15.000 geflüchtete Haitianer:innen, die in Texas campierten, um in den USA Aufnahme zu finden, hat die US-Regierung in wenigen Wochen mit Flugzeugen nach Haiti abgeschoben. Die Aktion erinnerte an das Ausfliegen der Afghan:innen vor wenigen Wochen in Kabul – nur, dass es sich jetzt nicht um Rettung, sondern um die Rückführung der Geflüchteten in ein Land am Abgrund handelt. 400 Geflüchtete, die Kuba erreicht hatten, wurden ebenso mit Flugzeugen nach Haiti verbracht. Weitere 50.000 Haitianer:innen befinden sich derzeit auf dem Weg nach Norden: Frauen, Männer, Kinder – Menschen auf der Suche nach Frieden und einem würdigen Leben, bereit alles dafür zu riskieren.
Von Brasilien oder Chile aus, wo sie kurzzeitig lebten, aber nun die ersten Opfer der mit Covid eingetretenen Wirtschaftskrise sind, machen sie sich erneut auf die Suche nach einem Leben, das mehr ist als „Brot und ein Bett“, wie es bei Döblin heißt. Auf dem tausende Kilometer langen Landweg begegnen sie nicht nur einem allgegenwärtigen Rassismus gegen Schwarze, sie werden ausgenutzt von Schleppern und finanzieren die Fluchtökonomie – am Rande ihrer Route prosperieren bereits die zuvor armen Dörfer – , es drohen ihnen Entführung, Vergewaltigung und Zwangsprostitution. Von Panama nach Kolumbien müssen sie einen Dschungel durchqueren, der sich als eine ähnlich tödliche Falle erweist wie die Sahara und das Mittelmeer auf den Migrationsrouten nach Europa. Fluchtgrund ist Covid und die wirtschaftlichen Folgen, die Begründung ihrer Abweisung in den USA ohne Anhörung der Asylgründe ist ebenfalls Covid, nun im Namen der Seuchenbekämpfung. Der Vorgang ist so ungeheuerlich und zugleich dystopisch, dass der von Biden ernannte Haiti-Beauftragte und anerkannte US-Diplomat Daniel Foote seinen Rücktritt erklärte. Man deportiere Menschen in eine Situation, die aufgrund der internen, kriegsähnlichen Zustände der Situation in Afghanistan gleiche. Das sei nicht hinnehmbar, begründete Foote seinen Schritt.
Zurück zu alten US-Herrschaftspraktiken
Der ehemalige US-Botschafter in Afghanistan war der kleine Funke Hoffnung für eine Wende in der US-Politik gegenüber Haiti. Schon erloschen, wurde Foote durch Kenneth Mertens ersetzt, unter dessen Ägide als US-Botschafter und Sonderbeauftragter in Haiti Wahlmanipulationen und ein versuchter Putsch stattgefunden haben, die die heutige Situation wesentlich verantworten. Soviel Unbelehrbarkeit der Demokraten in den USA lässt sich nur noch von der Tatsache toppen, dass die Deportationen von Haitianer:innen unter Biden bereits jetzt die von Trump bei weitem überschritten haben.
Vor einem Untersuchungsausschuss des US-Kongresses, der sich mit den Abschiebungen nach Haiti befasste, nahm der zurückgetretene Foote Anfang Oktober Stellung zur internen Situation in Haiti, die sich wiederum nicht ohne die Position und Einmischung der US-Regierung wie der anderen Mitglieder der die Haiti-Geber vertretenden Core-Group (UNO, EU, Frankreich, Deutschland und andere) erklären lässt. Auf die Frage des demokratischen Abgeordnete Andre Levin, ob er glaube, dass der von den USA installierte Ministerpräsident Ariel Henry ohne diese Unterstützung überleben könne, antwortete Foote: „Nicht einen Tag.“
Haitianische Lösung
Diese Regierung verantwortet eine Situation, die die wichtigste Tageszeitung „Le Nouvelliste“ des Landes im Oktober 2021 so betitelte: „Chronik eines Abstiegs in die Hölle.“
Die Situation wäre keineswegs so ausweglos, wenn man, wie der US-Abgeordnete Levin richtig sagte, die Chance zu einer Veränderung genutzt hätte. Denn es liegt ein Vorschlag von über 500 Organisationen, Parteien, Kirchen, einheimischen Nichtregierungsorganisationen vor, der die „Neugründung des haitianischen Staates und eine haitianische Lösung für die Krise“ fordert. Zentrale Punkte darin: die Schaffung einer Übergangsregierung aus anerkannten und integren Vertreter:innen des Landes, die Stärkung der Justiz, um die Straflosigkeit zu beenden und die Ganggewalt einzuschränken, sowie die Einleitung eines verfassungsgebenden Prozess der u.a. eine Wahlrechtsreform durchführen soll, die glaubwürdige und regelmäßige Wahlen gewährleistet.
Anders als durch eine Neugründung des Staates ist das nicht zu haben, um „die wir seit über 200 Jahren kämpfen“, wie es in dem Papier heißt. Es würde also bedeuten, dass sich auch die internationalen Geber:innen auf einen Prozess voller Rückschläge und Umwegen einlassen müssten - durchsetzt mit Eigeninteressen der Akteur:innen, aber nichtsdestotrotz ein haitianischer. Die Regierungspartei PHTK, die mit Unterstützung der „internationalen Gemeinschaft“ das Land in den Abgrund aus Gangsterisierung der Politik und Ganggewalt geführt hat, kann nicht Teil eines solchen Prozesses sein. Dass die USA und ihre Verbündeten sie gewähren lässt, ja – willentlich oder nicht – die überbordende Ganggewalt zu nutzen versucht, um die Opposition zu Verhandlungen zu zwingen, ist ein Ausblick auf die Zukunft einer mitleidlosen Weltpolitik, die sich nur noch nach den schmählichen Eigeninteressen der reichen Länder richtet. Das Ganze nennt sich dann „Stabilisierung“.
Dieser Wahnsinn spielt sich vor unseren Augen ab und ist eben keine haitianische Besonderheit, sondern Ausdruck der Machtverhältnisse in No-Go-Zonen, die mit der Covid- und der Klimakrise ein Pfeiler der neuen Weltordnung ohne Hegemon sind. Diese einfach hinzunehmen und noch dazu die Fluchtwege zu verbauen, ist allerdings eine Schande für alle Politiker:innen aus den privilegierten Zonen, die sich gleichzeitig mit Menschen- und Bürgerrechten in ihren Sonntagsreden schmücken.