Zwangsmigration ist eine Folge von Rohstoffausbeutung“, sagt Patrick Tongu vom Network Movement for Justice and Development (NMJD) in Sierra Leone. Die Aktivistinnen und Aktivisten wissen, wovon sie sprechen: Seit Jahren beraten sie einzelne Menschen und ganze Dorfgemeinschaften, die von Bergbauunternehmen gewaltsam von dem Land vertrieben werden, das bereits ihre Vorfahren bewirtschaftet haben. Der Abbau der Diamanten stürzt ausgerechnet diejenigen in Not und Elend, die das Land bewohnen, in dem die Bodenschätze lagern.
Das westafrikanische Land Sierra Leone ist so groß wie Bayern und verfügt über zahlreiche mineralische und landwirtschaftliche Rohstoffe. Die Vorkommen an Diamanten, Bauxit, Rutil, aber auch das fruchtbare Land könnten einen bedeutenden Beitrag zur Entwicklung des Landes leisten. Tatsächlich aber lebt die übergroße Mehrheit der fünf Millionen Einwohnerinnen und Einwohner Sierra Leones unter der Armutsgrenze.
Seit Jahrzehnten verdienen an dem Abbau und Handel der Bodenschätze vor allem ausländische Unternehmen und eine kleine Elite in Sierra Leone. Statt mit den Einnahmen ein Bildungs- und Gesundheitssystem aufzubauen und die Bevölkerung an dem Wohlstand teilhaben zu lassen, flossen sie in die Taschen weniger. Das löste zunehmend Protest aus. Als 1991 eine Rebellenbewegung einige Diamantenminen unter ihre Kontrolle brachte, brach ein grausamer Bürgerkrieg aus. Elf Jahre lang wurde um den Zugriff auf die Bodenschätze und die damit verbundene Macht gekämpft. Vor allem europäische Konzerne kauften die wertvollen Steine und finanzierten damit die Waffenkäufe aller Kriegsparteien. Die Skandalisierung dieses Zusammenhangs durch zivilgesellschaftliche Akteure führte zu einem Verbot und infolgedessen starken Rückgang des Handels mit Konfliktdiamanten.
An den ungerechten Verhältnissen und der Ausbeutung der Bodenschätze zugunsten weniger aber hat sich nichts geändert. Noch immer vergibt die sierra-leonische Regierung bereitwillig Förderlizenzen an ausländische Unternehmen, ohne sie dazu zu verpflichten, auf die Grundbedürfnisse der lokalen Bevölkerung Rücksicht zu nehmen. In den Minen selbst arbeiten Zehntausende unter gesundheitsschädlichen und menschenunwürdigen Bedingungen. Die meisten verdienen weniger als einen US-Dollar pro Tag, manche werden nur mit einer Tagesverpflegung Reis bezahlt. Kinderarbeit ist die Regel.
Die Betreiberfirmen der Minen können diese Ausbeutung durchsetzen, weil es ein Heer von Mittellosen gibt. Das hat auch damit zu tun, dass immer weniger Menschen ihren Lebensunterhalt allein durch die Arbeit auf dem Feld bestreiten können und abwandern. Die Landflucht hat viele Gründe, vor allem aber einen: In einem Land, in dem schon heute Nahrungsmittelknappheit herrscht, hat die Regierung die Hälfte der landwirtschaftlichen Nutzfläche für die nächsten Jahrzehnte an ausländische Investoren verpachtet.
Der soziale Krieg geht weiter
Daramy Abdulai floh mit 17 nach Deutschland. Heute setzt er sich in Sierra Leone für abgeschobene Landsleute ein.
