Jean Ziegler in Frankfurt

Der Weg entsteht im Gehen

07.02.2018   Lesezeit: 4 min

Die medico Veranstaltungen mit Jean Ziegler offenbarten seine Haltung und Welterfahrung. Das war ein lehrreiches Stück politischer und linker Geschichte. Von Katja Maurer.

Der Schweizer Soziologe Jean Ziegler ist eine lebende Ikone der globalisierungskritischen Bewegung. Mit ihm eine Veranstaltung zu machen ist per se eine Garantie für ein volles Haus. Medico international ist schon lange freundschaftlich mit Jean Ziegler verbunden. Aber erst jetzt, anlässlich des 50jährigen Jubiläums von medico international klappte es im Verbund mit der Politik-Professorin Uta Ruppert von der Frankfurter Universität und dem entwicklungspolitischen Netzwerk Hessens.

Das Casino der Universität Frankfurt platzte mit über 500 Besucher_innen aus allen Nähten. Viele kamen nicht mehr hinein. Und wer vorher dachte, Jean Ziegler kenne ich schon zu genüge, der hat dann doch etwas verpasst. Denn Ziegler spaziert wie ein Seiltänzer mit schlafwandlerischer Sicherheit auf dem „schmalen Grat der Hoffnung“, wie sein jüngstes Buch heißt. Er stürzt nicht ab in revolutionär-pathetischen Kitsch, nur um billigen Applaus aus dem Publikum zu bekommen, und er betet die Lage auch nicht gesund, nur um politische Handlungsfähigkeit zu beweisen. Das ist in der heutigen politischen Kultur durchaus eine Seltenheit. Hinzu kommt natürlich Weltoffenheit, Witz und Selbstironie. Vielleicht muss man dafür aus der Schweiz stammen, schon der Dialekt macht die eigene Provinzialität bewusst.

Die UNO liegt am Boden

Im Gespräch mit medico-Geschäftsführer Thomas Gebauer offenbarte sich aber vor allen Dingen Zieglers Haltung und Welterfahrung und das war ein lehrreiches Stück politischer und linker Geschichte. Angefangen bei den gar nicht linken Churchill und Roosevelt. Ziegler erinnerte an eine Begegnung beider im Jahr 1941, bei der die Idee der UNO geboren wurde. Beide Politiker, geprägt vom Kampf gegen den deutschen Faschismus, wollten eine Weltorganisation schaffen, die Menschenrechtsverletzungen, wie die Nazideutschlands künftig verhindern oder zumindest rechtzeitig einschreiten könnten. Ziegler verwies darauf, dass die beiden sich um die Frage des Vetorechts stritten. Während Roosevelt in Zieglers Darstellung überzeugt von 'Ein Staat - Eine Stimme' gewesen sei, habe Churchill mit Verweis darauf, dass die Nazis demokratisch gewählt wurden, für einen Sicherheitsrat und Vetorecht plädiert. Damals eine verständliche Einschränkung.

Heute jedoch sei der Sicherheitsrat und das Veto-Recht der Grund, warum „die UNO am Boden liegt“. Die Krise im Jemen – hier ist Ziegler Teil einer UNO-Sonderkommission -, der syrische Krieg mit seinen internationalen Akteuren und viele andere Konfliktherde, die heute den Weltfrieden bedrohten, bräuchten dringend die UNO in der ursprünglich von Roosevelt und Churchill angedachten Rolle. Das aber gehe nur ohne Vetorecht. Ziegler, der seit Jahren für die UNO in verschiedenen Rollen tätig ist, erinnerte an einen recht ausgearbeiteten Plan des ehemaligen UNO-Generalsekretärs Kofi Annan, der die Abschaffung des Vetorechts bereits vorsah. Der müsse heute wieder aus der Schublade geholt werden. Falls wir wieder einen SPD-Außenminister bekommen, wäre es doch eine gute Aufgabe, sich für die Abschaffung des Veto-Rechts einzusetzen, statt selber Großmachtstatus im Sicherheitsrat zu reklamieren wie vor Jahren der damalige Außenminister Steinmeier.

Die planetarische Zivilgesellschaft

Gegen die mörderische Struktur, von der Ziegler in all seinen Büchern nicht müde wird zu sprechen, könne nur ein neues Subjekt – die „planetarische Zivilgesellschaft“ durchbrochen werden. Dazu müsse man die menschliche Identität gegen den neoliberalen Panzer freilegen. Diese bestehe in dem Satz: „Die Unmenschlichkeit zerstört die Menschlichkeit in mir.“ Solche Zitate beherrscht Jean Ziegler aus dem ff und sie kommen immer zum richtigen Zeitpunkt. Hier noch ein paar davon. Der Linken fehle heutzutage der Zorn. Dann zitiert er Sartre, mit dem er befreundet war. Um die Menschen zu lieben, habe der gesagt, müsse man das sehr hassen, was sie unterdrückt. Der Existenzialist in Ziegler sagt auch: Mein Leben hat einen Sinn. Den, den ich ihm gebe.

Auf Thomas Gebauers Frage, wie er es geschafft habe beim Marsch durch die Institutionen trotzdem bei der ihm eignen Art der Radikalität zu bleiben, antwortete Ziegler: Sein privilegiertes Leben als Schweizer Staatsbürger verdanke sich reinem Zufall. Der Zufall hätte ihn auch zu einem Vater eines hungernden Kindes in Somalia werden lassen können. Wenn also nichts unsere Privilegien legitimiert, dann sind wir der Milliarde verpflichtet, die in der kannibalischen Weltordnung den Platz „the bottom being“ einnehmen, also niemals eine Chance auf menschenwürdiges Leben haben werden. Ziegler zitierte dazu den Papst, der darauf verwiesen habe, dass diese Weltordnung eine neue Kategorie Mensch geschaffen habe: die Überflüssigen.

Und zum Abschluss noch eine Ziegler'sche Anekdote aus dem Ende des spanischen Bürgerkriegs, die auch die Gratwanderung Hoffnung noch einmal aufleben ließ. Der spanische Dichter Antonio Machado sei mit den letzten republikanischen Truppen zu Fuß nach Frankreich geflohen. Auf dem beschwerlichen Weg dorthin, habe er eine fröhliche Melodie gepfiffen. Seine Gefährten fragten ihn, wie er angesichts dieser verheerenden Niederlage so fröhlich sein könne. Machado soll geantwortet haben, dass ihm gerade ein Gedicht eingefallen sei: Caminante no hay camino/ se hace el camino al andar/ golpe a golpe/ verso a verso. Eines seiner berühmtesten: Wanderer, es gibt keinen Weg. Er entsteht erst im Gehen. Hieb für Hieb und Gedicht für Gedicht.

Jean Ziegler war am 5. und 6. Februar 2018 zu Gast in Frankfurt bei Veranstaltungen im Mal Seh'n Kino und der Goethe-Universität anlässlich 50 Jahre medico.

Katja Maurer

Katja Maurer leitete 18 Jahre lang die Öffentlichkeitsarbeit von medico international und die Rundschreiben-Redaktion. Heute bloggt sie regelmäßig auf der medico-Website.


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