Krisen sind die Menschen in Rojava gewohnt. Als im März die Warnung vor der Covid-19-Pandemie global für Aufruhr sorgte, hat die Selbstverwaltung der Region sofort den einzigen freien Grenzübergang für den regulären Verkehr geschlossen. Die langjährige medico-Partnerorganisation Kurdischer Roter Halbmond startete umgehend mit einem breiten Covid-19-Maßnahmenpaket: Aufklärungskampagnen, selbstorganisierte Maskenproduktionen und eigene Covid-19-Krankenhäuser entstanden.
Doch schon damals war klar: Sollte sich die Pandemie auch in Rojava ausbreiten und die überfüllten Flüchtlingslager erreichen, droht die nächste Katastrophe. Denn trotz aller Anstrengungen fehlen die Voraussetzungen in der Region, um Hygieneregeln einzuhalten, ordentliche Tests durchzuführen und Intensivfälle zu behandeln. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Hinzu kommt, dass im Januar der al Yaroubiah-Grenzübergang geschlossen wurde, über den ein großer Teil der UN-Hilfsgüter in die Region gebracht wurden. Grund dafür ist das politische Ringen der Weltmächte im UN-Sicherheitsrat um den Einfluss in der Region. Seitdem läuft die UN-Hilfe über Damaskus und kommt oft verzögert oder gar nicht in den Flüchtlingslagern an. Besonders in der Pandemie ein unzumutbarer Zustand. Die lokalen Helfer*innen sind darauf angewiesen zu improvisieren, so gut es eben geht.
Zwar gibt es seit dem türkischen Angriff vom Oktober 2019 keine größeren kriegerischen Auseinandersetzungen mehr, das damals eroberte Gebiet in Nordsyrien ist aber bis heute besetzt und die Türkei führt weiter einen Krieg niederer Intensität. Zum Beispiel über die Kappung der Wasserzufuhr für die Region Hasakeh: Die zentrale Wasserstation Alouk liegt in dem von Türkei-nahen Milizen kontrollierten Gebiet und wird zum Mittel, um Druck auf die Selbstverwaltung in Rojava auszuüben. Betroffen von der Drohung, das Wasser abzustellen, sind eine halbe Million Menschen, die in der Stadt Hasakeh und Umgebung leben und im Hochsommer – in Syrien bedeutet das 45 Grad im Schatten – oft tagelang ohne fließendes Wasser auskommen mussten. Insbesondere in Zeiten einer Pandemie, in der Händewaschen und Hygiene oberste Priorität haben, bedeutet das eine eklatante Menschenrechtsverletzung.
Hunderte positive Corona-Fälle
Nun haben sich die Befürchtungen, die unsere Partner*innen seit Beginn der Pandemie mit sich tragen, bestätigt. Das Covid-19-Virus ist auch in Nordostsyrien angekommen und verbreitet sich inzwischen unkontrolliert, berichtet uns Sherwan Bery, Vorsitzender des Kurdischen Roten Halbmonds, in dieser Woche. Aktuell gibt es 557 positiv bestätigte Fälle. Die Dunkelziffer liegt weitaus höher, vermutete Bery. Besonders in den Gegenden mit arabischer Bevölkerung ist die Infektion mit dem Virus noch mit Scham besetzt und Betroffene melden sich nicht in Gesundheitszentren, wenn sie mögliche Symptome zeigen. Zwar finden in allen Gebieten auch weiterhin Aufklärungskampagnen statt, aber nicht immer ist es einfach, den Kontakt in die Gemeinden zu finden.
Bereits 92 Gesundheitsarbeiter*innen haben sich mit dem Virus infiziert, ein Krankenhausmitarbeiter ist gestorben. Auch hier versucht der Halbmond in allen Krankenhäusern Sicherheitsstandards zu etablieren und regelmäßig Tests bei den Mitarbeiter*innen durchzuführen. Die Kapazitäten dafür sind aber begrenzt.
