Klimagerechtigkeit

Grün ist das Versprechen, grau die Realität

26.11.2024   Lesezeit: 9 min  
#klimagerechtigkeit  #externalisierung 

Europas Klimaziele werden auf Kosten von Gesellschaften anderswo umgesetzt – nicht nur im Globalen Süden. Das zeigt das Beispiel Bosnien-Herzegowinas.

Von Christin Stühlen

Der erste klimaneutrale Kontinent zu werden, das ist das erklärte Ziel der Europäischen Kommission unter Ursula von der Leyen. Die im Rahmenprogramm des 2019 verabschiedeten European Green Deal (EGD) gebündelten politischen Initiativen beinhalten Maßnahmen, mit denen verschiedene Wirtschaftszweige wie Energie, Verkehr, Industrie und Landwirtschaft zwar wachsen, aber gleichzeitig zur Bekämpfung des Klimawandels beitragen sollen. Als erstes Ziel nennt die Kommission den Übergang zu einer klimaneutralen Wirtschaft mit Netto-Null-Treibhausgasemissionen bis 2050. Auf den ersten Blick könnte man der EU zu diesem Schritt gratulieren: während in vielen Ländern, zum Beispiel in den USA, fossile Energien massiv ausgeweitet werden, widmet man sich in Europa dem Kampf gegen den Klimawandel. Weder „Mensch noch Region“ sollen dabei im Stich gelassen werden.

Nicht alle teilen diese optimistische Sicht. „Wieso werden die Bedingungen der Energiewende von der europäischen und deutschen Linken nicht stärker hinterfragt?“, fragt Svjetlana Nedimović, Mitglied des Netzwerks Združeni balkanski otpor i rad/Zbor (‚Vereinigte Kampforganisation der Arbeit‘) und Redakteurin beim Online-Magazin Riječ i djelo(‚Wort und Tat‘) aus Sarajevo, der Hauptstadt Bosnien-Herzegowinas. „Es ist klar, dass die EU versucht, ihre Industrie zu retten. Sie tut das auf dem Rücken der Peripherien, im globalen Süden, und in der Balkanregion.“ Diese Regionen eint, dass schwache politische Strukturen die Ausbeutung von Mensch und Natur begünstigen – und sie deswegen ein attraktives Ziel für europäische Politik und internationale Kapitalakteure sind. Bevor man also über Klimagerechtigkeit reden könne, müsse man über transnationale soziale Gerechtigkeit reden, sagt sie. Ist also doch nicht alles grün, was glänzt?

Schlüssel zur Klimaneutralität

Um Nedimovićs Worte zu verstehen, muss man ein weiteres Instrument der Kommission zur Kenntnis nehmen, dass eine weitere rechtliche Leitinitiative des EGD bildet: den Critical Raw Materials Act (CRMA). Dessen erklärtes Ziel ist die Versorgungssicherheit der europäischen Industrie mit Rohstoffen, die es für den angestrebten ‚grünen Wandel‘ braucht, zum Beispiel für die Dekarbonisierung von Industrie oder die Elektrifizierung von Mobilität. Die EU möchte in Zukunft nicht nur klimaneutral, sondern auch wirtschaftlich gut aufgestellt sein. Unter die Kategorien ‚kritisch‘ und ‚strategisch‘ fallen Rohstoffe insofern also dann, wenn sie für bestimmte Industriezweige unerlässlich und/oder von besonderem strategischem Interesse für sie sind. Das Leichtmetall Lithium ist beispielsweise wesentlicher Bestandteil von Batterien, die für den Ausbau von Elektromobilität notwendig sind, und wird dementsprechend sowohl als kritischer als auch strategischer Rohstoff eingestuft.

