Ob die Ankunft an so einem Ort sanfter sein kann? Wahrscheinlich nicht. Wir steigen aus dem Minibus, der vor der Gesundheitsstation des Kurdischen Roten Halbmond im al-Hol-Camp zum Stehen gekommen ist und finden uns direkt in einer Menschentraube wieder: Frauen, schwarz verschleiert, mit Niqab oder Burka. Einige erblicken uns und ziehen ihre Kinder fort, andere achten nicht auf uns – sie sind darauf fokussiert endlich an die Reihe zu kommen. Die Schlange ist lang und chaotisch, wahrscheinlich warten sie hier schon seit einigen Stunden auf eine medizinische Behandlung. Die Sonne brennt und unter der schwarzen Kleidung muss es unglaublich heiß sein. Viele Kinder schreien, sie haben offene Wunden, Frauen stützen sich auf Krücken.
AnhängerInnen, ZivilistInnen und Opfer des IS an einem Ort
Wir sind angekommen, an einem Ort, den es so auf dieser Welt nicht nochmal geben kann: das al-Hol-Camp in Nordostsyrien, nahe der irakischen Grenze, dreißig Autominuten von der Stadt Hasakeh entfernt. Im Camp kommen seit Anfang März Zehntausende an, die vor den Kämpfen um das letzte IS-Kalifat bei Baghouz geflohen sind. Um den 20. März herum wurde Baghouz schließtlich von der kurdisch dominierten SDF und der Anti-IS-Koalition „befreit“ und damit der IS in der Region militärisch geschlagen. Das al-Hol-Camp liegt 300 Kilometer nördlich der Kampfgebiete, hier kamen vor allem Frauen, Kinder und ältere Menschen an. Unter ihnen IS-AnhängerInnen, ZivilistInnen und Opfer der IslamistInnen.
Um zum Camp zu gelangen, passieren wir das Dorf Hol. Bis 2015 stand es unter Kontrolle der Terrormiliz. Das nahegelegene Flüchtlingslager wurde in dieser Zeit vom IS als Waffenlager genutzt, die Flüchtlinge konnten zuvor noch an einen anderen Ort gebracht werden. Unser Fahrer vom Kurdischen Roten Halbmond zeigt uns die ehemalige Zentrale des Anführers. Jetzt ist hier kurdisches Militär stationiert. Wir fahren am ehemaligen Gefängnis vorbei, das schwarz-weiße Symbol des IS verblasst schon. Treppen führen in die Tunnel, in denen die IS-Kämpfer Schutz suchten. Wir umfahren einen kleinen Verkehrskreisel, hier wurden öffentlich Menschen hingerichtet und zur Abschreckung tagelang hängen gelassen. Heute ziert den Kreisel ein Brunnen, der kein Wasser führt, außerdem ein Bild von Abdullah Öcalan und einer Friedenstaube. 2015 wurde das strategisch wichtige, weil auf Hügeln gelegene Dorf von Luftschlägen der Anti-IS-Koalition getroffen, der IS vertrieben.
Mit dem Vormarsch der irakischen Armee und der Anti-IS-Koalition auf Mossul, füllte sich das al-Hol-Camp erneut mit tausenden irakischen Flüchtlingen. Bis Anfang 2019 lebten hier etwa 15.000 Menschen, innerhalb eines Monats sind es nun mehr als dreimal so viele: Etwa 73.000 Menschen befinden sich zur Zeit im Camp, berichtet Dr. Alan, der uns nach unserer Ankunft in Empfang nimmt und die überfüllte Gesundheitsstation des Kurdischen Roten Halbmonds zeigt. In Containern versorgen die NothelferInnen rund um die Uhr PatientInnen, etwa 200 bis 300 am Tag schaffen sie, ganz genau weiß er es auch nicht. In einem Zimmer ist die Gynäkologie untergebracht, hier kommen jede Woche 25 bis 30 Kinder auf die Welt. Nebenan ist die pädiatrische Station, ein weiteres Zimmer im selben Container. Die Versorgung der Kinder ist besonders wichtig, viele kommen unterernährt hier an. Wo der IS sich zuletzt verschanzte, gab es keine Nahrung mehr. Infolge von Mangelernährung, Unterkühlung oder Krankheiten sind über 200 bisher gestorben. Für sie kam jede Hilfe zu spät.
Die Not ist groß – medico unterstützt den Bau eines Krankenhauses
Als wir endlich im hinteren Bereich der Gesundheitsstation, im Büro der MitarbeiterInnen, angekommen sind und kurz verschnaufen können, streckt eine Frau ihren Kopf durch das offene Fenster Sie trägt selbst vor ihren Augen einen Schleier und hat schwarze Handschuhe an. Auf Arabisch bittet sie aufgeregt um Hilfe. Sie habe dreizehn Kinder, sei ohne Mann im Lager, seit zwanzig Tagen schon, habe noch immer kein Zelt bekommen, nur sechs Matratzen für sie und ihre Kinder, sie bittet um ein eigenes Zelt. Der Bedarf im al-Hol-Camp ist riesig, niemand hatte damit gerechnet, dass sich noch so viele Menschen in der letzten IS-Bastion aufhalten. Die humanitäre Situation stabilisiert sich zwar langsam, aber wie groß die Not ist wird deutlich, als wir das Lager besichtigen. Wir sehen viele verletzte Kinder, auch Frauen und Alte, in Rollstühlen, auf Krücken, mit behelfsmäßigen Verbänden. In einem schrottreifen Pritschenwagen wird ein alter Mann zur Gesundheitsstation gebracht. Krankenwägen gibt es hier nicht.