Ein Labor unter Kontrolle der Selbstverwaltung
Es gibt inzwischen ein eigenes Corona-Labor in Qamişlo, das unter Kontrolle der Selbstverwaltung steht. Hier werden Speichelproben ausgewertet und Statistiken geführt. Das bedeutet eine enorme Verbesserung im Vergleich zu den Vormonaten, als die Proben noch ins WHO-Labor nach Damaskus geschickt werden mussten und es zu Verzögerungen und Nichtweitergaben von Testergebnissen kam.
Der Kurdische Halbmond hat inzwischen überall in Rojava Einsatzteams organisiert und koordiniert alle Covid-19-Maßnahmen. In Hasakeh, Qamişlo, Deir ez Zor, Minbij, Kobanê, Tabqa und Rakka gibt es eigene Covid-19-Koordinationsstellen. Von dort werden Einsätze zu Betroffenen und eine öffentliche Telefonnummer betreut, Proben gesammelt und ins Labor nach Qamişlo gebracht.
Auch die Krankenhäuser sind soweit gerüstet, in jeder Region gibt es bis zu zehn Intensivbetten mit Beatmungsgeräten, die bereits im Einsatz sind. Auch auf die Behandlung von mittelschweren Fällen sind die Helfer*innen vorbereitet. Es ist jedoch weiterhin so, dass es bei weitem nicht ausreichend Beatmungsgeräte für die ganze Region gibt, sollte sich das Virus nun weiter ausbreiten. Eben das befürchtet Bery, denn der Winter steht bevor und schon jetzt ist es nicht mehr möglich, alle Kontaktketten nachzuvollziehen. So kann es sehr schnell zu einer dramatischen Notlage kommen.
Erste Fälle in den Flüchtlingslagern
Die nach wie vor größte Befürchtung bleibt jedoch ein Corona-Ausbrauch in einem der zahlreichen Flüchtlingslager in der Region. Daher wurden hier von Beginn an mit erhöhtem Einsatz Aufklärungskampagnen gefahren und Schutzmasken verteilt – und trotzdem ist das Risiko weiter hoch. Zumeist leben die Menschen in den Lagern auf engstem Raum – Zelt neben Zelt – und die Hygiene-Bedingungen sind schlecht. Besonders im Blick des Halbmondes ist das al Hol-Lager, in dem über 60.000 Flüchtlinge leben, unter ihnen auch tausende ausländische IS-Frauen mit ihren Kindern. Anfang August gab es erste Meldungen über positiv getestete Gesundheitsmitarbeiter*innen, die im Camp tätig sind. Sofort wurden Maßnahmen ergriffen, um eine Ansteckungskette zu verhindern und auch das allgemeine Hygienekonzept im Lager angepasst.
Inzwischen gibt es aber laut Bery jetzt auch im Lager selbst den ersten bestätigten Covid-19-Fall. Die betroffene irakische Frau wurde mit ihrer Familie im Krankenhaus isoliert und erholt sich derzeit, es ist zum Glück kein schwerer Verlauf. Auch im Lager in Areesha hat sich eine Frau infiziert. Auch hier sind alle Maßnahme zur Isolation getroffen worden. „Die Bedrohung durch die Pandemie rückt näher“, sagt Bery, der inzwischen mehr als geübt ist in Krisenmanagement, „und das Schlimmste steht uns erst bevor“: Die kühlen und nassen Tagen, in denen das Virus sich ohne weiteres in eben diesen Lagern ausbreiten kann. „Wir improvisieren seit Jahren mit der Hilfe“ sagt Bery „die Schließung des Grenzübergangs al Yaroubiah und die wirtschaftliche Krise im Land, zwingt uns einmal mehr dazu, neue Wege und Möglichkeiten zur Versorgung der Bevölkerung zu finden. Darin sind wir inzwischen geübt und trotzdem fehlt überall internationale Unterstützung.“
Die Arbeit der medico-Partnerorganisation Kurdischer Roter Halbmond in Rojava kann mit einer Spende unterstützt werden.