Jeder Ort, jeder Augenblick hat seine Besonderheit. Die Kurd_innen sind die größte nichtarabische Minderheit Syriens. Sie nennen den von ihnen bewohnten Teil des Landes Rojavayê Kurdistan, «Westkurdistan», oder einfach: Rojava, «Westen». Seine 2,5 Millionen Bewohner_innen treten jetzt aus dem Schatten ihrer Leidensgeschichte heraus. Ihre gemeinsame Erinnerung ist das Syrien eines schier ewigen Baath-Regimes, das sie gewaltsam verfolgte, ihnen die eigene Sprache verbat und die Bürgerrechte vorenthielt.
Heute erproben die syrischen Kurd_innen das Experiment einer direkten kommunalen Demokratie und damit auch die Möglichkeit von Konfliktlösungen jenseits der alten, von Überwachen und Strafen geprägten Kultur der Gewalt. Ihre politischen Institutionen legen großen Wert auf die Beteiligung der Frauen nicht nur in der Verwaltung, sondern auch in den politischen Entscheidungsgremien und Bildungseinrichtungen. Ein neues Gesundheitswesen wird aufgebaut, eine eigene Polizei entsteht. In den Schulen lernen die Kinder Arabisch und Kurdisch: ein absoluter Tabubruch mit den Jahrzehnten unter dem Assad-Regime.
Ein Experiment, das von vielen Seiten bedroht ist
Die Region der demokratischen Selbstverwaltung ist reich. Denn in Rojava gibt es fruchtbares Ackerland und ergiebige Ölquellen, aber auch eine einzigartige kulturelle und religiöse Vielfalt. Zu den Kurd_innen und ihren Nachbarn arabisch-muslimischer, jesidischer, assyrischer, orthodoxchristlicher und tscherkessischer Herkunft gehören heute auch Armenier_innen, die dem Völkermord durch das Osmanische Reich entkommen konnten.
Die kurdische Autonomie ist arm. Denn Rojava ist schon lange auch eine Schutzzone für zahlreiche Flüchtlinge. Bis jetzt haben sich weit mehr als eine Million Menschen dorthin retten können – zuletzt die von den Morden und Verschleppungen des „Islamischen Staats“ (IS) bedrohten Yezid_innen aus den Shingal-Bergen im Nordirak und syrische Araber_innen auf der Flucht vor den todbringenden Fassbomben des Regimes.
Bedroht wird die Region von einem mehrfachen Embargo. An der langen Grenze blockiert die Regionalmacht Türkei die dringend benötigte Nothilfe für das syrische Kurdistan. Auch die irakisch-kurdische Regionalregierung unter ihrem Präsidenten Masud Barzani behindert noch immer den freien Waren- und Personenverkehr ins syrische Rojava, ein Hinweis auf eine weiterhin bestehende unzureichende gesamtkurdische Interessenpolitik.
Innerhalb Syriens legen der IS und weitere Milizen aus dem Al-Qaida-Netzwerk immer wieder Belagerungsringe um die kurdischen Siedlungsgebiete. Die islamistischen Eiferer verzeihen den Kurd_innen weder ihr Experiment einer demokratischen Selbstverwaltung noch die proklamierte und oft auch gelebte Gleichberechtigung der Frauen.
Kobanê – Symbol des Widerstands und Aufbruchs
Rojava steht noch immer oder wieder am Anfang. Krankenhäuser wurden zerstört und dringend notwendige Medikamente fehlen. Einst überkommene Infektionskrankheiten brechen erneut aus, chronisch Kranke wie Diabetiker_innen, Nierenkranke und Krebspatient_innen können nicht mehr versorgt werden. Hinzu kommt die permanente politische Unsicherheit. Denn immer noch werden furchtbare Anschläge verübt, wie etwa im Juni 2015, als in Kobanê ein IS-Killerkommando 240 Menschen, fast ausschließlich Zivilist_innen, ermordete.
Wer mit Mitgliedern von Bürgerkomitees, Ärzt_innen, lokalen Journalist_innen und anderen Vertreter_innen der kurdischen Selbstverwaltung spricht, erkennt sehr schnell, dass es trotz aller notwendigen materiellen und humanitären Hilfe vor allem auch um die politische Vision der Selbstbestimmung inmitten der syrischen Kriegsgräuel geht. Besonders deutlich wird dies in der Stadt Kobanê im kleinsten der drei kurdischen Kantone in Rojava. Die kurdischen Kämpfer_innen von Kobanê hatten seit dem Herbst 2014 die monatelangen Angriffe des IS abgewehrt. Doch für ihren zum weltweiten Symbol gewordenen Widerstand zahlten sie einen hohen Preis: Die Stadt wurde zu 80 Prozent zerstört, nahezu alle Häuser, Straßen, Schulen und Krankenhäuser stark beschädigt. Um mit dem Wiederaufbau beginnen zu können, braucht Kobanê eine offene Grenze zur Türkei.