Die meisten der 34 aktuell als kritisch und 17 als strategisch eingestuften Rohstoffe werden aktuell aus Ländern außerhalb der EU importiert. Das bereits erwähnte Lithium etwa bezieht die EU zu 97 Prozent aus China. Insbesondere für die deutsche Wirtschaft, allen voran die Automobilindustrie, ist das ein sehr hohes Risiko. Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine, die Konflikte mit China und die rechtsradikalen Kräfte in den USA sind immense Bedrohungsszenarien für die europäische und die deutsche Wirtschaft. Deshalb stellt die EU ab 2025 Mittel für die Förderung von 170 sogenannten ‚strategischen Projekten‘ bereit. Um die Stabilität von Lieferketten nicht zu gefährden, soll der Anteil ‚heimischen‘ innereuropäischen Bergbaus bis 2030 um 10 Prozent erhöht werden. Handelt es sich beim Ausbau der Bergbauindustrie in Europa um einen entscheidenden Wegmarker im Kampf um globale Klimagerechtigkeit, weil Rohstoffe dann endlich da abgebaut werden, wo man sie mehrheitlich konsumiert? Wohl kaum. Denn aus dem Ausbau innereuropäischen Bergbaus folgt nicht zwingend, dass der Abbau von Rohstoffen im globalen Süden reduziert werden soll. Zumindest im CRMA werden keine konkreten Richtwerte für die absolute Reduktion des Rohstoffbedarfs genannt. Das angestrebte Ziel ist es zwar, etwa 25 Prozent der Rohstoffe aus Recycling zu gewinnen. Unklar bleibt jedoch, inwieweit dieses Ziel auch technisch umsetzbar ist. Dementsprechend liegt der Gedanke nahe, dass die EU in der Hauptsache eine Diversifizierung ihrer Lieferketten anstrebt – und nur zweitrangig eine Reduzierung ihres Rohstoffverbrauchs.

Eine Mine für Europa

Als der deutsche Bundeskanzler jüngst nach Serbien reiste stand ein strategisches Abkommen zu nachhaltigen Rohstoffen, Batterie-Wertschöpfungsketten und Elektrofahrzeugen auf der Tagesordnung. Das australische Bergbauunternehmen Rio Tinto plant dort eine Lithium-Mine, die die deutsche Automobilindustrie über Jahrzehnte mit dem begehrten Mineral versorgen könnte. Auch in Bosnien-Herzegowina werden riesige Vorkommen des begehrten Minerals vermutet. Das Interesse gilt nicht nur Lithium, sondern auch anderen, teilweise bereits seit Jahrzehnten geförderten, Rohstoffen wie Zink, Silber oder Kupfer. In der bosnischen Industriestadt Vareš werden beispielsweise 800.000 Tonnen diverser kritischer und strategischer Rohstoffe vermutet (insbesondere Zink). Die Rohstoffe, die hier durch das britische Unternehmen Adriatic Metals gefördert werden, werden zu einem Hafen in Kroatien und von da aus weiter in andere europäische Länder transportiert. 

Bosnien-Herzegowina, Serbien und weitere Länder des Westbalkans sind durch kurze Transportwege sowie niedrige Konzessionsgebühren und Körperschaftssteuern ein begehrter Standort für internationale Bergbauunternehmen, die so den Großteil der erbeuteten Profite einstreichen können. Im Umkehrschluss bedeutet das: weniger Geld für die betroffenen Gemeinden, in denen die Rohstoffe abgebaut werden.

Das ist nicht neu. „Wir sind seit Jahrzehnten eine Mine für Europa“, sagt Svjetlana Nedimović. Sie scherzt nur halb. Nicht alle der bereits existierenden oder in den nächsten Jahren geplanten Projekte in Bosnien stünden in direktem Zusammenhang mit der Energiewende und nicht alle würden durch europäisches Kapital finanziert, resümiert Nedimović. Die Jagd nach Rohstoffen in Bosnien-Herzegowina aber habe sich mit dem sogenannten European Green Deal intensiviert. Viele der geplanten Minenprojekten stehen in enger Verbindung zu anderen Formen der Ausbeutung, die Bosnien seit Jahren erlebt. Angefangen bei den erbeuteten Rohstoffen – erst Holz, jetzt Mineralien – über die erwirtschafteten Profite bis hin zu den Menschen selbst, die Bosnien scharenweise verlassen, viele von ihnen, um als Fachkräfte in Deutschland zu arbeiten. An manchen Orten wie Vareš, vor dem Beginn des Bosnienkriegs 1992 eine dynamische Industriestadt, sind die Projekte ein großes Versprechen des Wohlstands. Nach jahrzehntelangem Umbau zu einer kapitalistischen Marktwirtschaft ist die Stadt heute verarmt und verlassen.