Neben der Gesundheitsstation wird auf einer Baustelle gearbeitet, die Stahlträger stehen schon. Hier entsteht ein Krankenhaus, medico unterstützt den so dringend benötigten Bau. Ein OP-Bereich ist geplant, außerdem 20 Betten – bis jetzt müssen alle schweren Fälle in die Krankenhäuser von Hasakeh oder Qamislo gebracht werden. Doch die sind ständig überfüllt, auch die lokale Bevölkerung muss weiter versorgt werden. Der Bau des Krankenhauses kann mit einer Spende unterstützt werden.
Was tun mit den IS-AnhängerInnen?
In einem abgeteilten Bereich des Lagers sind bis zu 12.000 ausländische IS-AnhängerInnen untergebracht: Frauen und Kinder, aus Schweden, Deutschland, Frankreich, Russland, Kasachstan, Tunesien, den USA, … insgesamt über 50 Nationalitäten. Wir hören Frauen Türkisch miteinander sprechen, eine redet mich auf perfektem Englisch an und bittet mich, sie hier herauszuholen. Viele wollen wenigstens zurück in die Türkei, über die sie in der Regel eingereist sind, sie fürchten die Todesstrafe im Irak. Die HelferInnen sagen uns, sie seien ratlos, wüssten nicht, was sie mit diesen Menschen machen sollen. Viel zu viele seien noch vollkommen in der IS-Ideologie verfangen, wollten das nächste Kalifat aufbauen. Andere wollen nur noch in ihre Heimatländer zurück. Sie müssen von den jeweiligen Regierungen ihrer Staatsangehörigkeit zurückgenommen werden, die Verantwortung liegt dort.„Der Hilfsbedarf ist im Camp immer noch sehr groß, in den nächsten Wochen, Monaten müssen wir diese Menschen weiter versorgen. Das ist eine große Belastung für die MitabeiterInnen“, sagt Dr. Alan. Er weist auf die Verantwortung der nationalen Regierungen hin: „Auf Dauer können wir sie hier nicht versorgen. Was soll mit den Menschen passieren? Sie können zurückgeholt werden, das wäre eine große Entlastung für uns.“
Vor allem die Kinder bereiten den HelferInnen Sorge: Sie kennen nichts anderes als die Herrschaft des IS. Wenn jetzt nicht schnell mit ihnen gearbeitet wird, um der Ideologie etwas entgegen zu setzen, wächst hier die nächste Generation TerroristInnen heran. Auch sei der Umgang der Geflüchteten untereinander oft schwierig, so kam es schon zu handfesten Streitigkeiten, bei denen die HelferInnen sich zurückziehen mussten, Sicherheitskräfte wurde von Frauen mit Steinen beworfen.
Einen Tag zuvor besuchte ich das Roj-Camp bei Derik. Hier werden bereits seit zwei Jahren IS-Anhängerinnen und ihre Kinder untergebracht. Auch hier halten sich viele ausländische Frauen auf, die auf die Rückkehr in ihr Herkunftslandland warten, bis jetzt meist erfolglos. Zurzeit leben hier 1.500 Menschen, es gibt Kurse für die Frauen und Schulprogramme für die Kinder. Langsam erreichen sie die Frauen, berichtet uns die Leiterin der Camp-Verwaltung. Sie fangen an zu bereuen und distanzieren sich teilweise von der Ideologie, die Kinder arbeiten in der Schule gut mit. Dies ist aber ein langwieriger Prozess, er braucht Zeit und Ressourcen. Das Camp verfügt auch sonst über eine gute Infrastruktur, es gibt rund um die Uhr Elektrizität, die Sanitäranlagen sind gut und die Gesundheitsstation ist ausgestattet – kein Vergleich zur Situation im al-Hol-Camp.
Nach unserem Besuch im al-Hol-Camp ist klar: Hier muss etwas passieren und zwar schnell. Und zwar mehr als die dringend benötigte humanitäre Hilfe und die Unterstützung der lokalen Hilfsstrukturen, die ihr Bestes geben. Vor allem braucht es einen langfristigen Plan für die ausländischen IS-AnhängerInnen und ihre Kinder, ebenso für diejenigen SyrerInnen, die das Kalifat mitgetragen haben. Diese Aufgabe können die Kurdinnen und Kurden in Nordsyrien nicht alleine bewältigen, dafür fehlen Ressourcen und Wissen. Die Bundesregierung versteckt sich in der Frage der Rücknahme deutscher IS-AnhängerInnen derzeit hinter der Ausrede, keine diplomatische Vertretung in Syrien zu haben – um bloß nicht in offiziellen Kontakt mit der kurdischen Selbstverwaltung treten zu müssen. Dieses unwürdige Versteckspiel muss ein Ende haben. Das al-Hol-Camp ist ein internationaler Ort und muss als solcher verstanden werden. Diese Bürde kann niemand alleine tragen.
Ein weiterer Blog über die Opfer des IS, denen Anita Starosta auf ihrer Reise begegnet ist, folgt in den nächsten Tagen.