Im al-Hol Flüchtlingscamp im Nordosten Syriens sind die Kapazitäten schon lange ausgeschöpft. Die örtlichen HelferInnen des kurdischen Roten Halbmondes sind am Ende ihrer Kräfte, so kritisch war die Situation in den letzten zwei Jahren noch nie. Zurzeit kommen tausende ZivilistInnen in dem Camp an, das im Nordosten Syriens in der Provinz Hasakeh liegt. Seit dem Vorrücken der SDF (Syrian Defence Forces) fliehen sie vor der IS-Herrschaft in der Region. Sollte mit der Stadt Barghuz bald eine der letzten IS-Hochburgen fallen, ist der IS zwar noch nicht endgültig zurückgedrängt aber ein bedeutender Schritt in der Bekämpfung der radikal-islamischen Terrormiliz vollzogen.
Ursprünglich war das al-Hol Camp für 6.000 Personen ausgelegt, hauptsächlich irakische Flüchtlinge hielten sich dort auf. Das hat sich in den letzten Wochen rasant verändert – inzwischen werden dort über 30.000 Menschen von Hilfsorganisationen versorgt. Das berichten uns die medico-Partner vom Kurdischen Roten Halbmond, die vor Ort die medizinische (Erst-)Versorgung leisten. Zu den ankommenden ZivilistInnen zählen außerdem noch knapp 10.000 Frauen und Kinder aller Nationalitäten, Angehörige der IS-Kämpfer, die in dem Lager in einem getrennten Bereich versorgt werden.
Die NothelferInnen sind täglich 24 Stunden im Einsatz. Als der große Ansturm auf das Camp begann, mussten sie handeln, berichtet Sherwan Beri, Co-Vorsitzender des KRH. Sie bauten eine Zelt-Station für die medizinische Erstaufnahme auf. Und eine Kinderstation. „In den letzten zwanzig Tagen sind vierzig ankommende Kinder verstorben", so Beri. „Sie waren völlig unterkühlt und mangelernährt. In den IS-Zonen gab es nicht ausreichend Nahrung für sie. Auf der Flucht waren sie dann der Kälte ausgesetzt.“ Gemeinsam mit den anderen HelferInnen des Camps versuchen sie so gut es eben geht, die Menschen zu versorgen. „Wir wissen nicht, wie es weiter gehen soll. Die IS-Angehörigen wollen zurück in ihre Herkunftsländer. Wir können sie hier nicht weiter versorgen“, sagt Beri in Richtung Deutschland – die internationale Debatte um die Rückholung verfolgen sie genau mit. Für sie ist es keine neue Debatte. Seit vier Jahren versorgen sie knapp 2000 Frauen und Kinder, IS-Angehörige, im Roj-Camp im Nordosten des Landes. Die nordsyrische Selbstverwaltung formuliert schon seit Monaten die Forderung nach Rückholung dieser Angehörigen, bisher jedoch so gut wie erfolglos.
Selbstgerechte Debatte um Rückholung
Der Bericht der medico-Partner macht deutlich, wie selbstgerecht die deutsche Debatte um die Rückholung oder Aberkennung der Staatsangehörigkeit ist. Während die Selbstverwaltung in Nordost-Syrien sich um die Inhaftierung hunderter IS-Kämpfer und die Versorgung tausender Angehöriger kümmert, diskutieren deutsche PolitikerInnen und Medien die Prüfung der Aberkennung der Staatsangehörigkeit. Die Überwachung deutscher IS-Kämpfer und -AnhängerInnen kann nicht Aufgabe derjenigen sein, die maßgeblich zur Befreiung vom IS beigetragen haben.
Die Bundesregierung muss endlich Verantwortung übernehmen, offiziellen Kontakt zur nordsyrischen Selbstverwaltung aufnehmen und die Rückholung der IS-Gefangenen und ihrer Angehöriger schnellstmöglich einleiten. Dabei geht es auch darum, die lokalen Strukturen zu entlasten. Sie leisten seit Jahren unter den Umständen eines entgrenzten Stellvertreterkrieges Hilfe für die nordsyrische Bevölkerung. Eine ernstgemeinte Unterstützung ist mehr als angemessen und beginnt in der Verantwortungsübernahme für die eigenen Staatsangehörigen.
Die Ignoranz und Missachtung des Aufbaus von demokratischen Strukturen in der Region führt nun dazu, dass der deutsche Außenminister die Rücknahme als „schwierig zu realisieren“ bezeichnet. Die Einheiten der SDF drängen seit Jahren den IS zurück. Dass sie dabei internationale Gefangene machen ist kein neues Phänomen. Jenseits der Bekämpfung des IS organisiert die nordyrische Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien mit eigenen Mitteln den Wiederaufbau der kriegszerstörten Städte und Dörfer und leistet den Aufbau einer lokalen Infrastruktur. Dies alles unter Berücksichtigung der ethnischen und religiösen Vielfalt und mit Prinzipien der Mitbestimmung und Gleichberechtigung.
Endlich Gerechtigkeit: UN-Sondertribunal zur Aufklärung von IS-Kriegsverbrechen
Zur Aufarbeitung der Verbrechen im syrischen Krieg und zur Bestrafung der Täter wäre die Einrichtung eines UN-Sondertribunals ein notweniger Schritt, für den die Bundesregierung sich jetzt einsetzen muss. Dabei geht es um Gerechtigkeit für die Menschen, die unter Vergewaltigung, Folter oder Mord an Angehörigen litten. Die nordsyrischen Strukturen haben keine Kapazitäten (und keinen Status) dies selber durchzusetzen und richten diese Forderung deshalb folgerichtig an die Weltgemeinschaft. Jenseits dessen muss in Deutschland eine konsequente Strafverfolgung eingeleitet werden – das Weltrechtsprinzip ermöglicht Verfahren gegen die IS-Kämpfer mit deutscher Staatsangehörigkeit auch in Deutschland.