"Das neue Lager ist kein Lager, es ist ein Gefängnis. Ringsherum ist Stacheldraht. Es gibt sogar ein Abschiebegefängnis innerhalb des Lagers. Die Insel selbst ist es bereits wie ein Lager, weil alles so abgelegen ist. In gewisser Weise ist es wie ein Lager in einem Lager in einem Lager".
Bashir*, ehemaliger Camp-Bewohner
Auf Samos soll an diesem Wochenende das erste der neuen „Multi-Purpose Reception and Identification Centre“ auf den ägäischen Inseln bezogen werden. Ende 2020 versprach die EU-Kommissarin Ylva Johansson nahtlose Asylverfahren sowie Integrationsmaßnahmen für Schutzsuchende, sprach von Unterbringungsbedingungen im Einklang mit EU-Recht. Mindestens 250 Millionen Euro investiert die EU in neue humanitäre Camps – für mehr Menschen und mit klimatisierten Wohncontainern, in denen auch selbst gekocht werden könne. Das klingt gut. Dennoch haben die Menschen im derzeitigen Camp in der Stadt Vathy aufgrund ihrer Erfahrungen begründete Zweifel. Und sie haben Angst.
Von Vathy aus führt der Weg zum neuen Camp steil den Berg hinauf. Die Luft flimmert vor Hitze und der Motorroller hat sichtlich Mühe mit der Steigung. Eine Serpentine folgt auf die nächste und man ist froh, wenn ein überholendes Auto genügend Abstand hält. Nach mehr als zwanzig Minuten bin ich endlich da. Ein großes Schild, auf dem die zwölf Sterne der EU prangen, erklärt, dass hier das Zervou Camp gebaut wird.
Ich stehe vor einem meterhohen Stacheldrahtzaun – vor einer riesigen Baustelle irgendwo im Nichts der Berge von Samos. Unwillkürlich steigt Unbehagen auf. Dass dieser Ort Erwachsenen – und gar Kindern – ein würdiges Leben ermöglichen soll, kann ich mir beim allerbesten Willen nicht vorstellen. Ein Mann mit Warnweste kommt auf mich zu. „Der Aufenthalt auf der Baustelle ist nicht gestattet“. Obwohl ich die Schotterstraße nicht verlassen habe, gehe ich – im Wissen, dass die Polizei auf der Insel immer wieder Personen kriminalisiert, die Fotos der Hotspot-Camps machen. Hier soll es keine Öffentlichkeit geben.
Symptom eines Systems
Wenn am Wochenende Menschen in das Camp umgezogen werden, ist es das erste der geplanten Hotspot-Camps auf den ägäischen Inseln, die sich alle in einem gleichen: Durch ihre geographische Lage schneiden sie die Camp-Bewohner:innen vom Zugang zu den Städten und deren Versorgungsstrukturen und damit auch vom Alltagsleben ab: von der Unbeschwertheit der Cafés, von der Lebendigkeit der Marktplätze. Diese Orte aber sind es, die es den Menschen ermöglichen, zumindest kurzzeitig zu vergessen, dass sie Geflüchtete sind bzw. sein sollen. Trotzdem wird mit dem Zervou Camp als humanitäres Vorzeigecamp geworben.
Damit steht Samos auch stellvertretend für die menschenverachtende Migrationspolitik der EU. Flankiert von humanitären und Menschenrechtsdiskursen werden Bedingungen hergestellt, die Menschen entrechten und sie krank machen. Wohncontainer hat auch das alte Camp in Vathy – klimatisiert waren sie so lange, bis die Klimaanlage kaputt ging oder der Strom abgeschaltet wurde.
Klinische Studien unterstreichen, dass die Stressfaktoren nach der Flucht eine noch wichtigere psychische Belastung darstellen können, als mögliche traumatische Ereignisse vor oder während der Flucht. Die örtliche soziale Anbindung wird dabei immer wieder als ein ausschlaggebender Faktor für die psychische Gesundheit der Bewohner:innen von Geflüchtetenlagern bezeichnet. Deren Verunmöglichung wird demgegenüber als Belastungsfaktor bezeichnet. Schon im letzten Jahr machte eine Studie des Samos Advocacy Collective auf den katastrophalen Einfluss des Lagers auf die psychische Gesundheit der Menschen aufmerksam. Das Verharren im Limbo bewirkt emotionale Verletzungen. Die Unsicherheit des Wartens, die Angst vor Illegalisierung und Abschiebung und das Verharren in der Prekarität des Lagers sind grundlegend belastend. Daran wird auch ein neues Camp nichts ändern.
