medico: Wie würden Sie die Sandinisten heute beschreiben?
Roberto Stuart Almendárez*: Es hat sich bei den Sandinisten eine Strömung durchgesetzt, die jetzt und wohl auch künftig die Regierung und den Präsidenten stellen wird. Ich würde sie fast als faschistisch bezeichnen. Das klingt hart, wenn man bedenkt, woher die Frente Sandinista ursprünglich kommt. Aber ihre Weltanschauung trägt meiner Ansicht nach solche Züge. Sie halten sich für besser als alle anderen gesellschaftlichen Gruppen. Sie sprechen davon, dass durch ihre Venen „sauberes, reines Blut“ fließt. Sie tragen „Märtyrergene“. Diese Sprache ist Ausdruck für ein neues politisches Projekt der Sandinisten, das sie immer weiter kultivieren. Hinzu kommt die Frau von Ortega, Rosario Murillo.
Welche Rolle sielt sie?
Sie fügt dem ganzen Gemisch noch eine Portion Mystizismus und Aberglaube hinzu. Sie liest in den Sternen, die ihrer Aussage nach die politischen Geschicke des Landes, also die Verewigung der Ortega-Herrschaft, bestätigen. Sie macht aus ihrem Mann einen Messias. Das geht soweit, dass sie sich selbst als direkte Nachfahrin von Sandino und Rubén Dario bezeichnet. Sie stellt sich als die Verbindung dieser zwei Nationalhelden dar: Der Guerillero und der Dichter hätten sich in ihr vereinigt. Also sind auch ihre Kinder die Synthese aus all dem. Sie inszenieren sich als Paar, das in seiner Legitimität nicht angezweifelt werden kann. Sie stehen über jeder Kritik , weil sie eine reine Herkunft haben. Eine politische Herrschaft, die genetisch legitimiert wird.
Woher kommt das?
Das hat sicher mit der Wahlniederlage der Sandinisten von 1990 zu tun, was ja die Niederlage eines militärisch-revolutionären Projektes war. Hier kommt Lenín Cerna ins Spiel, eine Schlüsselfigur in der Sandinistischen Front. Gut ausgebildet und belesen, Geheimdienstchef in den 1980er Jahren. Nach der Abwahl der Sandinisten wurde er zum Organisationschef der Partei. Er betrieb eine geradezu machiavellistische Überwachungspolitik in der Partei. Das gab es zwar schon während der Revolution, aber eben nicht systematisch. Nun aber wurde der Verschwörungsvorwurf zum zentralen Mittel, um die Partei auf Stromlinie zu bringen. Mittlerweile ist er allerdings abgeschoben. Die Politik allerdings wird weiterbetrieben und perfektioniert. Hinzu kam ein wichtiger ökonomischer Aspekt. Nach der Wahlniederlage wurden die ökonomischen Ressourcen der Sandinisten wie eine Piñata aufgeteilt. Viele auch bekannte Mitglieder der Partei versuchten sich in privaten Geschäften. Der eine gründete eine Fluglinie, der andere ein Restaurant.
Das hat aber doch nicht funktioniert.
Nein, fast alles scheiterte. Einzig erfolgreich war Bayardo Arce, der sich mit dem transnationalen Konzern Cargill zusammentat und Agri-Corp gründete, ein bis heute sehr erfolgreiches Agrarunternehmen. Damit haben sich diese Teile der Sandinisten mit der kapitalistischen Elite zusammengetan und sich so eine sichere ökonomische Basis verschafft. Die Lehre lautete: Nicht mehr einzeln als Unternehmer scheitern, sondern lieber weniger verdienen, aber sich mit dem großen Kapital verknüpfen. Was für ein Kapital das ist, ob es aus den USA, China oder Venezuela kommt, ist vollkommen egal. Die Hauptsache ist, man erlebt nicht noch mal die Erfahrung der Wahlniederlage und alles, was damit auch für die Individuen an Machtverlust und Existenzangst verbunden war. Sie wollen sich und ihre Familien, also auch ihre mittlerweile erwachsenen Kinder absichern. Und das ist ihnen durch die Allianz mit dem Großkapital auch gelungen. Ökonomisch sind die sandinistischen Unternehmen mittlerweile so eng mit allem verzahnt, dass es schwierig wird, deren ökonomische Macht zu brechen. Denn das würde viele Menschen mit betreffen.
Ist die ökonomische Macht wichtiger geworden als die politische?
Man darf nicht vergessen, dass diese Sandinisten sich auch den Staat angeeignet haben. Es reicht nicht aus, sie mit klientelistisch-populistischen Systemen des Peronismus in Argentinien oder der PRI in Mexiko zu vergleichen. Sie haben den Staat ähnlich wie die Mafia auch benutzt, um viel Geld zu waschen. Sie erhielten viele Milliarden Petrodollar aus Venezuela. Es ist ihnen gelungen, dass mindestens die Hälfte dieses Geldes in ihren Unternehmen landete. Das würde ich als mafiotisch bezeichnen. Mafiotisch ist auch, dass sie von vielen Menschen als Schutzmacht verstanden werden. Ihr Motto lautet: „Es passiert nichts, wenn alle etwas zu essen haben.“ Dafür sorgen sie und schaffen gleichzeitig undurchsichtige ökonomische Strukturen, in denen sie öffentliche Hand und privater Aktionär gleichzeitig sind. Das verbunden mit einem revolutionären Diskurs hat dafür gesorgt, dass sie eine große Anhängerschaft haben und Hegemonie ausüben können.
Haben die Menschen da nicht recht? Immerhin gibt es Sozialprogramme, von denen sie profitieren.
