Abschieben nach Syrien?

Eine beschämende Debatte

08.12.2020   Lesezeit: 6 min

Die Debatte um Syrien-Abschiebungen ist nicht nur ritualisierter Populismus und sät Angst unter Flüchtlingen. Sie schadet auch der Menschenrechtspolitik.

Von Till Küster

Alle Jahre wieder kommt das Christuskind. Und alle sechs Monate ist Innenministerkonferenz. Mittlerweile ist es zum Ritual geworden, dass Unionspolitiker dies zum Anlass nehmen, ein Ende des Abschiebestopps für syrische Geflüchtete zu fordern. Allerdings ist es in den letzten Jahren nicht nur bei Parolen geblieben. Der Schutzstatus von Flüchtlingen aus Syrien wurde immer weiter aufgeweicht, der Abschiebestopp zuletzt jeweils nur für sechs Monate von Konferenz zu Konferenz der Innenminister verlängert. Das BAMF wurde zwischenzeitlich angewiesen, Asylanträge syrischer Flüchtlinge nicht mehr zu bearbeiten und nur noch Abschiebeverbote zu gewähren. Nun prescht Bundesinnenminister Seehofer vor und fordert erneut die Abschiebung von Straftätern und sogenannten „Gefährdern“ nach Syrien.

Dass die Bundesrepublik nicht vor Abschiebungen in Länder zurückschreckt, die nicht sicher sind, zeigt seit Jahren das Beispiel Afghanistan. Syrien hat darüber hinaus eine ganz eigene Brisanz, die in der Lage im Land selbst begründet ist und die auch innerhalb des deutschen Regierungsapparats zu Kontroversen führt. Zuallererst ist es aber wichtig festzuhalten, dass Syrien schlicht nicht sicher ist. Immer wieder wird zwar auf den Rückgang der Kämpfe in weiten Teilen des Landes verwiesen, was stimmt. Wer so argumentiert, blendet aber die politische Situation in Syrien aus und verschweigt gleichzeitig, dass im Norden des Landes – auch militärisch – noch nichts entschieden ist. Zum einen hält die Türkei weite Gebiete im syrisch-türkischen Grenzgebiet völkerrechtswidrig besetzt, zum anderen hegt sie nach wie vor Invasionspläne für die kurdischen Gebiete im Nordosten des Landes. In Idlib droht zudem eine neue Offensive russischer und syrischer Truppen, während gleichzeitig pro-türkische, oft dschihadistische Milizen die Grenzregion kontrollieren. 

Dass nun Bundestagsabgeordnete aus der Unions-Fraktion Rückführungen ausgerechnet in die von der Türkei besetzten Gebiete im Norden des Landes fordern, ist ein Skandal im Skandal. Die türkische Besatzung stellt einen Völkerrechtsbruch dar und die Gebiete sind keineswegs sicher. Gerade hier treiben islamistische Söldner ihr Unwesen gegenüber Minderheiten, insbesondere den Kurdinnen und Kurden. Ausgerechnet hierher sollen Menschen aus Deutschland abgeschoben werden? Um die Lage noch zu verkomplizieren: Die kurdischen Kräfte halten in Nordostsyrien Tausende ehemalige IS-Kombattanten in Gefangenschaft, darunter 400 Schwerstverbrecher aus Deutschland. Mehrmals wurde die Bundesregierung aufgefordert, deutsche Islamisten zurück zu holen, bisher folgenlos.

Historischer Prozess in Koblenz

Syrien wird also weiterhin ein Ort kriegerischer Auseinandersetzungen bleiben, von den regelmäßigen Luftschlägen der israelischen Luftwaffe auf pro-iranische Verbände im ganzen Land ganz zu schweigen. Hinzu kommt das Repressionsregime der syrischen Diktatur unter Machthaber Assad, das geschätzt 150.000 Menschen aus politischen Gründen inhaftiert, tausendfach getötet hat oder verschwinden ließ. Erst vor wenigen Wochen stellte ein deutscher Mitarbeiter einer Hilfsorganisation Strafanzeige gegen den syrischen Geheimdienst, nachdem er 48 Tage Folterknast überlebt hatte und erst durch Vermittlung der tschechischen Botschaft in Damaskus aus der Haft herausverhandelt werden konnte.

Das Grauen in syrischen Gefängnissen ist genauestens beschrieben und dokumentiert. So gut dokumentiert, dass in einem historischen Prozess vor dem Oberlandesgericht Koblenz zwei syrische Geheimdienstmitarbeiter einer Haftanstalt wegen tausendfacher Folter und dutzendfachem Mord angeklagt sind. Das Gericht in Koblenz beschränkt sich dabei nicht auf eine Untersuchung der Tatvorwürfe gegen die beiden Angeklagten, sondern untersucht bewusst das gesamte staatliche Foltersystem in Syrien. Beispielsweise wurde ein ehemaliger Totengräber als Zeuge geladen, der schilderte, wie er über Jahre die Leichen Hunderter Folteropfer in Lastwagen zu Massengräber nahe Damaskus brachte – und das über Jahre. In Koblenz werden solche Schilderungen nun nicht mehr nur in Zeitungsartikeln oder in den sozialen Medien publiziert, sondern ein deutsches Gericht wird entscheiden, ob solche und andere Zeugen-Aussagen als belastbar anerkannt werden können.

