Rojava

Ausgelagert

30.03.2020   Lesezeit: 12 min

Eine Reportage über einen provisorischen Zustand.

Von Anita Starosta

Von Anita Starosta

Im Schatten der Revolution und des Krieges in Syrien entstand im Norden des Landes an der Grenze zur Türkei die mehrheitlich von Kurd*innen bewohnte autonome Region Rojava. medico hat diesen demokratischen Aufbruch von Anbeginn mit Partner*innen vor Ort unterstützt – im Bewusstsein, dass dieser Umwälzungsprozess unter ambivalenten internen und externen Bedingungen stattfindet, aber doch auf ein Menschenrecht für alle, nicht nur partikular für die kurdischen Bewohner*innen, gründet und auch die patriarchalen Strukturen überwinden will. Die externe Bedrohung bestand durch den ISFundamentalismus und hat sich jetzt durch zwei militärische Einmärsche der Türkei dramatisch verschärft: 2018 besetzte die Erdogan-Türkei Afrin im Nordwesten Syriens; im Oktober 2019 dann unter Beteiligung dschihadistischer Milizen den mittleren Teil von Rojava – ein 30 Kilometer tiefer und mehr als hundert Kilometer langer Streifen entlang der Grenze, zwischen den Städten Girê Spî (Tel Abyad) und Serê Kaniyê (Ras al-Ain). Mehr als hundert Zivilisten kamen hierbei ums Leben, 300.000 Menschen sind kurzzeitig geflohen. Der folgende Bericht der medico-Mitarbeiterin Anita Starosta gibt einen Einblick in die aktuelle Lage vor Ort, entlang der Arbeiten der medico-Partner*innen.

Tell Tamer: Das Krankenhaus nahe der Front

Dr. Hasan Amin kommt gerade von einer Behandlung und hat den Mundschutz nur leicht nach unten geschoben. In Eile zeigt er uns das Krankenhaus in der Kleinstadt Tell Tamer, das er leitet und in dem er jeden Winkel kennt. Von hier aus sind es nur wenige Kilometer bis zu seinem eigentlichen Zuhause, ein Dorf, in dem er und seine Frau bis vor wenigen Monaten gelebt haben. Aus dem kurzen Weg aber ist eine unüberbrückbare Distanz geworden. Seit dem Vormarsch der türkischen Armee im Oktober 2019 liegt ihr Haus im besetzten Gebiet. „Es ist geplündert worden und dient dschihadistischen Söldnern nun als Militärstützpunkt“, erzählt er. Immerhin aber stehe es noch, während viele andere niedergebrannt worden seien. Woher er das weiß? „Die Front ist nah. Man kann die Dörfer sehen.“

Seit Oktober ist Dr. Hasan jeden Tag im Krankenhaus. Er operiert und behandelt, organisiert den Betrieb und verwaltet den Mangel, macht anderen Mut und selbst einfach weiter. Nur kurz findet er Zeit, bei einem Tee vom vergangenen Herbst zu berichten, als die Stadt Serê Kaniyê, keine 40 Kilometer entfernt, von der türkischen Armee zunächst bombardiert und dann eingenommen wurde. „Die ganze Last der medizinischen Nothilfe fiel auf uns.“ Irgendwie sei es gelungen, die Notversorgung aufrechtzuerhalten. Wie, das frage er sich selbst oft. Zum Glück seien Ärzt*innen und Fachkräfte aus anderen Städten herbeigeeilt, manche seien bis heute da. Dr. Hasan erzählt auch von der Solidarität der Einwohner*innen von Tell Tamer, die zum Beispiel in großer Zahl Blut gespendet haben. „So konnten wir vielen Menschen das Leben retten.“

Momentan lässt das fragile, zwischen Ankara, Damaskus und Moskau ausgehandelte Abkommen die Waffen in diesem Teil des Landes die meiste Zeit schweigen. Die Einheiten der Syrisch Demokratischen Kräfte mussten sich aus dem Grenzgebiet weitgehend zurückziehen, dort finden nun russisch-türkische Patrouillen statt. Mit jedem Tag verfestigen sich die neu gezogenen Grenzen zu einem bitteren Status quo. Gleichzeitig versucht man in Tell Tamer, für den nächsten Angriff gewappnet zu sein. Um zu verhindern, dass wertvolles medizinisches Gerät der Gegenseite in die Hände fällt, ist es in fluchtbereiten Krankenwagen verstaut, erzählt Dr. Hasan. „Wir sind immer noch in einer Ausnahmesituation.“ Ob er glaubt, einmal in sein Haus zurückkehren zu können? Er antwortet als Arzt: Die dschihadistischen Milizen hätten viele Dörfer vermint. „In letzter Zeit mussten wir bestimmt 20 Menschen notversorgen, die bei dem Versuch, in ihre Dörfer zurückzukehren, auf eine Mine getreten sind.“