Das Spinnennetz bosnischer Politik

Dementsprechend ist eine Ausweitung der Bergbauindustrien – trotz der ungleichen Verteilung der Profite – für nahezu alle politischen Akteure in Bosnien attraktiv. Die institutionelle Architektur der Nachkriegszeit, die aus dem Dayton-Friedensabkommen von 1995 hervorgegangen ist, teilt das Land in drei Entitäten, die Föderation Bosnien-Herzegowina und die Republika Srpska (RS) sowie die Sonderverwaltungszone Brćka und zahlreiche weitere Kantone und Gemeinden. Während die politischen Akteure in der Föderation sich eher in Richtung der EU und der USA orientieren, pflegt die RS enge Beziehungen zu den BRICS-Staaten, inklusive Russland. Dazwischen existieren mächtige lokale und überregionale Akteure, die Korruption ist hoch. Die höchste formale Autorität im Land aber ist der ehemalige CSU-Landwirtschaftsminister Christian Schmidt, der seit 2018 das Amt des sogenannten ‚Hohen Repräsentanten‘ von Bosnien-Herzegowina innehat. Es besteht kein Zweifel daran, dass er ausländische Investitionen und Privatisierungen in allen Bereichen, auch im Bergbau, befürwortet. Auch der EU-Beitrittsprozess, der mit dem Beginn des Ukraine-Krieges Anfang 2022 frischen Wind bekommen hat, trägt mit Vorgaben zu wirtschaftlicher Liberalisierung zum Ausbau der Bergbauindustrie bei. Doch zu welchem Preis?

Die Kosten des Bergbaus sind nicht nur im globalen Süden hoch, sondern überall da, wo politische Regulierung niedrig ist – auch im Balkan. Sie reichen von der Verschmutzung des Grundwassers, eine erhöhte Feinstaubbelastung und über den Verlust von Flora und Fauna – bis in menschliche Körper hinein. Das illustriert auf erschreckende Weise die Sterblichkeitsrate durch Luftverschmutzung in Bosnien, die die fünfthöchste weltweit und die auf die Dominanz der Kohleindustrie zu zurückzuführen ist. Jedes Jahr sterben etwa 3.300 Menschen einen verfrühten Tod. Viele der Bewohner:innen von Regionen, in denen Rohstoffe abgebaut werden, haben ein stark erhöhtes Risiko für alle möglichen Krankheiten, vor allem Krebs. Das gilt nicht nur für Bosnien, sondern auch andere Länder in der Region.

Mit einem von der EU angeführten Ausbau des Bergbaus ist deshalb oft die Hoffnung eines „besseren“ Bergbaus verbunden. Die EU nutzt diese Hoffnung wiederum für ihre eigenes Marketing. In Abgrenzung zu geopolitischen Rivalen wie China soll europäischer Bergbau ‚grün‘ gestaltet werden: Im CRMA ist festgehalten, dass die strategischen Projekte „höchst möglichen Standards für die Umwelt“ genügen müssen. Tatsächlich gibt es jedoch kaum Studien dazu, inwieweit Standards in Europa tatsächlich höher sind als anderswo. Tatsächlich zeigen zahlreiche Berichte, dass der Bergbau in Europa insbesondere in nicht-EU-Staaten nach wie vor ein dirty business ist und vermeintlich strenge Umweltauflagen in der Realität oft nicht eingehalten werden. Zudem sieht der CRMA beschleunigte Genehmigungsverfahren vor, um Unternehmen eine schnelle Realisierung ihrer Projekte zu ermöglichen. Die dafür vorgesehene Zeit erlaubt – so jedenfalls die Befürchtung – gründliche Umweltverträglichkeitsstudien erst gar nicht, die die Folgen von Minenprojekten für Mensch und Natur prognostizieren sollen.

