In seinem 2018 erschienenen Artikel spricht David Pilling vom „New Scramble for Africa“. Sramble, auf Deutsch „Gerangel“ oder „Gedränge“, ist ein Narrativ, das im Zusammenhang mit dem afrikanischen Kontinent eine gewisse Tradition vorzuweisen hat. Die aktuelle Phase wäre im Werdegang des Kontinents der dritte Scramble. Die erste Phase fand ihren Höhepunkt mit der Berliner Konferenz 1884/85, als europäische Mächte sich Afrika für die Errichtung von Kolonien, Protektoraten und Freihandelszonen aufteilten. Die zweite Phase vollzog sich im Kontext der aus der Perspektive der Großmächte als Kalter Krieg bekannten Periode. Auch hier etablierten die beiden konkurrierenden Blöcke Einflusssphären, die sie dank Diplomatie, Entwicklungshilfe oder sogar Kriegsführung zu verteidigen oder auszudehnen versuchten.
Sowohl die erste als auch die zweite Phase des Wettlaufs um Afrika drücken den Wirklichkeiten auf dem Kontinent noch heute ihren jeweiligen Stempel auf. Sie bilden den Hintergrund der aktuellen Phase, in der laut Pilling „eine neue Gruppe externer Mächte – von China bis Brasilien und von Russland bis zur Türkei – dabei ist, sich einen kommerziellen und strategischen Vorteil auf einem riesigen Kontinent zu verschaffen, der bis vor kurzem von den ehemaligen europäischen Kolonialmächten und den USA beherrscht wurde“.
Sitzt Afrika am Verhandlungstisch?
China und Russland als Teil der Sowjetunion mischten bereits in der zweiten Phase mit. Nun scheint es, dass sie entschlossen sind, westlichen Ländern auf dem afrikanischen Kontinent Konkurrenz in Bereichen zu machen, in denen deren Einfluss bis vor kurzem fast unangetastet war. Bis zu Beginn des Aggressionskrieges Russlands gegen die Ukraine schien es, als ob in dieser neuen Phase der Fokus allein auf ökonomischer Dominanz liegen würde. Seither aber haben sich die geopolitischen und geostrategischen Spannungen wieder verschärft. Eine neue Militarisierung des afrikanischen Kontinents ist in Gang, verbunden mit dem Anspruch, wichtige Infrastrukturen des Kontinents zu kontrollieren und sich durch gezielte Investitionen den Zugang zu wertvollen und strategischen Ressourcen des Kontinents zu sichern.
Wie positioniert sich Afrika selbst in dieser immer größer werdenden Konkurrenz der Großmächte um knappe Ressourcen und Einflusssphären? Welche Chancen und Risiken ergeben sich daraus für die afrikanischen Länder? Wessen bedarf es, damit der Kontinent nicht zur Spielwiese reduziert wird? Und von welchem Afrika ist eigentlich die Rede?
Für den in allen Regionen Afrikas sehr populären Intellektuellen und Panafrikanisten PLO Lumumba aus Kenia scheint die Diagnose klar zu sein: „Africa is on dinner table eaten by Superpowers.“ Die Formel, dass Afrika als Steak, Suppe oder was auch immer auf dem Menü steht, aber nicht mit am Verhandlungstisch sitzt, ist griffig und mobilisierend. Die Wirklichkeit aber ist komplexer. So scheint jede Großmacht eine eigene Afrika-Strategie zu haben, die auf öffentlichkeitswirksam organisierten Afrika-Gipfeln und ähnlichen Foren durch die Welt getragen werden. Solche Afrika-Gipfel, bei denen auf der einen Seite Japan, Russland, China, die USA, Frankreich, Großbritannien oder Deutschland und auf der anderen Seite fast alle afrikanischen Länder stehen, werden von immer mehr intellektuellen und aktivistischen Kreisen in Afrika als Beleidigung empfunden.
Aus der Erfahrung, dass der beschworene Aufschwung selten Wirklichkeit geworden ist, ziehen sie die Erkenntnis, dass kein Land der Welt ein Konzept anbieten kann, das für alle Länder des Kontinents passend und konsistent ist. Mehr noch: Die Versprechen der einladenden Mächte und die Verteilung von Almosen verschärft noch die Spaltungen innerhalb des Kontinents – Spaltungen, die dann für die Umsetzung geostrategischer und ökonomischer Interessen genutzt werden.
