Im Sommer, wenn in Deutschland möglicherweise alle ein „Impfangebot“ erhalten haben und die Restaurants wieder einigermaßen normal geöffnet haben, wenn also vielleicht das „normale Leben“ zurückkehrt, dann wird uns in Europa eventuell auffallen, dass in der Pandemie die miserablen Zustände anderswo völlig aus dem Blick und dem Bewusstsein verschwunden sind.
Wir werden uns vielleicht noch an die verstörenden Bilder afghanischer Flüchtlinge erinnern, die von der kroatischen Polizei verprügelt und ohne Kleidung in abgebrannte bosnische Lager zurückgeschickt werden, in denen Sie ohne Dach über dem Kopf im Schnee ausharren. Oder an das neue Flüchtlingslager Moria 2 auf Lesbos, errichtet ungeschützt im Wind, der Boden bleivergiftet, die Menschen aufgrund von Corona eingesperrt, während Milliarden an EU-Hilfsgeldern irgendwo versickern und während Deutschland weiterhin viel weniger Menschen als zugesagt aufgenommen hat. Das alles geschieht in Europa, der reichsten Region der Welt. Diese Umstände sind zu Recht als „Schande für Europa“ bezeichnet worden – und doch stehen sie nur am Ende einer Fluchtroute, die andernorts beginnt, zum Beispiel in Syrien.
Ein einziges humanitäres und politisches Desaster
Vielleicht erinnern Sie sich an die Eskalation in der nordwestlichen Provinz Idlib im letzten Jahr? Sie fiel zeitlich zusammen mit dem Beginn der Corona-Krise im März. Nicht weniger als 1,7 Millionen Menschen flüchteten damals innerhalb der Provinz vor den Soldaten der syrischen Armee und ihren Bombardierungen in Richtung Norden, an die abgeriegelte türkische Grenze. Im Nordwesten Syriens stecken über 2,7 Millionen Binnenflüchtlinge in einer Sackgasse fest. Sie befinden sich in einem Gebiet, in dem dschihadistische Milizen eine selbsternannte „Heilsregierung“ ausgerufen haben, während die Türkei militärisch präsent ist und ihre „strategischen Interessen“ in der Grenzregion durchsetzen möchte. Im letzten Jahr weigerten sich Russland und China im UN-Sicherheitsrat, das bis dahin gültige grenzüberschreitende internationale Hilfsprogramm nach Syrien weiter zu verlängern, während die Not vor Ort – auch durch Corona – immer größer wurde.
Die Region ist ein einziges humanitäres und politisches Desaster, für das es auch im Jahr 2021, 10 Jahre nach Beginn des syrischen Aufstands, keine Lösung gibt. Absehbar sind momentan nur zwei Szenarien: Eine gewaltsame Einnahme der Provinz durch syrische Truppen und ihrer regionalen Unterstützer oder die Festigung des völkerrechtlich nicht gedeckten Einflusses der Türkei mit Hilfe islamistischer Milizen. Mit anderen Worten: Es gibt keine guten Optionen mehr.
Die Not der Menschen bleibt eine stabile Katastrophe. Knapp 3 Millionen Menschen in Idlib sind dauerhaft von Hilfe abhängig. Seit Jahren. Als im letzten Jahr Corona hinzukam, traf das Virus eine chronisch unterversorgte Bevölkerung, die nach offiziellen Angaben in über 1200 Camps untergebracht ist oder in halbzerstörten oder unfertigen Gebäuden, in Fußballstadien oder ehemaligen Gefängnissen Zuflucht fand. Dem Coronavirus steht nach zehn Jahren Krieg ein fast komplett zerstörtes Gesundheitssystem gegenüber. Testkapazitäten sind viel zu niedrig, die Dunkelziffer der Ansteckungen daher viel höher als die offiziell genannten 20.000 Corona-Erkrankungen, gerade einmal vier Krankenhäuser sind überhaupt noch in der Lage, schwere Covid-19-Fälle zu behandeln. Testungen im letzten Jahr ergaben teilweise Positivraten von über 50 Prozent, das Virus grassiert mehr oder weniger unkontrolliert in den Camps.