Der blutige Bürgerkrieg, der Sierra Leone elf Jahre lang erschütterte, drang bis in das kleinste Dorf des Landes vor. Auch die Familie von Daramy Abdulai musste fliehen. Aus der diamantenreichen Provinz Kono, wo der Krieg begonnen hatte, ging sie in die Hauptstadt Freetown, die als sicher galt. Hunderttausende hatten dort Zuflucht gesucht, als Anfang 1999 die Truppen der Revolutionary United Front (RUF) die Stadt überfielen und ein Massaker anrichteten. Der Kampf forderte mehr als 4.000 Tote. „Ich verlor meine Familie. Wir wurden alle verrückt im Krieg, ich wollte nur noch weg“, erzählt Daramy, der zu diesem Zeitpunkt 17 Jahre alt war. Ein Freund beschaffte ihm einen Pass und drückte ihm ein Flugticket in die Hand. Im Sommer 1999 landete er in Hamburg. „Ich konnte es kaum fassen, dass ich es geschafft hatte, dass sich Leute um mich kümmerten, dass ich lebte.“
So schmerzhaft die Sorge um die Zurückgebliebenen war und die Erinnerungen an das Geschehene – er war in Sicherheit. Schon bald lernte Daramy eine Frau kennen und 2002 kam der gemeinsame Sohn Lionel zur Welt. Im gleichen Jahr wurde in Sierra Leone der Friedensvertrag unterzeichnet. In die Freude über das Kriegsende in seinem Herkunftsland mischte sich die Angst vor einer Abschiebung. Schließlich galt Sierra Leone durch den Friedensschluss deutschen Behörden wieder als „sicheres Herkunftsland“. Daramy hatte jedoch kaum mehr Kontakt nach Sierra Leone. Er sah seine Zukunft in Deutschland.
2009 bekam er den Abschiebebescheid, kurz darauf wurde er zur Ausreise gezwungen. Er hatte kaum Zeit, sich von seiner Lebensgefährtin und seinem Sohn zu verabschieden. „Ich stand schockiert am Flughafen von Freetown. Gerade mal 1.000 Leones hatte ich in der Tasche, umgerechnet einen Euro. Ich wusste nicht mal, wie ich die Fahrt in die Innenstadt bezahlen sollte.“ Mit Hilfe von Freunden hat Daramy die erste Zeit zurück in Sierra Leone überstanden. Auf der Straße traf er Bekannte, die ebenfalls aus Deutschland abgeschoben worden waren. Viele waren schwer gezeichnet von dem, was passiert war. Sie hatten ihre Familien in Deutschland zurücklassen müssen und stießen nun in Sierra Leone auf starke Ablehnung. Ihre Landsleute dachten, sie seien zurückgeschickt worden, weil sie kriminell geworden waren.
Gemeinsam mit anderen Abgeschobenen gründete Daramy das Netzwerk ehemaliger Asylsuchender in Sierra Leone (NEAS): „Wir können die Asylgesetze nicht ändern, aber wir können die Leute hier würdig empfangen und sie in der ersten Zeit unterstützen.“ Außerdem sprechen wir mit denjenigen, die sich auf den Weg machen wollen. „Der Friedensvertrag von 2002 hat die Fluchtursachen nicht behoben“, erklärt Daramy. „Viele Menschen sind arm. Wenn wenigstens ein Teil des Geldes, das die Regierung mit dem Verkauf der Rohstoffe verdient, in den Aufbau von menschenwürdigen Wohn- und Lebensbedingungen fließen würde, müsste niemand weggehen.“
Die nach dem Krieg aufgewachsene Generation verdingt sich zu niedrigen Löhnen in den Minen. Tausende Menschen wurden enteignet, um auf riesigen Landflächen Zuckerrohr für den Export anzubauen. Viele fliehen wieder in die Städte oder machen sich auf nach Europa. Daramy weiß warum: „Wir kennen die Bilder von den sinkenden Booten. Und wir sagen den Leuten, dass Europa nicht aus Milch und Honig gemacht ist, dass sie nicht legal bleiben dürfen. Aber das Leben ist so hart hier, dass wir sie nicht aufhalten können. Schließlich hat jeder das Recht, ein besseres Leben zu suchen.“