Hasakeh: Ein neues Camp für die Vertriebenen

40 Kilometer südlich von Tell Tamer liegt die Stadt Hasakeh. Wir erreichen sie nach einer guten Stunde. In der Nähe der Stadt befindet sich Washokani, eines der Camps, die der Kurdische Rote Halbmond in Folge des Kriegs im vergangenen Herbst in Eigenleistung errichtet hatten. Camps für all jene, die aus der von der Türkei besetzten Zone fliehen mussten und vertrieben sind. Wir sitzen in dem einzigen Container auf dem Areal, er dient der Campverwaltung als Büro. Die Ärztin Cihan Amir nimmt sich einen Moment Zeit für uns und erzählt, was sie selbst hierher verschlagen hat.

Bis Oktober 2019 leitete sie das Krankenhaus in der mittlerweile von der Türkei kontrollierten Stadt Serê Kaniyê, keine zwei Autostunden entfernt. Schon zuvor spiegelte das Krankenhaus die umkämpfte Situation in dieser Region: 2013 war es von Al Nusra fast vollständig zerstört worden. Nachdem die kurdischen Volksverteidigungseinheiten noch im selben Jahr die Gegend befreit hatten, wurde es mühsam wiederaufgebaut. Als ich selbst vor zwei Jahren zu Besuch war, wurde mir alles mit Stolz gezeigt: die Krankenstation, neue Operationssäle, Lehrräume in der darüber liegenden Ausbildungsstätte für Krankenpfleger und Ärztinnen. Bis vor wenigen Monaten symbolisierte das für alle Bevölkerungsgruppen zugängliche Krankenhaus die Zuversicht, selbstverwaltet eine bessere Zukunft schaffen zu können. Im Oktober 2019 aber änderte sich alles. Seither liegt das Krankenhaus jenseits einer Grenze. Und Cihan Amir und ihre Familie haben alles verloren, das Krankenhaus, ihren Arbeitsplatz, ihr Zuhause. „Jetzt sind wir selber Flüchtlinge“, sagt sie, um schnell hinzuzufügen: „Aber unsere Arbeit geht weiter. Es gibt keine Verschnaufpause.“ Zuviel Emotion macht wohl das Überleben in diesen ständigen Wechselfällen zu schwierig. Fast das gesamte medizinische Team aus dem Krankenhaus in Serê Kaniyê ist mit ihr geflohen und hat hier in dem Camp wieder angefangen: Sie kümmern sich in Washokani um die gesundheitliche Versorgung. Knapp 9.000 Menschen leben hier, Zelt reiht sich an Zelt, insgesamt mehr als 1.300. Einige dienen als provisorische Kliniken. Eine feste Krankenstation befindet sich gerade im Bau. „Wir arbeiten mit Hochdruck daran, denn wir stellen uns darauf ein, dass die Menschen hier erstmal bleiben müssen“, erklärt Cihan Amir.
 

Weitere 13.000 Geflüchtete sind in der Stadt Hasakeh untergekommen. Von medico unterstützt, wurden öffentliche Gebäude umgewidmet und mit dem Nötigsten ausgestattet, Betten, Kochgelegenheiten, sanitäre Anlagen. Unsere Partner vom Kurdischen Halbmond führen uns in eine Schule. Die Schulbänke sind im Hinterhof gestapelt, in den Klassenzimmern liegen Decken und Matratzen – und überall sind Menschen. Eine Woche zuvor war das Gebäude soweit hergerichtet, dass 210 Familien einziehen konnten. Es sind Bauernfamilien aus der Gegend um Serê Kaniyê, die es gewohnt sind, sich selbst zu versorgen. Nun sind sie darauf angewiesen, dass von irgendwo Hilfsgüter herbeigeschafft werden. Ein einziger Mitarbeiter des Halbmondes ist vor Ort und tut, was er kann. Wie der Hilfsbedarf gedeckt werden kann? Er weiß es nicht.

