Ein Jahr nach dem Brand

Leben im Dauerprovisorium

08.09.2021   Lesezeit: 6 min

Der Brand von Moria war eine Tragödie, aber auch eine Quelle der Hoffnung, dass nun etwas Besseres kommen würde. Von Shirin Tinnesand.

Es ist nun ein Jahr her, dass das Lager Moria, das oft als Europas größtes Flüchtlingslager bezeichnet wurde, niedergebrannt ist. Ich war in jener Nacht dort. Ich war Zeugin der hohen Flammen und des dunklen Rauchs, der die Geflüchteten ein weiteres Mal vertrieb. Sie kamen aus den Flammen heraus mit nicht mehr als dem, was sie tragen konnten, in der Regel ein Rucksack, eine kleine Plastiktüte mit Habseligkeiten und ein oder zwei Kinder auf dem Arm. Alles, was sie nicht tragen konnten, war verloren.

Der Brand von Moria war eine Tragödie, aber auch eine Quelle der Hoffnung, dass nun etwas Besseres kommen würde. Um diesen Aspekt vollständig zu erfassen, muss man auf die Ereignisse Anfang 2020 zurückblicken, als es auf Lesbos zu mehreren gewalttätigen Vorfällen kam. Diese Gewalt betraf auch die Presse und Mitarbeiter:innen von Nichtregierungsorganisationen, welche daraufhin die Insel massenhaft verließen. Als die Pandemie Anfang März 2020 ausbrach, war die Zahl der Hilfsorganisationen im Lager Moria von über 100 auf etwa 15 gesunken. Die etwa 20.000 Geflüchteten waren gezwungen, sich der Pandemie völlig unvorbereitet und ohne Hilfe zu stellen.

Geflüchtete organisieren sich selbst

In diesem Vakuum organisierten sich die Geflüchteten selbst, um ihre Probleme gemeinsam anzugehen. So entstanden die Flüchtlingsselbstorganisationen „Moria Corona Awareness Team“ (MCAT), „Moria White Helmets“ (MWH) und „Moria Academia“. Sie haben viele der Tätigkeiten übernommen, die zuvor in den Aufgabenbereich von Nichtregierungsorganisationen fielen, wie zum Beispiel die Verteilung von Nahrungsmitteln, Bildungsangebote und Abfallentsorgung. Darüber hinaus ist es ihnen gelungen, über soziale Medien und in direktem Kontakt mit der internationalen Presse ihre Stimmen und Positionen hörbar zu machen.

Bis zum Brand glich das Flüchtlingslager bei Moria einem staatlich verwalteten Slum: Es fehlte an Infrastruktur, sauberem Wasser und Gesundheitsversorgung, außerdem war die Gewalt allgegenwärtig. Gewalt, die zumeist von kleinen Gruppen im Camp ausgeübt wurde, die schlicht als „Ali Baba“ oder „Mafia“ bezeichnet wurden. Sie rekrutierten junge unbegleitete Minderjährige, indem sie sie vor die Wahl stellten, entweder Teil der Bande zu werden oder sie gegen sich aufzubringen. Messerstechereien waren an der Tagesordnung, ebenso wie Vergewaltigungen, sodass die weiblichen Bewohnerinnen nachts in Windeln schliefen, um ihre Zelte nicht verlassen zu müssen. Die US-Botschaft und das US-Konsulat in Griechenland haben einen Bericht veröffentlicht, in dem allein in der ersten Hälfte des Jahres 2020 18 Messerangriffe im Lager Moria dokumentiert sind, darunter sechs mit Todesfolge. Außerdem gab es in diesem Zeitraum 14 schwer verletzte Personen, die ins Krankenhaus eingeliefert werden mussten. 

Eine Katastrophe mit Ansage

Obwohl diese Zustände gut dokumentiert und dem Rest Europas bekannt waren, sahen die Bewohner:innen Morias kaum eine Verbesserung ihrer gefährlichen Lebensverhältnisse. Im Sommer 2020 öffnete Griechenland seine Grenzen für den Tourismus und die NGOs kehrten zurück. Gleichzeitig blieb das Lager unter dem Vorwand der Covid-19-Prävention im Lockdown, obwohl es zu diesem Zeitpunkt noch keinen einzigen dokumentierten Covid-19-Fall im Camp gab. Die Stimmung im Camp war entsprechend aufgeheizt und es fehlte nicht mehr viel, um das Fass zum Überlaufen zu bringen.