Orte, die entrechten und krank machen
Zurück in Vathy fühle ich mich zerschlagen und bin froh, dass ich den Motorroller genommen habe. Mit dem Fahrrad hätte ich vielleicht aufgegeben. Zu Fuß hätte ich es wohl erst gar nicht versucht. In der Stadt begegne ich Mohammed. Der kleine Mann mit freundlichem Blick schafft es zu lächeln, während er die (Über-)Lebensbedingungen im alten Camp erklärt: „Als ich ankam, ging es mir gut. Jetzt kann ich nicht mehr als zwei Stunden gut schlafen. Man kann richtig sehen, wie der Körper hier degeneriert: Wir müssen mit Bettwanzen und Kakerlaken leben. Weißt du, in Afrika gibt es Gefängnisse, wenn sie dich dorthin schicken, hast du dich innerhalb von zwei Tagen verändert. Es macht dich fertig. Und hier leben wir wie in einem afrikanischen Gefängnis.“ Mohammed ist bei weitem nicht alleine, wenn er sagt: „Das Camp an sich ist eine Verletzung der Menschenrechte derer, die dort leben.“
Vor der kleinen Klinik, die das Team der medico-Partnerorganisation MedEquality in einem kleinen Büro eingerichtet hat, hockt ein Mensch. Man sieht, dass er noch jung sein muss, vielleicht Mitte zwanzig. Sein Körper ist schlank und muskulös, aber er biegt sich vor Schmerzen. „Das Camp macht krank“, sagt auch Stephanie*. Die ausgebildete Krankenschwester arbeitet als Freiwillige in der Klinik: „Viele Menschen kommen mit Magen-Darm-Beschwerden zu uns, die ganz klar durch das Essen im Camp verursacht werden. Obwohl Teile der Lebensmittel verpackt ankommen, sind sie oft bereits verschimmelt. Im Lager gibt es nur einen einzigen Arzt. Jetzt gerade ist er nur für ein paar Hundert Menschen zuständig. 2019 waren es über siebentausend. Damals wären Menschen einfach gestorben, wenn wir nicht dagewesen wären.“
Ob das neue Camp bessere Bedingungen schaffen wird? Auch die Mitarbeiter:innen MedEquality haben große Zweifel. Dennoch sehen sie keine Perspektive mehr in ihrer Arbeit auf Samos. Angesichts der großen Entfernung des neuen Camps von der Stadt wird wohl niemand mehr in ihre provisorische Klinik kommen. „Und es kann immer noch sein, dass sie die Leute einfach überhaupt gar nicht mehr aus dem Camp lassen“, fügt Stephanie resigniert hinzu.
Starre
Verlässliche Informationen zum Camp-Umzug gibt es nicht für die Menschen im Lager. „Wir wissen nur, dass es irgendwo da oben auf dem Berg ist und dass niemand im Camp auf unsere Nachfragen eingeht.“ Mohammed tritt von einem Fuß auf den anderen. Das Unbehagen ist ihm anzusehen, er hat wenig Grund, den Behörden zu vertrauen. Ein Menschenrechtsaktivist, der auf Samos lebt, bestätigt: „Niemand wusste, wer das neue Camp leiten würde – nicht einmal die alte Camp-Leitung – obwohl sie selbst nun auch das neue Camp managen wird. Das ist absurd.“
Alles scheint möglich. In den letzten Monaten haben viele Menschen aus dem alten Camp die Erlaubnis bekommen, die Insel zu verlassen und auf das griechische Festland überzusetzen – was zuvor noch undenkbar war. Gleichzeitig sind nur vereinzelt Boot mit neuen Geflüchteten aus der Türkei auf Samos angekommen – warum, darüber lässt sich nur mutmaßen. Fest steht, dass es in den letzten Wochen mehrfach illegale Pushbacks gegeben hat, die dokumentiert werden konnten. Ein Augenzeugenbericht beschreibt, dass in mindestens einem Fall ein Mensch einfach von der Küstenwache ins Meer geworfen wurde, bevor die Insel erreicht werden konnte.
Abends verlässt das – unter deutscher Flagge fahrende – Frontex-Boot den Hafen von Samos. In nur kurzem Abstand fährt auch das Kriegsschiff der griechischen Marine aus der Bucht. Es ist dunkel, aber per App kann man seinem GPS-Signal folgen. Dann, plötzlich, ist es vom Radar verschwunden. Ausgeschaltet. Man kann nur ahnen, wo sie sind und was sie tun. Aber man weiß es nicht.
Aus den Augen, aus dem Sinn?
Wenn am Samstag, den 18. September das Zervou Camp feierlich eröffnet wird, gibt es auch Proteste gegen das neue Camp und die repressive Migrationspolitik. In Vathy wird eine gemeinsame Demonstration von Camp-Bewohner:innen, Aktivist:innen und anderen Inselbewohner:innen stattfinden, die versuchen, der Abschottungspolitik etwas entgegen zu setzen.
Mohammeds Worte bleiben mir im Gedächtnis. Zum Abschied bringt er es noch einmal auf den Punkt: „Das neue Lager ist keine gute Sache für Europa. Ich finde es ist kriminell, uns zu kriminalisieren. Es ist eine Schande, Menschen in einer solchen Situation zu halten. Wenn sie mir sagen: ‚Oh, wir haben ein schönes Bett, wir haben eine schöne Küche für euch‘, dann geht es mir nicht um ein schönes Bett oder einen schönen Schlafplatz. Sondern mir geht es darum, dass ich die Freiheit habe, mich zu bewegen und mit anderen zusammen zu leben. Ich spreche nicht nur für mich, sondern für alle, die mit mir im Lager auf Samos leben. Denn wenn wir uns nicht äußern, wird niemand von uns hören.“
* Name geändert.