Es geht um mehr als humanitäre Hilfe
Von Beginn an haben wir, die Initiator_innen dieser Ausstellung, uns entschieden, das kurdische Demokratieexperiment in Syrien solidarisch zu begleiten. Dabei ist es ausdrücklich nicht unser Anliegen, einer kurdischen Sezession das Wort zu reden, obgleich die Kurd_innen das historische Recht hätten, die ihnen von den früheren Kolonialmächten und den darauf folgenden autoritären arabischen Entwicklungsstaatsmodellen verweigerte Unabhängigkeit zu ergreifen.
Wir stellen uns an die Seite von Kobanê, weil sich dort die Möglichkeit eines demokratischen Gemeinwesens jenseits von radikalreligiöser Gewalt und nationalistisch-korruptem Autoritarismus abzeichnet: Einem Gemeinwesen, das neue und inklusivere Formen der Demokratie erprobt; ein Demokratiemodell, das beginnt, von den existierenden Minderheiten und ihren Differenzen her zu denken – jenseits der Herrschaft einer Mehrheit und jenseits der europäischen postkolonialen Nationalstaatsmodelle. All dies findet unter den besonderen Bedingungen des Krieges statt, dessen Logik immer auch autoritäre Strukturen und Formierungen beinhaltet.
Die Geschichte hat bewiesen, dass sich jede wirkliche Demokratie immer auch aus der Möglichkeit ihrer selbst begründet, aus ihrer besonderen Differenz und Andersartigkeit zu der Gewalt, der sie entgegentritt. Die Kurd_innen Syriens, jahrzehntelang die Ausgeschlossenen unter den Ausgeschlossenen, haben jetzt ihr Recht auf eine eigene Stimme, auf kulturelle Sichtbarkeit und auf eine selbstbestimmte politische Existenz erobert.
Sie haben aufgehört, die Opfer eines repressiven arabischen Zentralismus zu sein, sie fordern Gerechtigkeit und handeln im Vorgriff auf ein föderales und freies Gemeinwesen aller Syrer_innen. Dies soll, so sagen sie es selbst, ein Gemeinwesen sein, das auch den Reichtum des ethnischen und religiösen Kosmos des Landes schützen und allen zugänglich machen möchte. Das demokratische Experiment in Rojava hat der kulturellen und demokratiepolitischen Vielfalt in Syrien neues Leben verliehen. Dafür gebührt ihm Respekt, daran wird es aber auch heute und zukünftig zu messen sein.
Mehr denn je braucht Syrien Frieden und Demokratie. Spätestens jetzt, nachdem die Syrer_innen, nicht wenige auch aus Kobanê, das Scheitern der westlichen Nahostpolitik mit nach Europa gebracht haben. Denn nicht wir Europäer_innen erleben eine Flüchtlingskrise, sondern diejenigen, die zu uns kommen, sind in einer existenziellen Krise. Diese Menschen bringen die Frage ihrer Zukunft mit nach Europa. Sie zeigen uns unwiderruflich, dass es für sie keine Lösung ohne die Anerkennung ihrer Freiheitsrechte auch in Syrien geben kann. Sie sagen uns, dass der Versuch, die syrische Katastrophe lediglich zu verwalten, gescheitert ist. Auch deshalb braucht Kurdistan in Syrien heute unsere Anerkennung und Solidarität.
Zu den Fotografien
Mark Mühlhaus ist Teil des Photographen-Kollektivs attenzione und besuchte seit Herbst 2014 mehrmals die kurdische Region in Syrien und in der Türkei. In der kurdischen Kleinstadt Suruç (kurdisch: Pirsûs) dokumentierte er das Flüchtlingsleben derer, die dort Schutz und Obdach fanden, nachdem der IS ihre Stadt Kobanê angegriffen hatte. In Rojava selbst besuchte Mühlhaus die christlich-kurdische Stadt Dêrik (arabisch: Al-Malikiya) nahe der Grenze zum Irak und das dortige yezidische Flüchtlingslager. Er nahm an Beerdigungen von kurdischen Kämpfer_innen teil und konnte mit christlichen Milizen die vom IS zerstörten Dörfer der assyrischen Bevölkerung besuchen.
Mühlhaus geht es nicht nur um Fotografien des Wiederaufbaus, sondern gleichsam darum, Momente des Menschlichen, ja sogar der Schönheit, festzuhalten. Etwa das Bemühen der örtlichen Ärzt_innen trotz fehlendem Strom Notfalloperationen durchzuführen; oder aber jenen Moment, wenn er, als einer der wenigen europäischen Fotografen, die Ufer des Euphrat erreicht.
Spendenaufruf für Rojava
medico international ist seit dem Beginn der kurdischen Selbstverwaltung in Rojava und speziell in Kobanê präsent. Wir arbeiten eng mit lokalen Ärzten und der Stadtverwaltung zusammen. Die Menschen vor Ort wissen genau, was gebraucht wird und wie die Hilfe in die Stadt kommen kann. medico lieferte Medikamente und medizinisches Gerät in alle drei kurdischen Kantone.
Darüber hinaus versorgten wir jesidische Flüchtlinge im Kanton Cizîrê mit Lebensmittelpaketen. Jetzt ermöglichen wir in Kobanê eine städtische Gesundheitsstation mit einem speziellen Mutter-Kind-Bereich. Denn der Krieg zerstörte alle Krankenhäuser und das Recht auf Zugang zu Gesundheit gilt auch in Kobanê.