Insofern sitzt Afrika sehr wohl am Verhandlungstisch. Es ist aber das Afrika der Eliten, die durch Pakte mit den außerafrikanischen Partnern ihre Macht und den Zugang zu Luxuskonsumgütern sichern. Dafür opfern sie die Interessen der breiten Bevölkerungsschichten, jener Menschen, die in der Landwirtschaft, im Dienstleistungssektor, als Kleinschürfer:innen und informelle Händler:innen arbeiten.
Doch nicht überall wird die Mehrheit gleichermaßen vergessen. Einige Länder sind ernsthaft darum bemüht, ihre internationalen Kooperationen unter der Prämisse zu diversifizieren, die eigenen Potenziale zur Entfaltung zu bringen. Oft können sie ihre inklusiven Konzepte aufgrund der bestehenden Kräfteverhältnisse und der Fragmentierung des Kontinents noch nicht durchsetzen. Umso erfreulicher ist es aber, dass sich immer mehr Menschen, auch Führungskräfte des Kontinents, dafür aussprechen, dass Afrika in den Verhandlungen mit anderen Regionen auf Synergien regionaler und kontinentaler Institutionen setzen soll. Das Bewusstsein wächst, sich der erzwungenen Konkurrenz um Almosen zu entziehen.
BRICS plus
Zugleich gibt es Entwicklungen in Afrika, die für die Außenwelt Schockerlebnisse bewirken. Dazu gehört der Putsch im Niger, einem Land, das die EU im Allgemeinen für ihre Migrationspolitik und besonders Frankreich für seine Uranversorgung fest im Griff zu haben schienen. Dieser Putsch zeigt einmal mehr, dass die Ansätze der EU und ihrer Mitgliedsstaaten auf Fehleinschätzungen beruhten. Es bleibt offen, wie es dort weitergeht, zumal Niger sich an Burkina Faso und Mali orientiert, zwei Länder, die etwa in Sicherheitsfragen selbstbewusst neue Wege gehen.
Für Erschütterung sorgte aber vor allem der 15. BRICS-Gipfel in Südafrika im August. Dieser hat deutlich gezeigt, dass sich viele afrikanische Länder dem Bündnis von Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika annähern wollen. So wurde in Johannesburg die Erweiterung zu „BRICS plus“ verkündet, dem neben Argentinien, Iran, Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten auch Ägypten und Äthiopien angehören werden. Unter den weiteren Bewerbern sind Algerien, Nigeria und der Senegal. Das Bündnis behauptet von sich, in einem von geopolitischen Spannungen, Ungleichheit und Unsicherheit geprägten Kontext eine Führungsrolle übernehmen zu wollen und positioniert sich zunehmend als Alternative zu der von den USA und seinen Alliierten dominierten Weltordnung.
Es bleibt offen, ob das BRICS-Bündnis für afrikanische Länder jenseits von Südafrika mehr diplomatisches Gewicht bekommt und ob Dynamiken rund um die Militärcoups im Niger und in Gabun nur kurzlebige Momentaufnahmen dafür sind, dass die Verschiebung der Kräfteverhältnisse in der Welt auch in Afrika Einzug hält. Eine Frage, an der sich das zeigen wird, ist der Umgang mit dem, was afrikanische Länder, jenseits des diplomatischen Gewichtes, ins Blickfeld der Begehrlichkeiten rücken lässt: ihre Ressourcen.
Begehrte Ressourcen
Der afrikanische Kontinent verfügt über immense Rohstoffe, die seit der Kolonialzeit zum Treibstoff der industriellen Entwicklung der Kolonialmächte und ihrer Alliierten wurden. Schwellenländer wie China und Brasilien haben die Konkurrenz um die Kontrolle dieser Ressourcen neu entfacht, zumal Afrika über viele eben jener Rohstoffe verfügt, die für die angestrebte Energiewende unerlässlich sind. Das bedeutet aber keineswegs, dass die Länder des Kontinents von der gestiegenen Nachfrage und der Konkurrenz der Großmächte automatisch profitieren. Es wäre nicht das erste Mal, dass der Rohstoffsegen zu negativen Folgen wie Verschuldung, Umweltbelastungen und sozialer Spaltung führen. Entscheidend sind die Rahmenbedingungen, unter denen der Zugang zu, Kontrolle von und Handel mit diesen Ressourcen stattfinden.
