Es gibt Nachrichten, bei denen kann ich nicht einfach wieder zur Tagesordnung übergehen. „Xenophobe Ausschreitungen in Südafrika – Geschäfte von migrantischen Kleinhändlern werden gestürmt, geplündert und zerstört. Menschen fliehen, werden verletzt, 12 Menschen sterben.“ Sie brechen in die Büroroutine ein und lassen mich erschüttert zurück. „Wieder einmal brennt unsere Stadt!“ lese ich in der Email unserer Partnerorganisation Sophiatown Community Psychological Services, die seit den ersten xenophoben Ausschreitungen 2008 mit Migrant*innen im Zentrum von Johannesburg arbeiten. Seither wächst eine Dynamik, die es zulässt, dass diejenigen, die als „Andere“ gesehen werden, beleidigt, ausgeschlossen, misshandelt und rechtlos behandelt werden können.
„Bring mich auf einen anderen Planeten!“
„Seit drei Tagen haben sich die Familien, mit denen wir arbeiten, in ihre Zimmer und provisorischen Unterkünfte eingeschlossen, die Kinder gehen nicht zur Schule, die Frauen können nicht auf die Straße, um die wenigen Waren, die sie haben zu verkaufen oder nach Gelegenheitsjobs zu suchen, auf den Straßen ist eine unheimliche Stille. Dabei tragen viele dieser Familien ohnehin schon die Folgen schwerer traumatischer Erfahrungen aus ihren Heimatländern, haben die Ermordung von Angehörigen mitansehen müssen und selbst Vergewaltigungen, Folter und Vertreibung erlebt. Gestern haben wir eine Mutter mit drei Kindern besucht, die in einem dunklen Raum saßen, wo sie die ganze Nacht nicht geschlafen haben, zu verängstigt um raus zu gehen. Der 6jährige Junge, normalerweise laut und lebendig, saß still auf dem Boden. Plötzlich flüsterte er: „Bring mich auf einen anderen Planeten!“ Und voller Verzweiflung schreibt die Kollegin: „Was ist aus uns als Land und als Welt geworden, wenn ein kleiner Junge, der nichts als Hunger und Gewalt in seinem kurzen Leben erfahren hat, sich noch nicht mal einen sicheren Ort auf der Erde vorstellen kann, sondern auf einen anderen Planeten gebracht werden möchte?“
Die Ausschreitungen kommen nicht aus dem Nichts. Sie werden genährt von fremdenfeindlichen Reden der Politiker, von einer untätigen Polizei, die erst nach lauten Protesten des nigerianischen Präsidenten und anderer afrikanischer Diplomaten energischer eingreift, von einem Turbokapitalismus mit extremer Ungleichheit, der brutale Verteilungskämpfe am unteren Ende der ökonomischen Leiter für „Optimierungsprozesse“ hält und der die Wut in der Bevölkerung anheizt, von einem dysfunktionalen Staat und einer politischen Elite, die das ungestrafte Plündern und sich selbst Bereichern zur politischen Kultur gemacht hat.
Die Männer des KwaMai-Mai Arbeiterwohnheims, die die xenophoben Ausschreitungen mit ihren Pamphleten und Aufrufen diesmal ausgelöst hatten, begründen: „Südafrika für Südafrikaner – das ist nicht Xenophobie sondern die Wahrheit. In Amerika sprechen sie darüber, eine Mauer zu bauen, um Ausländer davon abzuhalten, ihr Land zu betreten. Warum sollten wir nicht dasselbe tun?“
Der bösartige Mechanismus, mit Rassismus von anderen Interessen abzulenken, scheint auch in Südafrika zu funktionieren – viele vermuten die mächtigen politischen Netzwerke aus der Zuma-Zeit hinter der Mobilisierung von armen Hostelbewohnern aus KwaZulu-Natal, um von den Korruptionsenthüllungen vor der Zondo-Untersuchungskommission abzulenken. Und diesmal, anders als 2008, spielen Fake News in soziale Medien bei der Mobilisierung gegen Ausländer eine zentrale Rolle.
Alle drei Stunden wird in Südafrika eine Frau ermordet
Als ob die fremdenfeindliche Gewalt nicht genug wäre, erschüttern Südafrika in derselben Woche Nachrichten von brutalen Morden an Frauen – aus allen Schichten und Bevölkerungsgruppen. Spontan ziehen dutzende Frauen wütend vor das Kapstädter Parlament und fordern endlich entschiedene Maßnahmen und staatlichen Schutz gegen diese Femizide. „Genug ist genug – alle drei Stunden wird eine Frau in Südafrika ermordet – das muss sofort aufhören!“ Doch anstatt sie anzuhören schickt die Polizei eine Spezialeinheit, um die Frauen zu vertreiben, damit sie das afrikanische World Economic Forum, das zur selben Zeit tagt, nicht stören. Am nächsten Tag sind tausende Frauen da, der Protest ist unübersehbar und Präsident Ramaphosa sieht sich selbst gezwungen, vor die Frauen zu treten und Maßnahmen zu versprechen.
Alle Südafrikaner*innen, mit denen ich in dieser Woche spreche, sind aufgebracht und tief traurig. 25 Jahre nach den ersten demokratischen Wahlen zeigt sich, dass die Transformation einer über Jahrhunderte zutiefst entmenschlichten Gesellschaft viel schwerer ist als angenommen. Einer Gesellschaft, in der rassistische und sexistische Gewalt jahrhundertelang nicht nur straffrei blieb, sondern Staatsräson war und bewusst eingesetzt wurde, um das koloniale Projekt der Herrschaft der Herrenmenschen mit aller Brutalität durchzusetzen. Das auch ein Projekt der patriarchalen Herrschaft war, in der es hegemoniale Maskulinitäten gab, der weißen Herrenmänner, denen alles erlaubt war und kolonisierte Maskulinitäten, denen Ressourcen und politische Macht geraubt wurden, aber im Gegenzug zu dieser „Entmännlichung“ die Herrschaft über die „eigenen“ Frauen zugestanden wurde.
Und es zeigt sich, dass eine demokratische und menschenrechtliche Transformation nicht gelingen kann, wenn gleichzeitig ein neoliberaler Kapitalismus grenzenlose Ungleichheit produziert und staatliche Regulierungsmöglichkeiten aushöhlt. Doch Südafrika wäre nicht das Land, das es ist, gäbe es nicht selbst unter den schlimmsten Bedingungen Menschen und Organisationen, die mitfühlen, sich sorgen, Hilfe und Proteste organisieren, die nicht aufgeben, sondern stur an einer Idee von (Mit)menschlichkeit und Solidarität festhalten, für die schon so viele Südafrikaner*innen vor ihnen gekämpft haben.