Und doch ist „Corona momentan nur zweitrangig“, sagt uns Huda Khayti, die Leiterin des von medico international unterstützen Frauenzentrums in Idlib-Stadt. Mit Unterstützung von medico und der Volkshilfe Österreich führt das Frauenzentrum seit dem letzten Jahr Verteilungen von Desinfektionsmitteln, Masken und Hygienekits in Flüchtlingslagern durch, dazu bekommen vor allem Frauen Aufklärung zu Prävention und Hygiene – auch und gerade in den Zeltlagern.
Schwere Unwetter
Seit Tagen nun gibt es Unwetter in Idlib – mit verheerenden Folgen. Die UN schätzen, dass in über 300 Lagern mehr als 21.000 Zelte vom Regen beschädigt oder zerstört und 120.000 Menschen obdachlos wurden. Dass den Leuten in Idlib jeden Winter das Wasser in den Zelten steht, ist bekannt. Jedes Jahr die gleichen verstörenden Bilder. Doch die Regenfälle in diesem Jahr fielen noch heftiger aus. Hinzu kommen deprimierende Vorhersagen für die kommenden Tage. „Neue Unwetter und Minusgrade sind angekündigt“, berichtet uns Huda. „Immer wenn wir in die Lager gehen, fragen die Leute nach Heizmaterial und Decken. Es ist bereits jetzt bitterkalt, die kommenden zwei Monate werden sehr hart“, so Huda.
Die UN hingegen machen auf ein weiteres Problem aufmerksam: Es fehlt in den kommenden Monaten absehbar an Geld zur notwendigen Aufrechterhaltung der internationalen Hilfe. Nun sind sogenannte „funding gaps“ für die Vereinten Nationen leider auch Alltag, aber in Bezug auf ganz Syrien könnte sich hier für die kommenden Jahre ein massives Problem abzeichnen: dass eines der größten Hilfsprogramme seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr dauerhaft finanziert wird, während mittlerweile über 80 Prozent der Menschen in ganz Syrien in Armut leben und über neun Millionen Menschen von Ernährungsunsicherheit betroffen sind. Anders ausgedrückt: Die Not ist im letzten Jahr in Syrien nochmals gestiegen, das Hilfsprogramm aber droht, dauerhaft gekürzt zu werden.
Was bedeutet das für die Menschen in Idlib? „Ich persönlich bin sehr nervös und sehr unsicher, was in den kommenden Monaten hier passieren wird. Es herrscht ja weiter Krieg in Idlib und ich fürchte, ich brauche einen Plan für den schlimmsten Fall“, so Huda. Sie selbst kam 2018 nach Idlib, auf der Flucht aus der östlich von Damaskus gelegenen Stadt Douma, als diese von der syrischen Armee zurückerobert wurde. Huda steht auf mehreren Fahndungslisten syrischer Geheimdienste, weil sie sich 2011 der Bewegung anschloss und in Douma ein Frauenzentrum eröffnete. So wie Huda geht es Hunderttausenden in Idlib. Gleichzeitig stehen sie und ihre Kolleginnen bereits jetzt unter enormem Druck durch die lokalen isliamistischen Kräfte, die ihr Frauenzentrum am liebsten geschlossen sähen. So bleibt weiterhin die sehr gefährliche Flucht in die Türkei eine Option. Und von dort? „Sollte es dazu kommen, würde ich versuchen, mich nach Europa durchzuschlagen“, so Huda. Es kann also gut sein, dass auch sie sich bald aufmachen wird in Richtung Griechenland und Balkan.
Durch die Militär-Offensiven des Regimes wurden gezielt dutzende Krankenhäuser in Idlib zerstört. Millionen Menschen leben in Camps oder unter freiem Himmel. Das Frauenzentrum leistet Corona-Aufklärung und unterstützt die mittellosen Geflüchteten, die in Idlib gestrandet sind.