Vielen Menschen sind die Härten und Enttäuschungen der vergangenen Monate und Jahre anzusehen. Man dachte, dass der erfolgreiche Widerstand gegen den Islamischen Staat ein Fenster geöffnet hätte für eine bessere Zukunft. Doch die Hoffnung trog. Wie sehr die Menschen und das Projekt einer demokratischen Selbstverwaltung mit den vielfältigen Schwierigkeiten alleine gelassen wird, zeigt sich an unserer nächsten Station besonders deutlich: Noch einmal 40 Kilometer weiter östlich von Hasakeh befindet sich das Camp al Hol.

Al Hol: Allein mit den IS-Gefangenen

Die Kleinstadt al Hol wurde 2014 vom IS erobert und unter Kontrolle gehalten, erst ein Jahr später wurde sie befreit. Heute lebt die Kleinstadt hauptsächlich von der Lagerökonomie des direkt angrenzenden Flüchtlingscamps. In ihm drängen sich 63.000 Menschen, darunter allein 30.000, die es bereits vor Jahren im Zuge des Krieges um Mosul aus dem Irak hierher verschlagen hat.

Unser erster Stopp in dem Camp ist an der zentralen Krankenstation. Auch sie wird vom Halbmond betrieben. Über 200 Mitarbeiter*innen sind inzwischen vor Ort, erzählt uns der Leiter Dr. Alan. Ihre Aufgabe ist enorm schwierig, vor allem, weil sie hier auch Menschen gesundheitlich betreuen, die ihnen extrem feindlich gesinnt sind: In einem eigens gesicherten Bereich des Camps sind 11.000 ausländische IS-Anhängerinnen und ihre Kinder untergebracht. Die Frauen stammen aus über 50 verschiedenen Ländern. „In dem internationalen Bereich können wir uns nie lange aufhalten. Gewalttätige Auseinandersetzungen und auch Angriffe auf uns sind Alltag.“

Im Lager betreibt UNICEF Schulen und Kindergärten, aber keine IS-Familie schickt ihre Kinder hier hin. Zwar gibt es in jeder Krankenstation eine Ansprechpartnerin für Frauen, die Gewalt erfahren haben. Doch kaum eine Frau traut sich, die Angebote anzunehmen. Je länger die Frauen in ihrem Bereich zusammenbleiben, umso mehr radikalisieren sie sich. Der interne Druck sei enorm, erklärt Dr. Alan und deutet auf einen Bereich der Zeltstadt, in dem ausschließlich syrische IS-Frauen leben, rund 6.000. „Sie haben ein eigenes Gefängnis geschaffen und bestrafen jene, die sich zum Beispiel nicht den Regeln des IS gemäß kleiden.“
 

Während wir mit einem Kleinbus zur nächsten Krankenstation fahren, erinnert sich Dr. Alan an die „einsame Zeit“ während des Krieges im Oktober 2019. Zunächst hatten viele Sicherheitskräfte al Hol Richtung Front im Norden verlassen. Angesichts der unübersichtlichen Lage und den zum Teil gewalttätigen Aufständen in den Bereichen mit den IS-Angehörigen zogen schließlich auch internationale Hilfsorganisationen aus dem al Hol Camp ab. „Zwei Wochen lang waren wir hier ganz allein“, berichtet Dr. Alan. „Wohin hätten wir auch gehen sollen? Wir kommen ja von hier.“ Das aber bedeutete, dass sie als Ärzt*innen und Gesundheitshelfer*innen das „Lager halten“ mussten. Immer wieder gab es auch Ausbruchversuche der IS-Frauen.

Neben der chronisch schwierigen Situation in al Hol müssen die Helfer*innen immer wieder neue Rückschläge wegstecken. Nachdem im vergangenen Jahr 591 Menschen in dem Lager gestorben waren, darunter viele Kinder, die unterernährt aus dem belagerten IS-Kalifat hier angekommen waren, verbesserte sich die Lage mit der Errichtung des Feldkrankenhauses. Im Januar aber erreichte sie die nächste Hiobsbotschaft: Der einzige Grenzübergang für Hilfen der UN nach Nordostsyrien wurde geschlossen. In der gesamten Region betraf dies fast ein Drittel aller Hilfsmittel. „Wir merken jetzt schon, dass die Vorräte weniger werden. Wenn es keine Lösung gibt, wird hier ein richtig großes humanitäres Problem entstehen“, so Dr. Alan. Und selbst das ist nur eine von vielen Sorgen: Die von der Türkei vorangetriebene demografische Neuordnung in den besetzten Gebieten nimmt Tag für Tag mehr Form an, womit die Hoffnung vieler, eines Tages zurückkehren zu können, zerrinnt. Der IS organisiert sich neu. Und niemand weiß, wie sich die Eskalation in Idlib auswirken bzw. wie die kurdische Selbstverwaltung in den Deals zwischen der Türkei und Russland zerrieben wird.