Kämpfe für eine gerechte Energiewende 

Die oftmals zerstörerische Dynamik der Bergbauindustrie ist aus Ländern des Globalen Südens bereits bekannt. In Südosteuropa schreibt sie sich fort. Doch gegen die rücksichtslose Ausbeutung regt sich auch Widerstand. In Serbien hatten riesige landesweite Demonstrationen gegen den Abbau von Lithium ab 2021 das Rio Tinto-Projekt zunächst sogar stoppen können. Die innenpolitischen und rechtlichen Bedingungen in Bosnien-Herzegowina erschweren dagegen politische Mobilisierung. Aber trotz der oft als aussichtslos empfundenen politischen Gemengelage gibt es in bosnischen Dörfern Proteste gegen geplante oder den Ausbau bestehender Projekte, berichtet Nedimović, insbesondere da, wo die wirtschaftliche Existenz der Bewohner:innen an die Landwirtschaft geknüpft ist. Immer wieder werden die Bedingungen von Europas ‚grünem Wandel‘ kritisiert: z.B. das Abbaggern riesiger Flächen, das den betroffenen Gemeinschaften ihre materiellen Lebensgrundlage nimmt.

Auch das Netzwerk Zbor, dessen Name sich aus den Partisanenversammlungen in den befreiten Dörfern Jugoslawiens während des Zweiten Weltkriegs ableitet,kämpft gegen die Rohstoffausbeutung.  Es fordert eine Energiewende, die alle ausgebeuteten Regionen der Welt gleichermaßen mitdenkt – den Süden wie den Osten. Es ist nicht nur in Bosnien aktiv, sondern in der gesamten Region des ehemaligen Jugoslawiens – einer Region, in der Solidarität historisch immer transnational gedacht wurde. Ein bedeutendes Beispiel dafür ist die erste Zusammenkunft der Blockfreien Staaten 1961 im jugoslawischen Belgrad, die den Grundstein für eine Bewegung legte, die auf globaler Zusammenarbeit, Unabhängigkeit und anti-kolonialer Solidarität basierte.

Neben dieser Verbundenheit mit Kämpfen des globalen Südens richten Svjetlana Nedimović und ihre Mitstreiter:innen ihren Blick vor allem auf Deutschland, auf die deutsche Klimabewegung und die deutschen Gewerkschaften. „Insbesondere die Gewerkschaften müssten doch erkennen, dass die EU die Arbeiterklassen der Zentren gegen die Interessen der südosteuropäischen Peripherie ausspielt. Es ist eindeutig, dass versucht wird, die europäische Industrie zu retten. Dafür muss die EU im Hinterhof Rohstoffe abbauen. Das ist zu kurz gedacht! Wenn man hier nicht mehr leben kann, wohin werden die Leute gehen?  Wo werden sie ihre billige Arbeitskraft anbieten?“ Ihr Appell hört da nicht auf: „Die Leute aus den betroffenen Regionen müssen sich gegen diesen neuen Wettlauf um Ressourcen wehren!“ Darin sieht sie Zbors Rolle. Die Konsequenz aus dem politischen Kampf von Zbor und Svjetlana Nedimović ist eindeutig: wer eine gerechte Energiewende will, kann es nicht bei der Forderung nach „grüner“ Energie belassen, sondern muss Europas immensen Rohstoffverbrauch radikal infrage stellen.

Christin Stühlen ist Aktivistin und Politikwissenschaftlerin. Sie lebt und arbeitet in Frankfurt am Main.


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