Viele Angehörige der Baby-Boom-Generation aus Deutschland kennen die generationenübergreifenden Folgen von Hunger. Wer in den 1950er und 1960er Jahren geboren wurde, erinnert sich gut an die Erziehungsdiktatur rund um das Thema Essen. Die Nahrungsmittelverschwendung von heute war damals undenkbar. Eher wurde man als Kind an den Tisch gekettet, als dass man seinen Teller nicht leer aß. Die Elterngeneration hatte Hunger am eigenen Leib erlebt - eine tiefe Prägung für das ganze Leben, eine nicht zu überwindende Erinnerung an eine unerträgliche körperliche Verletzung. Den Terror des Hungers hat Herta Müller in ihrem Roman „Atemschaukel” beschrieben: „Der Nullpunkt ist das Unsagbare. Wir sind uns einig, der Nullpunkt und ich, dass man über ihn selbst nicht sprechen kann, höchstens drum herum. Das aufgesperrte Maul der Null kann essen, nicht reden.” Die medizinischen Folgen des Hungers sind knapp und erschütternd beschrieben.
Hunger schwächt die Abwehrkräfte. Es gibt keine körpereigenen Reserven, um Infektionskrankheiten zu bekämpfen. Für ein hungerndes Kind bedeuten Masern den sicheren Tod. Hunger und chronische Unterernährung führen zu Mangelerkrankungen mit dauerhaften Folgen. Die Funktionsweise der Netzhaut wird beschädigt, Nachtblindheit kann eine Folge bei Mangel an Vitamin A sein. Vitamin-B-Mangel führt zu neurologischen Schäden und fehlendes Vitamin C zu Skorbut.
In der Katastrophe des Hungers fällt es schwer eine Rangliste der schlimmsten Folgen zu erstellen. Aber eines gilt doch: Hunger bei Kindern schränkt die Entwicklungsfähigkeit des Hirns ein und führt zu Wachstumsstörungen. Kinder erleiden irreparable Schäden und sind in ihrer persönlichen Entfaltung auf immer eingeschränkt.
Der Terror des Hungers wütet heute in Ostafrika. Eine angekündigte Katastrophe, von der seit fünf Jahren bekannt war, dass sie kommen würde. Auf einer Konferenz zur globalen Gesundheit, die medico vor anderthalb Jahren organisierte, erklärte der angesehene Yale-Professor für Philosophie Thomas Pogge, die weltweite Armut und ihre Folgen - und dazu zählt der Hunger in Ostafrika - sei die größte Menschenrechtsverletzung der Menschheitsgeschichte: „Unter den gegebenen Weltwirtschaftsregeln sind für die meisten Menschen die Menschenrechte vorhersehbar nicht erfüllt.” Und das Recht auf Nahrung ist Teil der Menschenrechte. Dass das somalische Leiden nicht nur die Kehrseite der neoliberalen Globalisierung ist, sondern auch eine ihrer Voraussetzungen, müssen wir zur Kenntnis nehmen und begreifen. Die Folgen der weltweiten Umverteilung des Reichtums von unten nach oben zeigen sich in den Hungerbildern aus Ostafrika. Ein menschengemachtes Verbrechen.
Wenn es nun darum gehen muss, so viele Menschen wie möglich zu retten, sind zugleich die Fragen nach den Ursachen der Katastrophe zu reflektieren und zu berücksichtigen. Zur Solidarität mit den Betroffenen, gehört auch die Erkenntnis, dass es eines deutlichen „Engagiert Euch!” (Stéphane Hessel) bedarf, eine solche Hungersnot nie wieder zuzulassen.
Medico versucht im Rahmen seiner Möglichkeiten diesen beiden Herausforderungen gerecht zu werden. Medico stellte seinem kenianischen Partner African Center for Volunteers (ACV) eine erste Rate von 50.000 Euro für die Durchführung von basismedizinischen Hilfsmaßnahmen und Nahrungsmittelhilfe zur Verfügung.
ACV arbeitet in den Dörfern Ostkenias rund um das Flüchtlingslager Daadab. Täglich kommen hier Hunderte Flüchtlinge an. Die Organisation konzentriert ihre Hilfsmaßnahmen bewusst auf Siedlungen außerhalb des Lagers, denn auch die kenianische Bevölkerung ist von der Hungersnot betroffen. Außerdem suchen immer mehr Flüchtlinge in den umliegenden Dörfern Zuflucht, weil das Lager hoffnungslos überfüllt ist. Teil der Arbeit sind auch Advocacy-Maßnahmen, um die kenianischen Behörden in der Region Garissa zu verpflichten, ihre Verantwortung zur Versorgung der von der Hungersnot betroffenen Gemeinden zu übernehmen.
Außerdem initiierte medico gemeinsam mit den Schriftstellern Ilija Trojanow und Nurrudin Farah den Aufruf "Rechte statt Mitleid für Ostafrika". Wir hoffen, dass er ein Ausgangspunkt für Debatten und politische Maßnahmen zur Verhinderung von Hunger werden kann.
Katja Maurer
Projektstichwort
Der kenianische medico-Partner ACV, der jetzt Nothilfe für die Hungernden aus Somalia und Kenia leistet, ist genauso wie medico Teil der globalen Gesundheitsbewegung People's Health Movement. In den beiden alternativen Weltgesundheitsberichten (Global Health Watch 1 und 2) des Gesundheitsnetzwerkes wurde auf die fatalen Folgen der radikalen Marktöffnung bei der Nahrungsmittelsicherheit verwiesen. Noch in den 1980er Jahren wiesen die ärmsten Länder Überschüsse bei Lebensmittelexporten in Höhe von einer Milliarde Dollar auf, heute haben sie dagegen ein Defizit von über 25 Milliarden Dollar. Die bittere Wirklichkeit hinter diesen Zahlen erleben die Hungernden heute in Ostafrika. Spenden für die Arbeit von ACV bitte unter dem Stichwort: Ostafrika.