Wir erreichen den Ausgang des Lagers. Die Kontrollen sind streng, strenger als beim Hereinkommen. Zu oft seien in letzter Zeit IS-Frauen herausgeschmuggelt worden. Beim Abschied schaut uns Dr. Alan lange an und sagt die Worte, die ohnehin allen im Kopf sind: „Wir werden hier alleine gelassen. Seit Monaten passiert fast nichts. Warum nimmt euer Land nicht seine Staatsbürger zurück? Stattdessen droht der nächste Krieg. Vielleicht sind wir bald selber Flüchtlinge und leben in einem Lager.“

Remilan: Ein Waisenhaus

Am nächsten Tag begeben wir uns auf den Weg nach Remilan, eine alte Industriestadt im Nordosten Syriens. Von Qamislo fahren wir rund eineinhalb Stunden, immer entlang der türkischen Mauer. Mehr und mehr Ölpumpen sind zu sehen, ein beißender Geruch liegt in der Luft. Auf dem Weg stoßen wir immer wieder auf russische Militärkonvois – eine weitere Bedrohung für die Autonomie Rojavas.

Remilan liegt direkt neben einem Ölfeld, das noch in Betrieb ist. Wir besuchen ein auf einem ehemaligen Kasernengelände gelegenes Waisenhaus, das medico mit Spendengeldern unterstützt. In den drei Häusern leben aktuell 63 Kinder, weit mehr als ursprünglich gedacht. Denn zusätzlich zu den Kriegswaisen und Kindern, die schon länger hier sind, hat die Leitung im vergangenen Jahr 45 Kinder aufgenommen, die ein Schicksal teilen: Sie alle sind Kinder jesidischer Frauen, die von dem IS zwangsverschleppt und vergewaltigt worden waren. Mit der Einnahme des letzten IS-Kalifats in Baghouz im März 2019 ist es auch gelungen, viele dieser versklavten Frauen zu befreien. Die meisten wurden von ihrer jesidischen Gemeinschaft wiederaufgenommen. Doch die strenge religiöse Gemeinschaft erkennt ihre Kinder nicht an und verbietet es, sie mit in die Gemeinschaft zu bringen. 45 sind so in Remilan gelandet.

Die Leiterin des Waisenhauses erzählt von den Momenten, in denen Mütter und Kinder sich trennen müssen. „Wir tun alles dafür, dass dies in Ruhe geschehen kann. Wir zeigen den Frauen unsere Häuser und stellen ihnen die Menschen vor, die sich um ihr Kind kümmern werden.“ Manche der Mütter wollen unbedingt Kontakt halten. „Wenn es geht, halten wir sie auf dem Laufenden und schicken ab und an Fotos – natürlich heimlich“, erzählt Naja al Hussin. Was aus den Kindern einmal werden wird? Noch seien sie zu klein, um ihre Geschichte zu verstehen. Und später? Die Leiterin zuckt mit den Achseln. „Jetzt sind sie erstmal hier und wir kümmern uns so gut wie möglich um sie.“ Sie erzählt, dass sie weiter im Landesinneren Nahrungsmittel, Decken und Spielzeug gebunkert haben. Schließlich weiß auch hier niemand, ob nicht bald ein neuer Angriff kommt und das Waisenhaus evakuiert werden muss. Und so sagt Naja al Hussin: „Das ist unsere Realität. Was sollen wir da an die nächsten Jahre denken?“
 

medico unterstützt den Kurdischen Roten Halbmond in Nordsyrien seit Jahren beim Aufbau einer Gesundheitsversorgung für die Bevölkerung und der Versorgung der Binnenvertriebenen, die in Rojava Zuflucht gesucht haben. Aktuell bereiten sich die Partner in einer weitgehend isolierten und von außen bedrohten Region auf die drohende Ankunft des Corona-Virus vor. Präventionskampagnen lau- fen, in Krankenhäusern werden Quarantänestationen aufgebaut. Die größte Sorge ist, das die Epidemie in einem der großen Flüchtlingslager ausbricht.

Spendenstichwort: Rojava


Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 1/2020. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!

Anita Starosta

Anita Starosta leitet die Öffentlichkeitsarbeit von medico international. Außerdem ist die Historikerin für die Kommunikation zur Türkei, zu Nordsyrien und dem Irak zuständig. 

Twitter: @StarostaAnita


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