Nehmen wir als Beispiel das Programm „plan techo“. 750.000 Familien sollen darüber Zinkbleche und Schrauben erhalten haben, um ihre Dächer zu verbessern. Das Programm wurde aus der Kooperation mit Venezuela finanziert. Die Kosten dafür lagen im zweistelligen Millionenbereich. Aus Venezuela aber kamen drei bis fünf Milliarden. Wo ist der Rest des Geldes? Die meisten Menschen in Nicaragua fragen sich das nicht. Vielmehr wird das Programm gefeiert, als habe man nie zuvor etwas bekommen.
Wie fügt sich die Idee, einen gigantischen Kanal durch Nicaragua zu bauen, in das Bild?
Ich glaube, dass Ortega sich mit dem linksliberalen Präsidenten Juscelino Kubitschek in Brasilien vergleicht. Ortega sieht sich ebenfalls als großen Transformator Nicaraguas. Kapitalistische Vorbilder wie Roosevelt gehen nicht. Linke Modernisierer wie Stalin oder Mao auch nicht, weil das blutige Modernisierungsprojekte waren. Damit will man sich nicht vergleichen. Also Juscelino Kubitschek, ein linksliberaler Präsident Ende der 1950er Jahre, der Megaprojekte wie die Gründung der Hauptstadt Brasilia ins Leben rief. Das ist die Liga, in der Daniel Ortega spielen will. Es geht nicht nur um die eigene Absicherung. Er sieht sich als Politiker von Weltrang. Und der Kanal ist ein Projekt, sich unsterblich zu machen.
Umfragen sagen die Wiederwahl von Präsident Ortega im November 2016 voraus. Wird sich die Dynastie so verewigen?
Ich hoffe nach wie vor auf unterschiedliche Blöcke in der FSLN. Der bereits erwähnte Bayardo Arce gehörte bislang zu der pragmatischen Fraktion, die die esoterischen Ausflüge von Daniel Ortegas Ehefrau, die nun auch für die Vizepräsidentschaft kandidiert, mit Skepsis verfolgt. Als Tomas Borge, ein alter Ortega-Mitstreiter, noch lebte, hat er sich klar gegen Rosario Murillo ausgesprochen und sogar mit Spaltung gedroht. Arce hat keinen verschrobenen Blick auf die Zukunft, sondern will den ökonomischen Einfluss sichern und die sandinistische Familie schützen. Die totalitäre Haltung von Ehefrau Rosario Murillo, die alles kontrollieren will, ist in dieser Hinsicht gefährlich. Nun hat sie mit der Vizepräsidentschaft sicher ihre Machtposition verstärkt.
Noch mal zum Nicaragua-Kanal. Sie glauben nicht, dass er gebaut wird. Warum?
Es hatte gute klimatische und seismische Gründe, warum die USA den Kanal entgegen ihrer ursprünglichen Pläne damals nicht in Nicaragua bauten. Dass die Ortega-Regierung das Projekt trotzdem vorantreibt und dabei alles tut, jeglichen Widerstand zu behindern und zu unterdrücken, hat verschiedene Gründe. Zum einen gibt es ökonomische Interessen, denn im Zuge des Projektes kann man viele interessante kleinere Projekte realisieren, die ökonomisch sehr attraktiv sind. Zum anderen haben wir eine Kultur des amerikanischen Kapitalismus. Das hat mir ein europäischer Freund schlüssig erklärt: Danach ist unsere kapitalistische Kultur in Lateinamerika stark von den USA geprägt. Eine kapitalistische Kultur des Konsums und des Glücksspiels im Gegensatz zu einer eher europäisch-calvinistischen Kultur.
Wir verschulden uns und beteiligen uns an einer Lotterie in der Hoffnung den Hauptgewinn zu erzielen. Der Kanal ist ein perfekter Ausdruck dieser Kultur: Irgendetwas wird passieren, auch wenn wir nichts dafür tun. Unsere Gesellschaften brauchen Hoffnung und seien sie nur eine Illusion. Auch das erfüllt die Kanalidee. Die Sandinisten verwalten diese Illusion sehr gut. Und falls er dann doch nicht gebaut wird, werden sie sagen, dass man sehr viel dadurch gelernt habe und international im Gespräch war. Tatsächlich aber wird man im Zuge dieses Großprojektes sehr viel darüber erfahren haben, wie die Besitzverhältnisse aussehen und wo sich lukrative Standorte befinden. Mit diesem Wissen werden sie sicherlich etwas anzufangen wissen.
Das Interview führte Katja Maurer.
* Roberto Stuart Almendárez ist Programmverantwortlicher beim nicaraguanischen Zentrum für Studien und politische Analysen CEAP.SA und beschäftigt sich u.a. mit Fragen der nachhaltigen Landwirtschaft und neuen Formen partizipativer Demokratie.
Spendenstichwort: Nicaragua
Shrinking spaces, also die Behinderung zivilgesellschaftlicher Tätigkeit, gehört seit Jahren in Nicaragua zum politischen Alltag. Die Methode lautet: Nadelstiche, deren Herkunft nicht immer zu klären sind. Auch beim medico-Projektpartner Popol Na kam es zu unerwarteten internen Auseinandersetzungen um die Kritik am Kanalprojekt. Viele Vermutungen machten die Runde, warum plötzlich ein Kollege die Meinung grundlegend wechselte. Ganz offenkundig waren andere Fälle, wo angesehene Wissenschaftler aufgrund ihrer Kritik am Kanalprojekt aus dem Amt gedrängt wurden. Popol Na setzt nichtsdestotrotz die Arbeit fort. Popol Na war eine der ersten Organisationen, die sich intensiv mit dem Thema Kanalkonzession beschäftigt hat und Gegenöffentlichkeit organisiert.
Dieser Artikel erschien zuerst im Rundschreiben 3/2016. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. <link material rundschreiben internal link in current>Jetzt bestellen!