Schließlich geschah das, was einige von uns vorhergesehen hatten: In der Nacht vom 8. auf den 9. September 2020 stand das Lager Moria in Flammen. Obwohl es Tausende von Flüchtlingen in die vorübergehende Obdachlosigkeit entlang der Straßen von Mytilene zwang, markierte das Feuer auch den Beginn von etwas Neuem, das sicherlich nicht schlimmer werden konnte, als das, was die Geflüchteten in Moria hatten ertragen müssen. EU-Innenkommissarin Ylva Johansson verkündete: „No More Morias“, und versprach an der Seite des griechischen Premierministers Mitsotakis einen „humaneren Ansatz“.

In dem provisorischen Lager bei Kara Tepe, das nach dem Brand errichtet wurde, war davon jedoch nichts zu spüren. So dauerte es beispielsweise mehr als acht Wochen, bis die Asylbewerber:innen Duschmöglichkeit erhielten: Die UN richtete eine „Eimerdusche“ ein, die aus kaltem Wasser in einem Eimer bestand, der in einem offenen Bereich mit wenig Privatsphäre stand. Im Winter waren die Flüchtlinge mit Winterstürmen und Temperaturen weit unter dem Gefrierpunkt konfrontiert. Entgegen anderslautender Behauptungen der griechischen Regierung hatten nur wenige eine Heizmöglichkeit. Die Plastikzelte boten so gut wie keinen Schutz vor der Witterung und wurden immer wieder überflutet.

Wo ist das Geld geblieben?

Nach dem Brand und dem Bau des neuen Lagers haben sowohl die griechische Regierung als auch einige NGOs vor Ort große Summen an Hilfsgeldern bekommen, um die Situation der Geflüchteten zu verbessern. Es ist offensichtlich, dass ihre Bemühungen nicht von Erfolg gekrönt waren, und dennoch erhielten sie kaum Kritik für ihr Fehlverhalten. Die NGOs haben jedoch in Zusammenarbeit mit den Vereinten Nationen und der griechischen Regierung das Wohlergehen und die Gesundheit der Flüchtlinge gefährdetet, welche gezwungen waren, den harten Winter unter hochriskanten und unwürdigen Lebensbedingungen zu überstehen.

Um Weihnachten 2020 sowie Anfang 2021 veröffentlichte medico zwei verschiedene offene Briefe von Geflüchteten aus Moria, in denen diese nach dem Verbleib der Spendengelder fragen und professionelle und menschenwürdige Hilfe einfordern. In der Presseerklärung von medico international heißt es dazu: „Es ist an der Zeit, nicht nur über die Missstände in den griechischen Hotspots zu klagen, sondern den Fragen der Flüchtlinge nachzugehen. Alle, die für das Elend in Moria und im Nachfolgelager verantwortlich sind, müssen zur Rechenschaft gezogen werden. Es muss endlich Schluss damit sein, dass Europa und die verantwortlichen Organisationen vor den Augen der Weltöffentlichkeit mit der Gesundheit und dem Leben der Flüchtlinge spielen, ohne dass dies irgendwelche Konsequenzen hat.“

Am 24. März 2021 schließlich drückte EU-Kommissarin Ylva Johansson Bedauern für den harten Winter 2020/21 aus und betonte, ein solcher Notstand müsse im kommenden Winter vermieden werden. Längst sollte es auf Lesbos ein neues – laut Johansson offenes und humanes – Lager geben. Der Bau hat jedoch noch nicht einmal angefangen. Da das Grundstück für das neue Camp geografisch weit entfernt im „Niemandsland“ hinter einer Müllkippe liegt, werden die Versprechen von Johansson auch dort höchstwahrscheinlich nicht in Erfüllung gehen. Unabhängig von dem, was das neue Camp bringt, müssen die Probleme des derzeitigen und des früheren Lagers aufgearbeitet werden, in dem die Rechte der Bewohner:innen wiederholt verletzt wurden. Es darf nicht sein, dass die Verantwortlichen dafür nicht zur Rechenschaft gezogen werden.

Übersetzung: Nele Eisbrenner

medico arbeitet eng mit der griechischen Organisation Stand by me Lesvos zusammen und unterstützt die Moria Academia, die in ausrangierten Bussen Bildungsangebote für Geflüchtete in Moria 2 bereithält. Geflüchtete unterrichten Geflüchtete, zuletzt vor allem Frauen und Mädchen aus Afghanistan. 

Shirin Tinnesand

Shirin Tinnesand macht seit Anfang 2020 die Öffentlichkeitsarbeit bei der griechischen Organisation Stand By Me Lesvos und unterstützt verschiedene Gruppen von selbstorganisierten Flüchtlingen bei der Medienarbeit.

Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 3/2021. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!


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