Nicaragua

Erwachen eines Landes

30.04.2018   Lesezeit: 4 min

Eine breite Protestbewegung stellt die autoritäre Ortega-Regierung infrage. Von Moritz Krawinkel

Seit Jahren berichten wir bei medico über die anhaltenden Proteste gegen den geplanten Bau eines interozeanischen Kanals durch Nicaragua. Seit längerem steht zwar in den Sternen, ob der Kanal überhaupt realisiert wird, dennoch ist die Angst der von Enteignungen bedrohten Bauern in der Region real, denn neben dem Kanal geht es auch um den Bau von Urlaubsressorts, Häfen und Freihandelszonen auf ihrem Land.

In den Protesten gegen das Kanalprojekt überwinterte der politische Widerstand in einem Land, dessen revolutionäre Geschichte längst privatisiert ist – von Präsident Daniel Ortega, seiner Frau und Vizepräsidentin Rosario Murillo, die vermutlich auch seine Nachfolgerin wird, und einer hörigen sandinistischen Bewegung. Trotz des autoritären Regimes, des Klientelismus und der Cliquenwirtschaft, die die Ortegas installierten, gab es seit Jahren keine breiteren Proteste mehr. Vermutlich auch, weil die Kriminalität im Vergleich zu den Nachbarn Guatemala, El Salvador oder Honduras immer noch überschaubar ist und die nicaraguanische Regierung dank ihrer politischen Nähe zu Venezuela und Kuba immer etwas mehr zu verteilen hatte.

Viele Todesopfer

Mit der Ruhe scheint es vorbei zu sein. Vor zwei Wochen trat eine Reform der Sozialversicherung in Kraft, die finanzielle Engpässe bei der zuständigen Behörde ausgleichen sollte. Zentrale Bestandteile sollten sein die Anhebung der Steuern auf Alters- und Erwerbsunfähigkeitsrenten und eine Erhöhung der Sozialversicherungsbeiträge von Arbeitnehmern und Arbeitgebern. Die drohenden sozialen Einschnitte riefen Studierende auf den Plan, die sich Demonstrant_innen anschlossen, die bereits seit einigen Tagen gegen die unzureichende Antwort der Regierung auf verheerende Waldbrände im Tropenreservat Indio Maíz protestierten.

Gegen die sich verbreiternden Proteste postierte die sandinistische Regierung Schlägertrupps an neuralgischen Punkten der Hauptstadt, die zum Teil gewalttätig gegen die Studierenden vorgingen. Die Polizei sah zu. Zwei Tage später, inzwischen hatten sich Zehntausende den Protesten angeschlossen, waren bis zu zehn Menschen tot, darunter ein Journalist, der mit einem Kopfschuss getötet worden war. Inzwischen sind laut Menschenrechtsorganisationen über sechzig Menschen ums Leben gekommen, eine offizielle Liste gibt es noch nicht.

Gegen die Symbole der Macht

Die  Demonstrant_innen brannten in verschiedenen Städten Regierungsgebäude nieder, wandten sich aber auch schnell gegen die 17 Meter hohen „Lebensbäume“, die Rosario Murillo in ganz Managua aufstellen ließ. Etliche der Metallkonstruktionen wurden niedergerissen oder angezündet. Die frühere Gesundheitsministerin und Ex-Sandinistin Dora María Tellez, mit der medico in der Vergangenheit viel zusammen gearbeitet hat, interpretiert das als Niederringen der Machtsymbole des Landes.

Rosario Murillo sprach denn auch von den Demonstrant_innen als „Vampiren, die Blut für ihre politische Agenda brauchen“. Daniel Ortega nannte sie schlicht Kriminelle. Trotzdem setzte die Regierung die Reform aus und erklärte sich zum „Dialog“ bereit. Außerdem richtete die sandinistische Mehrheit im Parlament eine Wahrheitskommission ein, die die Proteste und die staatliche Antwort untersuchen soll. Ihre Unabhängigkeit wird jedoch bereits infrage gestellt, bevor sie überhaupt zu arbeiten begonnen hat.

Es scheint, als würden die Versuche der Regierung, die Wogen zu glätten, nicht mehr genügen angesichts der Trauer um die Toten, der offensichtlichen Verantwortung der Regierung für die Eskalation und der sich Bahn brechenden Unzufriedenheit mit der autoritären Politik der Ortegas. Immer wieder auftauchende Vergleiche mit dem Diktator Somoza, den die sandinistische Revolution 1979 aus dem Amt jagte, machen deutlich wohin die Reise für die Regierung gehen könnte.

Forderungen der Bewegung

Viele aus der Protestbewegung sehen bislang keine Grundlage für Gespräche mit der Regierung, wie sie Ortega angeboten hat. Die Studierenden, von denen der Protest ja ausging, waren zunächst gar nicht eingeladen. Sie erklärten inzwischen aber, „unter Protest“ am Dialog teilnehmen zu wollen. Auf einer Pressekonferenz nannten sie ihre Bedingungen: Freilassung der Verhafteten, Ende der Diffamierung durch die Regierung, Teilnahme der Angehörigen der Opfer, Abzug von Polizei und Militär von den Straßen und Suspendierung der militärischen und polizeilichen Führungsriege.

Für die Bauernbewegung aus der Kanalzone bieten die landesweiten Proteste endlich die Möglichkeit, breitere Allianzen eingehen zu können. Am vergangenen Wochenende reisten über 1000 Bauern und Bäuerinnen nach Managua, um an einer von der katholischen Kirche initiierten Großdemonstration gegen die Repression teilzunehmen und den Protestierenden ihre Unterstützung zuzusichern.

Neben den Forderungen der Studierenden tauchen inzwischen eine Reihe weiterer Ziele auf: Das geht von einer Internationalen Kommission gegen Straflosigkeit und Korruption nach guatemaltekischem Vorbild über die Beteiligung aller gesellschaftlichen Sektoren an einem Dialog bis hin zum Rücktritt von Ortega. Für den Moment hat der Erzbischof von Managua, Leopoldo Brenes, angeboten, zwischen Regierung und Protestbewegung zu vermitteln.

Ob es der Regierung mit ihrem Dialogangebot gelingen wird, die Situation zu beruhigen, oder ob Frust und Wut über die Ortegas so stark sind, dass die spontan entstandene Bewegung sich nicht mehr abspeisen lässt, sondern aus ihr eine echte Alternative entsteht, ist derzeit noch nicht abzusehen.

Moritz Krawinkel

Moritz Krawinkel leitet die Öffentlichkeitsarbeit bei medico international. Außerdem ist er in der Redaktion tätig und für die Kommunikation zu Zentralamerika und Mexiko zuständig.

Twitter: @mrtzkr
Bluesky: @mrtzkr


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