Man kann Elías Wessin Chavez, der zweimal erfolglos bei Präsidentschaftswahlen in der Dominikanischen Republik angetreten ist, für einen nicht mehrheitsfähigen Lautsprecher halten. Aber in Zeiten wie diesen verstärken konservative Populisten wie er politische Tonlagen, die ohnehin im Umlauf sind. So nutzte Wessin den Beginn des Mauerbaus entlang der Grenze zu Haiti im Februar dieses Jahres, um den Mythos dominikanischer Nationenbildung fortzuschreiben. Diese Grenze unterscheide sich von allen anderen in Lateinamerika, denn, so Wessin: „Wir sind kulturell ganz anders als die Haitianer.“ Und er verlangte: „Die Mauer muss zu einem hochtechnologischen Werk werden, wie das zwischen den Israelis und den Palästinensern.“
Wessin stammt aus einer Familie der weißen Oberschicht, einer Dynastie der Kolonialität. Die Vorfahren der afroamerikanischen Mehrheitsbevölkerung des Landes wurden – ebenso wie die Haitis – einst mit dem Sklavenhandel in die Karibik verbracht. Die weiße Oberschicht aber beruft sich auf Kolumbus, der auf der Karibikinsel Santo Domingo zum ersten Mal den Boden des amerikanischen Kontinents betrat, und damit auf ein dominikanisch-europäisches Erbe. Damit grenzt man sich auch vom Nachbarland Haiti ab, dessen Bevölkerung sich einst mit Erfolg gegen die Fremdherrschaft erhoben hat. Die Botschaft: Besser ist man verknechtet, aber Teil der westlichen Zivilisation, als befreit, aber arm.
Aus dieser Ideologie erwächst aktuell die Grenzmauer. Diese hat auch eine lange Vorgeschichte des haitifeindlichen Rassismus der weißen Eliten in der Dominikanischen Republik. Ihr Höhepunkt war das Massaker an 30.000 Haitianer:innen im Oktober 1937 unter Diktator Trujillo. Außer ein paar dürren Entschuldigungen hat es für diese Verbrechen bis heute weder eine juristische Aufarbeitung noch eine Entschädigung der Opferangehörigen gegeben. Kein Denkmal erinnert an das Ereignis. Stattdessen ist der antihaitianische Rassismus ein Eckpfeiler dominikanischer Herrschaftspolitik geworden.
Gleichzeitig sind die beiden Länder auf vielen Ebenen eng miteinander verflochten. Allein 500.000 Haitianer:innen mit geregeltem Status halten sich in der Dominikanischen Republik auf, hinzu kommen viele weitere. Weder der blühende Tourismus in der „DomRep“ noch die Export-Plantagen-Ökonomie oder der Bau der Grenzmauer sind ohne diese haitianischen Arbeiter:innen denkbar. Die ökonomischen Gewichte zwischen den Nachbarn sind allerdings eindeutig verteilt: Dominikanische Exporte gehen zu einem großen Teil nach Haiti, die Wirtschaft des Landes verfügt über ein zehn Mal höheres Pro-Kopf-Einkommen. Die Differenz ist unter anderem Ergebnis der 1915 beginnenden US-amerikanischen Okkupation von Haiti, die die Ökonomie des Landes vollständig auf die Dominikanische Republik und deren Arbeitsmarkt ausrichtete. In Bateyes, in Arbeitslagern, lebten die haitianischen Wanderarbeiter und ihre Familien seit Beginn des 20. Jahrhunderts, um in den Plantagen der dominikanischen Großgrundbesitzer und später in großen Bauunternehmen zu arbeiten. Daran hat sich bis heute wenig geändert.
Ungeachtet all dessen hat die dominikanische Regierung unter Präsident Luis Abinader die komplette Abriegelung der grünen Grenze zwischen Haiti und der Dominikanischen Republik begonnen. Die Grundsteinlegung der Mauer erfolgte unter Aufbietung hochrangiger dominikanischer Militärs und des Verteidigungsministers. Geplant ist, dass 160 der 380 Kilometer langen Grenze mit einer Mauer aus Stahlbeton mit bis zu vier Meter Höhe geschlossen werden. 70 Wachtürme sowie 41 Durchgangstore sind geplant. Eine „intelligente Mauer“ nennt sie Abinader. Um eine totale Überwachung der Grenze zu ermöglichen, gehören auch Beleuchtungssysteme, Bewegungsmelder, Überwachungskameras und Drohnen zur neuen Mauerpolitik. Zu Beginn der Planung hatte die dominikanische Regierung sich mit der israelischen Mauer entlang der besetzten Gebiete beschäftigt. Der israelische Botschafter Daniel Biran Bayor bestritt allerdings, dass israelische Firmen am physischen Bau beteiligt seien. Sollte allerdings technologische Expertise gefragt sein, könnten israelische Firmen liefern.
Doch es gibt auch Widerstand, auf beiden Seiten der Mauer. Eine breite Bewegung verhinderte bereits zwischen 2013 und 2015 Pläne der Regierung in Santo Domingo, Dominikaner:innen mit haitianischen Wurzeln im großen Stil die Staatsbürgerschaft zu entziehen. Heute steht der Kampf gegen die fortwährenden Deportationen im Zentrum. Bei diesen wurden zuletzt sogar Hunderte schwangere Frauen aus Gesundheitseinrichtungen herausgeholt. Zivilgesellschaftliche und länderübergreifen de Netzwerke dokumentieren die Abschiebungen und machen sie öffentlich. Zudem organisieren sie die Versorgung von Menschen in Aufnahmeeinrichtungen.
Unterdessen schreitet der Bau der Mauer voran. Diese wird die Situation der Haitianer:innen erheblich erschweren und ihre ökonomische Ausbeutbarkeit verschärfen. Schon jetzt ist es gängige Praxis, haitianischen Arbeitskräften den Lohn vorzuenthalten. Im Mai dieses Jahres protestierten Bauarbeiter in einem großen Wohnungsbaugebiet der Stadt Juan Bosch gegen diese Praxis, es kam zu Unruhen. Im Ergebnis wurden nicht nur sie selbst, sondern auch Bewohner:innen mit haitianischen Wurzeln ungeachtet ihres Status festgenommen und deportiert. Wenn die Mauer steht, wird es – anders als bislang – sehr schwer, zurückzukehren. Eine neue Spirale der Entrechtung der Haitianer:innen ist absehbar. Begründet wird der Bau der Mauer übrigens mit der Zunahme von Bandengewalt in Haiti nach der Ermordung von Präsident Jovenel Moïse im Juli 2021. Eine solche „Politik der absoluten Sicherheit“, so der australische Historiker Dirk Moses, sei die ideologische Voraussetzung für die Diskriminierung und Delegitimierung des und der „Anderen“ und böte damit einen Begründungszusammenhang für genozidale Verbrechen. Das Projekt, Haiti zum Paria-Staat der sogenannten Völkergemeinschaft zu machen, ist mit dem Mauerbau in eine neue Phase getreten.
Vorabdruck aus der österreichischen Zeitschrift „Südwind“.
medico fördert die haitianische „Unterstützungsgruppe für Repatrierte und Geflüchtete“ (GARR), die u.a. im vergangenen Jahr Nothilfe für 19.000 aus den USA abgeschobene Haitianer:innen leistete.
Ein Beitrag aus dem medico-Rundschreiben 2/2022. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!