Die Menschen sind kriegsmüde in Rojava/Nordsyrien. Seit fünf Tagen bin ich nun vor Ort und egal mit wem ich spreche, ob mit Flüchtlingen, den Helfer*innen vom medico-Partner Kurdischer Roter Halbmond oder Angestellten in unserer Unterkunft – sie alle sprechen über den letzten Angriff der Türkei im Oktober. Bis zu 300.000 Menschen flohen aus den Städten und Dörfern an der Grenze, aus Angst vor dem türkischen Militär und den dschihadistischen Milizen. Menschen, die nicht rechtzeitig fliehen konnten, berichten von gewalttätigen Angriffen.
Viele konnten inzwischen in ihre Häuser zurückkehren, andere sind Flüchtlinge. So auch das Personal vom Kurdischen Roten Halbmond, das im Washokani-Camp 9000 Menschen versorgt, die aus Serê Kaniyê (Raʾs al-ʿAin) und umliegenden Dörfern fliehen mussten. Die Ärzt*innen und Krankenpfleger*innen haben selber ihre Häuser verloren: Vertriebene helfen Vertriebenen. Zeit, das Erlebte zu verarbeiten, finden sie nicht. Das Gesundheitspersonal hat zuvor im Krankenhaus in Serê Kaniyê gearbeitet, das vor drei Jahren nach Angriffen des IS noch komplett zerstört war und in den letzten Jahren mühsam wieder aufgebaut wurde. Nun steht es unter türkischer Verwaltung.
Viele der Flüchtlinge – etwa 15.000 Menschen – sind in Hasakeh untergekommen, in Schulen und öffentlichen Gebäuden. Auch mit medico-Unterstützung wurden sie notdürftig eingerichtet, trotzdem fehlt es weiter an allem. Der Kurdische Rote Halbmond plant gerade das nächste Camp in der Nähe der Stadt für sie. Darin haben sie inzwischen Routine – auch ohne Unterstützung internationaler NGOs vor Ort.
Humanitäre Hilfe als Druckmittel
Im Januar ist per UN-Resolution der einzige Grenzübergang für humanitäre Hilfe geschlossen worden. Die Auswirkungen sind jetzt schon spürbar, wird uns im großen al Hol-Flüchtlingslager berichtet. Die Hilfsgüter können nur noch mit Zustimmung vom syrischen Regime in Damaskus ins Camp gebracht werden, humanitäre Hilfe wird so zum politischen Instrument. Resigniert zucken die Mitarbeiter*innen mit den Schultern, wenn wir sie fragen, wie es in den nächsten Monaten weitergehen soll.
Schon jetzt haben die Helfer*innen nicht mehr alle benötigten Medikamente, Vorräte gehen zur Neige. Sie werden trotzdem weiter machen – es bleibt ihnen auch nichts anderes übrig. Eine internationale Lösung für zehntausende IS-Frauen in dem berüchtigten Camp ist bis heute nicht in Sicht. Die Helfer*innen und die kurdische Selbstverwaltung sind damit weiterhin sich selbst überlassen – die Angst vor einem Ausbruch oder Aufstand im Camp ist weiter da. Während des Angriffs der Türkei im Oktober war die Situation an einigen Tagen mehr als kritisch.
Eskalation in Idlib – Flucht nach Rojava
Besorgt schauen alle auf die Eskalation im südwestlich gelegenen Idlib. Die Angst, dass der Krieg nun auch wieder in hier in Nordostsyrien losgeht, ist groß. Sollte sich der Konflikt zwischen der Türkei, dem syrischen Regime und Russland weiter zuspitzen, ist es nicht auszuschließen, dass die Türkei wieder in Nordsyrien angreift, wo auch russische Panzer in diesen Tagen über die Straßen rollen.
Das humanitäre Drama der hunderttausenden Zivilist*innen auf der Flucht vor den Kämpfen braucht eine sofortige, internationale Lösung. Zum Beispiel die Öffnung der türkischen Grenze. Alle lächeln müde, wenn wir dies hier diskutieren. Niemand hier glaubt mehr an Humanität und Mitgefühl oder an internationale Unterstützung für die zivile Bevölkerung. Zu oft haben die Menschen hier erlebt, wie sie im Stich gelassen und zu Opfern von Krieg und Vertreibung worden sind.
Derweil bereitet sich der Kurdische Rote Halbmond auch auf Flüchtlinge aus Idlib vor. Bei Manbij errichten die Helfer*innen ein Camp. Bisher haben es nicht mehr als 5000 Menschen hierher geschafft, aber die kurdische Hilfsorganisation will auf den Ernstfall der großen Eskalation in Idlib vorbereitet sein.
medico international unterstützt den Kurdischen Roten Halbmond in Nordsyrien seit Jahren beim Aufbau einer Gesundheitsversorgung für die Bevölkerung bei der Versorgung der Binnenvertriebenen, die in Rojava Zuflucht suchen. Dazu gehört auch die medizinische Versorgung der Familien von IS-Kämpfern im al Hol-Camp, für die es dringend eine internationale Lösung braucht.