Als ab 2001 die Preise für Metalle, Energie und landwirtschaftliche Produkte stiegen, gingen viele optimistisch davon aus, dass nun die Stunde der rohstoffreichen Länder geschlagen hat. Die Erwartung, dass der Boom zu einer grundlegenden und nachhaltigen Verbesserung der Lebensbedingungen der Bevölkerung beitragen würde, hat sich jedoch als Wunschdenken entpuppt. In der Fachliteratur wird längst aus gutem Grund über den „Fluch des Reichtums“ oder das „Paradox des Überflusses“ diskutiert. Am häufigsten werden die unausgewogenen Verträge thematisiert, die den Bergbaukonzernen große Gewinne bescheren und ihnen sogar Möglichkeiten einräumen, diese ungehindert zu repatriieren. In den Abbau-Ländern zahlen die Unternehmen kaum oder wenig Steuern. Aufgrund der Niedriglöhne gelingt es der Rohstoffindustrie in der Regel nicht einmal, die in den Minen Beschäftigten aus der Armut zu holen. Leidtragende des Bergbausektors sind vor allem Gemeinschaften um die Minen herum, die mit Umweltverschmutzung, Atemwegserkrankungen und hohen Preisen leben müssen.
Die Gewinne aus der Rohstoffökonomie wandern also ins Ausland ab. Von dem, was übrigbleibt, bereichern sich die nationalen Eliten. Selbst in Phasen des Booms hat der Rohstoffsektor nicht zu einer Diversifizierung der Wirtschaftsstrukturen beigetragen. Angesichts dieser Erfahrungen besteht die Herausforderung der Zukunft darin, die Rahmenbedingungen in der Rohstoffförderung so zu gestalten, dass eine gerechte Verteilung der Gewinne, die Einhaltung von Sozial- und Umweltstandards, die Achtung des Mitbestimmungsrechtes der lokalen Gemeinschaften und vor allem die Verlagerung der Wertschöpfungsketten in die rohstoffreichen Länder erzwungen wird. So eine Neuausrichtung gelingt am besten mit eigenem Kapital. Dafür müssen sich afrikanische Länder selbst komplett neu ausrichten.
Selbstbestimmte Neuausrichtung
Angesichts der gestiegenen Konkurrenz zwischen den Großmächten kommt es für die Länder Afrikas darauf an, ein klares Konzept von sich selbst zu definieren und ausgehend davon, zu bestimmen, welche Art von Beziehungen sie zu anderen Weltregionen brauchen, um das zu sein, was sie sein wollen. Es geht für die Länder darum, in jeder Situation die langfristigen Interessen im Blick zu behalten und die „Windows of Oppurtunity“ für die Einleitung substanzieller Veränderungen zu nutzen. Nur so kann es gelingen, der Gefahr einer Diversifizierung von Partnerschaften zu entkommen, die sich darauf beschränkt, eine ausländische Flagge durch eine andere unter Beibehaltung der gleichen Natur und Dynamik der Beziehungen zu ersetzen.
Die Diversifizierung der Beziehungen sollte die Strukturen der Dominanz aufbrechen und so die eigenen Handlungsspielräume erweitern. Genau das meinte das Prinzip „Selective Delinking and negotiated Relinking“ des Programms „Alternatives to Neoliberalism in Southern Africa“. Gemeint ist eine gezielte Abkoppelung von der globalen Ökonomie und ein neuer Anschluss unter den Bedingungen, die afrikanische Länder und Regionen mitbestimmen, um die nationale und regionale Selbstbestimmung zu gewährleisten.
Dafür bedarf es mehr als Absichtserklärungen. Es bedarf einer permanenten Dekonstruktion der kolonialen Logik, auch wenn diese einen grünen Anstrich annimmt und auch wenn diejenigen, die sie heute fortfahren wollen, keine Kolonialmächte waren. Es bedarf einer konsequenten Arbeit an konkreten Alternativen von unten, die nur in regionaler Zusammenarbeit vorangetrieben werden können. Denn längst weiß man, dass jedes der Länder des Kontinents für sich genommen zu ohnmächtig ist, um etwas ausrichten zu können.
Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 4/2023. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!