Auch in anderen europäischen Staaten sind ähnliche Verfahren in Vorbereitung. Die Niederlande prüfen eine Anklage gegen Machthaber Assad selbst. Dass Innenminister Seehofer nun nicht einmal das Verfahren eines deutschen Gerichtes abwarten möchte, das das staatliche Foltersystem in Syrien untersucht, lässt nur zwei Schlussfolgerungen zu: Entweder hat er keine Kenntnis über den Prozess in Koblenz, oder es ist ihm egal, was dort an Verbrechen und Grausamkeiten verhandelt wird. Nicht egal ist es unter anderem dem SPD-geführten Bundesjustizministerium, das in einer Gedenkveranstaltung zum 75. Jahrestag der Nürnberger Prozesse bewusst die Brücke zum Prozess in Koblenz schlug. Hier wird Deutschlands Rolle und Verantwortung also genau andersherum gedacht: die Bundesrepublik als Akteurin der Strafgerichtsbarkeit, die aus eigenen, vergangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit einen Handlungsauftrag für die Zukunft gemacht hat. Und auch das Auswärtige Amt ist in mehreren Analysen der Sicherheitslage im Land zu diametral anderen Einschätzungen gekommen als Politiker:innen von Union und AfD.

Verurteilung oder Normalisierung des Assad-Regimes?

Eine substantielle Verbesserung der humanitären und politischen Lage in Syrien ist nicht abzusehen, Flüchtlinge werden selbst aus dem benachbarten Libanon nicht nach Syrien zurückkehren. Die Bundesrepublik als weltweit größte Geber humanitärer Hilfe in Syrien und den Nachbarstaaten hat deshalb mehrere Milliarden Euro für die Unterstützung von Vertriebenen und Opfern des Krieges bereitgestellt.   

Ob der Abschiebestopp nun bei dieser Innenministerkonferenz fallen wird oder erst im kommenden Jahr, wird sich zeigen. Mittlerweile ist absehbar, dass Abschiebungen nach Syrien irgendwann ermöglicht werden sollen. Im nächsten Jahr lässt Assad „Präsidentschaftswahlen“ abhalten, ein bizarres Verfahren, in dem er wohl „wiedergewählt“ wird. Alles andere würden auch die engsten Verbündeten des Regimes, Iran und Russland, nicht zulassen.

Assad, der seit 2011 erbittert Krieg gegen das eigene Volk führt, dem schätzungsweise 500.000 Zivilist:innen zum Opfer fielen und der 12 Millionen Menschen in die Flucht trieb, könnte nach seinem fingierten Wahlsieg direkter Kooperationspartner deutscher Behörden werden, zunächst für Abschiebungen von Straftätern, später dann auch im größeren Rahmen. Bereits jetzt kursieren in Berlin Szenarien und Papiere, die eine mögliche Beteiligung der EU am Wiederaufbau im zerstörten Syrien skizzieren. Zuerst Abschiebungen, dann Wiederaufbau, dann Rückkehr syrischer Flüchtlinge in eine der verbrecherischsten Diktaturen dieser Welt: Noch nie war dieses Szenario näher als jetzt.

Der Podcast „Branch 251“ begleitet und dokumentiert jeden Prozesstag am Oberlandesgericht Koblenz, ordnet ein, analysiert und lässt Opfer und Menschenrechtsaktivist:innen zu Wort kommen. All das auf Englisch und Arabisch, damit auch Menschen in Syrien und der arabischen Welt Informationen zu dem Verfahren erhalten. Fritz Streiff, der Herausgeber des podcasts, fasste in Folge 10 die Bedeutung des Prozesses in Koblenz für die deutsche Politik und Gesellschaft wie folgt zusammen: "Koblenz is important on so many levels: politically, because Germany signals to the world, they are willing to take action against the systemic torture practices of Assad. Historically, because how we deal with the past tells us something about who we are, who we want to be and the future we want to have."

Um nichts weniger geht es also, auch in der Frage, wie die deutsche Gesellschaft und der deutsche Staat vor dem Hintergrund ihrer eigenen Geschichte gegenüber Syrien handeln werden. Seehofer und die Union haben ihre Position dazu mittlerweile klar formuliert. Die Frage wird sein, ob sie sich damit durchsetzen können.

Till Küster

Till Küster ist Politikwissenschaftler und leitete bis 2023 die Abteilung für transnationale Kooperation bei medico international.

Twitter: @KuesterTill


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