum: „Kapitalismus zu bekämpfen ist eben nicht einfach.“
In Sierra Leone unterstützt medico die Selbsthilfeorganisation von Abgeschobenen, das Network of Ex-Asylum Seekers (NEAS) und die Menschenrechtsorganisation Network Movement for Justice and Development (NMJD).
Spendenstichwort: Sierra Leone
Usche Merk ist bei medico Koordinatorin für Projekte zu Psychosozialer Arbeit sowie Südafrika und Sierra Leone. Der Bericht ist eine Reflektion ihrer Dienstreise im Frühjahr 2019.
Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 2/2019. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!